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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Eine neue Glaubenslehre

Ereignisses von Damaskus ebenso selbstverständlich erscheinen lassen, wie sie
mit der modernen, auf den positiven Ergebnissen der naturwissenschaftlichen,
philosophischen und historischen Forschung der letzten vier Jahrhunderte auf¬
gebauten Weltanschauung unverträglich ist. Deshalb hat schon der Altmeister
der kritischen Theologie, Ferdinand Christian Baur,*) die Meinung aus¬
gesprochen, daß Paulus in diesem Falle "als sicherer Zeuge nur von dem
gelten könne, was er wahrzunehmen glaubte," und seiner darauf begründeten
Ansicht, daß es sich hier um eine "innere, nur dem Geist des Apostels
gegenwärtige Anschauung"**) handle, haben sich neuerdings auch konservativere
Theologen soweit genähert, daß es fast unbegreiflich erscheint, wie Ziegler
angesichts seiner wissenschaftlichen Voraussetzungen um der entgegengesetzten
Meinung festhalte" kaun. So giebt z. B, der Bearbeiter der Apostelgeschichte
in den vier neusten Auflagen des Meyerschen Kommentars, Hans Hinrich
Wendt in Jena, unumwunden zu, daß die Vorstellung, Christus sei auf¬
erstanden und könne in sichtbarer Gestalt erscheinen, fiir Paulus nichts neues
war, daß er auch zweifellos schou darüber nachgedacht hatte, welche Konse¬
quenzen die Anerkennung Jesu als des erhöhten Messias in sich schlösse, und
daß deshalb die Bedeutung des Ereignisses vor Damaskus nicht in der Ge¬
winnung neuer positiver Erkenntnisse, sondern in der Änderung seiner Be¬
urteilung ihm schon bekannter Vorstellungen zu suchen sei. "Zur Erklärung
der Thatsache, sagt er,***) daß der momentane Vorgang dem Paulus soie er
Gai. 1, 11 f. 16 behauptet^ sein ganzes Evangelium mitteilen konnte, dient
die Erwägung, daß bei Paulus bedeutsame Voraussetzungen zum Aufnehmen
und Versteh" dieser Offenbarung vorhanden waren. Erstlich muß er doch
schon bei seiner Christenverfolgung eine genauere Kenntnis des Christentums
und eigentümlich ausgebildete Vorstellungen von den Konsequenzen desselben
gehabt haben. Sein Eifer bei dieser Verfolgung muß darin begründet gewesen
sein, daß er sich schou klar gemacht hatte, das Evangelium Jesu stehe in einem
prinzipiellen Gegensatze zu dein pharisäischen Axiome von der absoluten Gel¬
tung der mosaischen Gesetzcsordnung. Weil er von dem Rechte dieses phari¬
säischen Axioms durchdrungen war, glaubte er die vermeintlich pseudomessia-
nische, dem Gottesgesetz feindliche und in dem Kreuzestode Jesu auch von Gott
selbst gerichtete Lehre mit allen Mitteln bekämpfen zu sollen. Zweitens hatte
er, wie er Rom. 7, 7 bis 25 bezeugt, bei seinem vorchristlichen Gesetzescifer
ein drückendes, der Verzweiflung zutreibendes Bewußtsein von seiner snrkischen
Ohnmacht der Sünde gegenüber, von seinem Unvermögen, auf dem Wege der
Gesetzesordnung wirklich das Heilsleben zu erlangen. In diesem Bewußtsein
lag eine vom Gesetz als Erzieher auf Christum (Gai. 3, 24) gewirkte that¬
sächliche innere Vorbereitung aufs Christentum. Auch muß ihm dieser Zug





*) Paulus. Stuttgart, 1845. S. 6ü.
a. a. O, S, 68.
") Kommentar zur Apostelgeschichte, 8, Auflage, Kap. S. S, 188 f.
Eine neue Glaubenslehre

