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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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frühern Generationen; er sucht nicht mehr nach Mitteln und Methoden zur
Beeinflussung der Götter und Dämonen, er sehnt sich auch nicht nach Erlösung
von der Erbsünde, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; was er von
der Religion verlangt, ist lediglich die Erlösung von dem "Gefühl grenzen¬
loser Hinfälligkeit," das in ihm "nicht erst dnrch die persönliche äußere Lage
des Unglücks, die Nähe des Todes, des Leibes Schwäche, die Not und Ent¬
behrung," sondern schon durch die Erkenntnis des ungeheuern Widerspruchs
zwischen seiner wirklichen Stellung im Weltall und dem ihm innewohnenden
Gefühl einer höhern Bestimmung hervorgerufen wird (S, 5 f,).

Diesem Verlangen des modernen Menschen vermag nun nach Ziegler
allein das Christentum genug zu thun. Freilich müsse man sich hüten, die
offizielle Lehre irgend einer der christlichen Konfessionen damit zu identifizieren,
"ut besonders sei der Anspruch der katholischen Kirche, "die alleinige Erbin
und Hüterin des christlichen Glaubens" zu sein, als "ebenso kindisch wie an¬
maßend" zurückzuweisen (S, 12). Aber auch die Bibel dürfe nicht als un¬
getrübte Quelle betrachtet werden, denn sie heiße nur deshalb Gottes Wort,
weil sie von der katholischen Kirche dafür erklärt worden sei. "Die Kirche
Christi -- erklärt er in Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrzahl der
augenblicklich an unsern Hochschulen wirkenden Vertreter der protestantischen
Bibelwissenschaft -- hat den Kanon des Neuen Bundes zusammengestellt, wie
sie den von der jüdischen Synagoge zusammengestellten Kanon des Alten
Bundes einfach übernommen hat. Menschen haben hier von Menschen ab¬
gefaßte, sehr verschiedenartige, auch im Werte sehr ungleiche Schriften für wert
gehalten, in eine maßgebende Sammlung von Zeugnissen über den Ursprung
unsers Glaubens aufgenommen zu werden. Getrieben von dem Bedürfnis und
dem dringenden Verlangen, dieser kirchlich veranstalteten und legalisierten
Sammlung der ältesten vorhandnen Zeugnisse über den geschichtlichen Ursprung
unsers Glaubens die festeste Autorität zu sichern, hat die Kirche dann später
die menschlichen Zeuginsse über das Wort Gottes mit dem Worte Gottes selbst
gleichgesetzt, die Lehre von der gleichmäßigen Inspiration aller biblischen Bücher
unes Ausdruck und Inhalt durch den Gottesgeist zur Geltung gebracht" is. 14).
Deshalb seien nur die Schriften des Neuen Testaments zu berücksichtigen, die
"ach der einstimmigen Ansicht der modernen Kritik die ältesten und relativ
sichersten Angaben über Christus und den Glauben der ältesten Christen ent¬
halten, nämlich der Kern der drei ersten Evangelien und die neun echten Briefe
des Paulus (1. und 2. Thessalonicher, Galater, 1. und 2. Korinther, Römer,
Philemon, Kolosser, Philipper, S. 117); zurückzuweisen seien vor allem das
Evangelium Johannis und die drei johanneischen Briefe, weil sie den erst¬
genannten Schriften vielfach widersprechen und über den mit ihrer Hilfe er-
kennbaren "Gegenstand unsers Glaubens: die Selbstentfaltung des göttlichen
Lebens in der menschlichen Persönlichkeit Jesu und dnrch ihn in der mensch¬
lichen Gemeinschaft überhaupt, schon hinnnsgehn und die spätere Lehre von
der metaphysischen Trinität vorbereitend -- aus Jesus anfangen ein über jede


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frühern Generationen; er sucht nicht mehr nach Mitteln und Methoden zur
Beeinflussung der Götter und Dämonen, er sehnt sich auch nicht nach Erlösung
von der Erbsünde, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; was er von
der Religion verlangt, ist lediglich die Erlösung von dem „Gefühl grenzen¬
loser Hinfälligkeit," das in ihm „nicht erst dnrch die persönliche äußere Lage
des Unglücks, die Nähe des Todes, des Leibes Schwäche, die Not und Ent¬
behrung," sondern schon durch die Erkenntnis des ungeheuern Widerspruchs
zwischen seiner wirklichen Stellung im Weltall und dem ihm innewohnenden
Gefühl einer höhern Bestimmung hervorgerufen wird (S, 5 f,).

Diesem Verlangen des modernen Menschen vermag nun nach Ziegler
allein das Christentum genug zu thun. Freilich müsse man sich hüten, die
offizielle Lehre irgend einer der christlichen Konfessionen damit zu identifizieren,
»ut besonders sei der Anspruch der katholischen Kirche, „die alleinige Erbin
und Hüterin des christlichen Glaubens" zu sein, als „ebenso kindisch wie an¬
maßend" zurückzuweisen (S, 12). Aber auch die Bibel dürfe nicht als un¬
getrübte Quelle betrachtet werden, denn sie heiße nur deshalb Gottes Wort,
weil sie von der katholischen Kirche dafür erklärt worden sei. „Die Kirche
Christi — erklärt er in Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrzahl der
augenblicklich an unsern Hochschulen wirkenden Vertreter der protestantischen
Bibelwissenschaft — hat den Kanon des Neuen Bundes zusammengestellt, wie
sie den von der jüdischen Synagoge zusammengestellten Kanon des Alten
Bundes einfach übernommen hat. Menschen haben hier von Menschen ab¬
gefaßte, sehr verschiedenartige, auch im Werte sehr ungleiche Schriften für wert
gehalten, in eine maßgebende Sammlung von Zeugnissen über den Ursprung
unsers Glaubens aufgenommen zu werden. Getrieben von dem Bedürfnis und
dem dringenden Verlangen, dieser kirchlich veranstalteten und legalisierten
Sammlung der ältesten vorhandnen Zeugnisse über den geschichtlichen Ursprung
unsers Glaubens die festeste Autorität zu sichern, hat die Kirche dann später
die menschlichen Zeuginsse über das Wort Gottes mit dem Worte Gottes selbst
gleichgesetzt, die Lehre von der gleichmäßigen Inspiration aller biblischen Bücher
unes Ausdruck und Inhalt durch den Gottesgeist zur Geltung gebracht" is. 14).
Deshalb seien nur die Schriften des Neuen Testaments zu berücksichtigen, die
»ach der einstimmigen Ansicht der modernen Kritik die ältesten und relativ
sichersten Angaben über Christus und den Glauben der ältesten Christen ent¬
halten, nämlich der Kern der drei ersten Evangelien und die neun echten Briefe
des Paulus (1. und 2. Thessalonicher, Galater, 1. und 2. Korinther, Römer,
Philemon, Kolosser, Philipper, S. 117); zurückzuweisen seien vor allem das
Evangelium Johannis und die drei johanneischen Briefe, weil sie den erst¬
genannten Schriften vielfach widersprechen und über den mit ihrer Hilfe er-
kennbaren „Gegenstand unsers Glaubens: die Selbstentfaltung des göttlichen
Lebens in der menschlichen Persönlichkeit Jesu und dnrch ihn in der mensch¬
lichen Gemeinschaft überhaupt, schon hinnnsgehn und die spätere Lehre von
der metaphysischen Trinität vorbereitend — aus Jesus anfangen ein über jede


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/511>, abgerufen am 22.07.2024.