Ereignisses von Damaskus ebenso selbstverständlich erscheinen lassen, wie sie
mit der modernen, auf den positiven Ergebnissen der naturwissenschaftlichen,
philosophischen und historischen Forschung der letzten vier Jahrhunderte auf¬
gebauten Weltanschauung unverträglich ist. Deshalb hat schon der Altmeister
der kritischen Theologie, Ferdinand Christian Baur,*) die Meinung aus¬
gesprochen, daß Paulus in diesem Falle „als sicherer Zeuge nur von dem
gelten könne, was er wahrzunehmen glaubte," und seiner darauf begründeten
Ansicht, daß es sich hier um eine „innere, nur dem Geist des Apostels
gegenwärtige Anschauung"**) handle, haben sich neuerdings auch konservativere
Theologen soweit genähert, daß es fast unbegreiflich erscheint, wie Ziegler
angesichts seiner wissenschaftlichen Voraussetzungen um der entgegengesetzten
Meinung festhalte» kaun. So giebt z. B, der Bearbeiter der Apostelgeschichte
in den vier neusten Auflagen des Meyerschen Kommentars, Hans Hinrich
Wendt in Jena, unumwunden zu, daß die Vorstellung, Christus sei auf¬
erstanden und könne in sichtbarer Gestalt erscheinen, fiir Paulus nichts neues
war, daß er auch zweifellos schou darüber nachgedacht hatte, welche Konse¬
quenzen die Anerkennung Jesu als des erhöhten Messias in sich schlösse, und
daß deshalb die Bedeutung des Ereignisses vor Damaskus nicht in der Ge¬
winnung neuer positiver Erkenntnisse, sondern in der Änderung seiner Be¬
urteilung ihm schon bekannter Vorstellungen zu suchen sei. „Zur Erklärung
der Thatsache, sagt er,***) daß der momentane Vorgang dem Paulus soie er
Gai. 1, 11 f. 16 behauptet^ sein ganzes Evangelium mitteilen konnte, dient
die Erwägung, daß bei Paulus bedeutsame Voraussetzungen zum Aufnehmen
und Versteh» dieser Offenbarung vorhanden waren. Erstlich muß er doch
schon bei seiner Christenverfolgung eine genauere Kenntnis des Christentums
und eigentümlich ausgebildete Vorstellungen von den Konsequenzen desselben
gehabt haben. Sein Eifer bei dieser Verfolgung muß darin begründet gewesen
sein, daß er sich schou klar gemacht hatte, das Evangelium Jesu stehe in einem
prinzipiellen Gegensatze zu dein pharisäischen Axiome von der absoluten Gel¬
tung der mosaischen Gesetzcsordnung. Weil er von dem Rechte dieses phari¬
säischen Axioms durchdrungen war, glaubte er die vermeintlich pseudomessia-
nische, dem Gottesgesetz feindliche und in dem Kreuzestode Jesu auch von Gott
selbst gerichtete Lehre mit allen Mitteln bekämpfen zu sollen. Zweitens hatte
er, wie er Rom. 7, 7 bis 25 bezeugt, bei seinem vorchristlichen Gesetzescifer
ein drückendes, der Verzweiflung zutreibendes Bewußtsein von seiner snrkischen
Ohnmacht der Sünde gegenüber, von seinem Unvermögen, auf dem Wege der
Gesetzesordnung wirklich das Heilsleben zu erlangen. In diesem Bewußtsein
lag eine vom Gesetz als Erzieher auf Christum (Gai. 3, 24) gewirkte that¬
sächliche innere Vorbereitung aufs Christentum. Auch muß ihm dieser Zug





*) Paulus. Stuttgart, 1845. S. 6ü.
a. a. O, S, 68.
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[0570] Eine neue Glaubenslehre Ereignisses von Damaskus ebenso selbstverständlich erscheinen lassen, wie sie mit der modernen, auf den positiven Ergebnissen der naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Forschung der letzten vier Jahrhunderte auf¬ gebauten Weltanschauung unverträglich ist. Deshalb hat schon der Altmeister der kritischen Theologie, Ferdinand Christian Baur,*) die Meinung aus¬ gesprochen, daß Paulus in diesem Falle „als sicherer Zeuge nur von dem gelten könne, was er wahrzunehmen glaubte," und seiner darauf begründeten Ansicht, daß es sich hier um eine „innere, nur dem Geist des Apostels gegenwärtige Anschauung"**) handle, haben sich neuerdings auch konservativere Theologen soweit genähert, daß es fast unbegreiflich erscheint, wie Ziegler angesichts seiner wissenschaftlichen Voraussetzungen um der entgegengesetzten Meinung festhalte» kaun. So giebt z. B, der Bearbeiter der Apostelgeschichte in den vier neusten Auflagen des Meyerschen Kommentars, Hans Hinrich Wendt in Jena, unumwunden zu, daß die Vorstellung, Christus sei auf¬ erstanden und könne in sichtbarer Gestalt erscheinen, fiir Paulus nichts neues war, daß er auch zweifellos schou darüber nachgedacht hatte, welche Konse¬ quenzen die Anerkennung Jesu als des erhöhten Messias in sich schlösse, und daß deshalb die Bedeutung des Ereignisses vor Damaskus nicht in der Ge¬ winnung neuer positiver Erkenntnisse, sondern in der Änderung seiner Be¬ urteilung ihm schon bekannter Vorstellungen zu suchen sei. „Zur Erklärung der Thatsache, sagt er,***) daß der momentane Vorgang dem Paulus soie er Gai. 1, 11 f. 16 behauptet^ sein ganzes Evangelium mitteilen konnte, dient die Erwägung, daß bei Paulus bedeutsame Voraussetzungen zum Aufnehmen und Versteh» dieser Offenbarung vorhanden waren. Erstlich muß er doch schon bei seiner Christenverfolgung eine genauere Kenntnis des Christentums und eigentümlich ausgebildete Vorstellungen von den Konsequenzen desselben gehabt haben. Sein Eifer bei dieser Verfolgung muß darin begründet gewesen sein, daß er sich schou klar gemacht hatte, das Evangelium Jesu stehe in einem prinzipiellen Gegensatze zu dein pharisäischen Axiome von der absoluten Gel¬ tung der mosaischen Gesetzcsordnung. Weil er von dem Rechte dieses phari¬ säischen Axioms durchdrungen war, glaubte er die vermeintlich pseudomessia- nische, dem Gottesgesetz feindliche und in dem Kreuzestode Jesu auch von Gott selbst gerichtete Lehre mit allen Mitteln bekämpfen zu sollen. Zweitens hatte er, wie er Rom. 7, 7 bis 25 bezeugt, bei seinem vorchristlichen Gesetzescifer ein drückendes, der Verzweiflung zutreibendes Bewußtsein von seiner snrkischen Ohnmacht der Sünde gegenüber, von seinem Unvermögen, auf dem Wege der Gesetzesordnung wirklich das Heilsleben zu erlangen. In diesem Bewußtsein lag eine vom Gesetz als Erzieher auf Christum (Gai. 3, 24) gewirkte that¬ sächliche innere Vorbereitung aufs Christentum. Auch muß ihm dieser Zug *) Paulus. Stuttgart, 1845. S. 6ü. a. a. O, S, 68. ") Kommentar zur Apostelgeschichte, 8, Auflage, Kap. S. S, 188 f.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/570>, abgerufen am 22.07.2024.