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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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ihrer Ausbildung die Doppelstellung des Mensche" als Mitglied der sichtbaren
"Physischen) und' der unsichtbaren (geistigen) Welt (S. 4). Das Dasein der
geistigen Welt wird nach seiner Ansicht dem Menschen in doppelter Weise ver¬
bürgt, nämlich einmal durch die Stimme des Gewissens, "die warnend, strafend
oder aufmunternd, selig bestätigend sich ihm als Ausdruck einer über ihn un¬
endlich hinausreichenden objektive" Macht in seinem Handeln, Empfinden und
Sein" (S, 24) erweist, vor allem aber durch das "Gefühl des Jammers,"
das den Menschen ergreift, sobald er sich seiner untergeordneten Stellung in
der Physischen Welt, seines "Sichverlierens in dem Labyrinth des Einzelnen"
(S, 5) bewußt wird. Denn, so meint unser Gewährsmann, "dieses Gefühl
konnte unmöglich in uns die Herrschaft erlangen, wenn es nicht ein andres
Gefühl in sich schlösse, nämlich das Gefühl einer ganz andersartigen Bestim¬
mung des Meuschen" is. 5). Wer um, diesen Gefühlen zum Trotz, "an der
vergänglichen Erscheinungswelt, als dem wahren und einzigen Leben und Sein"
es. 28) hängen bleibt, ist nach Zieglcrs Meinung irreligiös oder ungläubig,
wer sich von ihnen ergreifen und beeinflussen läßt, darf seit dem Auftreten
Christi (S, 15) hoffen,' in den Besitz des wahren Glaubens, d, h, zum "per¬
sönlichen Leben in Gott, in der Himmlischen unsichtbaren Welt des wahren
Seins" (S, 6) zu gelange".

Wir erkennen in diesen Ausführungen Zieglers ohne Mühe die beiden
Hauptgedanken der christlichen Dogmatik, daß nämlich alle Menschen der Er¬
lösung bedürftig sind und nur durch Christus zum Heile gelangen können; es
kaun aber kein Zweifel sein, daß diese beiden Fundamentalsätzc in seinem
System eine" völlig "euer, von dein herkömmlichen in fast allen°Punkten ab¬
weichenden Sinn erhalten.

Die alte, in ihren wesentlichen Grundlagen auf den Apostel Paulus
zurückgehende Dogmatik ging von dem Gedanken ans, daß die Erlösungs-
bedürftigkeit der Menschen dnrch die Herrschaft der Sünde verursacht worden sei.
Ziegler ist weit entfernt, die Macht des Bösen in der Welt in Abrede stellen
zu wollen, ja er spricht sogar die pessimistische Ansicht aus, daß sich ein
dauernder Fortschritt gerade auf dem Gebiete deS Kampfes zwischen Gut und
Böse in der Geschichte nicht mit Sicherheit feststellen lasse is. 30), aber er
bricht auf das entschiedenste mit den drei Dogmen, durch die die Lehre von
der allgemeinen Sündhaftigkeit in der alten Dogmatik erst ihren fundamentalen
Charakter erhält, mit der Lehre von dem Zusammenhange zwischen Sünde und
Tod, von der Erbsünde und von der Sünde als einer selbständigen, mich
außerhalb der Menschen bestehenden Macht.

"Der Tod des Menschen als eines geschaffnen Wesens, erklärt er (S. 78),
ist nicht die Folge seiner Abwendung von Gott oder gar einer einzelnen sündigen
That, sondern er ist das gottgewollte Ende des natürlichen Menschen als eines
geschaffnen, in dein Wechsel der Erscheinungen ans Licht getretner Wesens."
Die Lehre von der Erbsünde bezeichnet er nicht nur als falsch, sondern geradezu
"is ein Haupthindernis für die Entfaltung der wahren Religiosität. "Die


ihrer Ausbildung die Doppelstellung des Mensche» als Mitglied der sichtbaren
«Physischen) und' der unsichtbaren (geistigen) Welt (S. 4). Das Dasein der
geistigen Welt wird nach seiner Ansicht dem Menschen in doppelter Weise ver¬
bürgt, nämlich einmal durch die Stimme des Gewissens, „die warnend, strafend
oder aufmunternd, selig bestätigend sich ihm als Ausdruck einer über ihn un¬
endlich hinausreichenden objektive» Macht in seinem Handeln, Empfinden und
Sein" (S, 24) erweist, vor allem aber durch das „Gefühl des Jammers,"
das den Menschen ergreift, sobald er sich seiner untergeordneten Stellung in
der Physischen Welt, seines „Sichverlierens in dem Labyrinth des Einzelnen"
(S, 5) bewußt wird. Denn, so meint unser Gewährsmann, „dieses Gefühl
konnte unmöglich in uns die Herrschaft erlangen, wenn es nicht ein andres
Gefühl in sich schlösse, nämlich das Gefühl einer ganz andersartigen Bestim¬
mung des Meuschen" is. 5). Wer um, diesen Gefühlen zum Trotz, „an der
vergänglichen Erscheinungswelt, als dem wahren und einzigen Leben und Sein"
es. 28) hängen bleibt, ist nach Zieglcrs Meinung irreligiös oder ungläubig,
wer sich von ihnen ergreifen und beeinflussen läßt, darf seit dem Auftreten
Christi (S, 15) hoffen,' in den Besitz des wahren Glaubens, d, h, zum „per¬
sönlichen Leben in Gott, in der Himmlischen unsichtbaren Welt des wahren
Seins" (S, 6) zu gelange».

Wir erkennen in diesen Ausführungen Zieglers ohne Mühe die beiden
Hauptgedanken der christlichen Dogmatik, daß nämlich alle Menschen der Er¬
lösung bedürftig sind und nur durch Christus zum Heile gelangen können; es
kaun aber kein Zweifel sein, daß diese beiden Fundamentalsätzc in seinem
System eine» völlig »euer, von dein herkömmlichen in fast allen°Punkten ab¬
weichenden Sinn erhalten.

Die alte, in ihren wesentlichen Grundlagen auf den Apostel Paulus
zurückgehende Dogmatik ging von dem Gedanken ans, daß die Erlösungs-
bedürftigkeit der Menschen dnrch die Herrschaft der Sünde verursacht worden sei.
Ziegler ist weit entfernt, die Macht des Bösen in der Welt in Abrede stellen
zu wollen, ja er spricht sogar die pessimistische Ansicht aus, daß sich ein
dauernder Fortschritt gerade auf dem Gebiete deS Kampfes zwischen Gut und
Böse in der Geschichte nicht mit Sicherheit feststellen lasse is. 30), aber er
bricht auf das entschiedenste mit den drei Dogmen, durch die die Lehre von
der allgemeinen Sündhaftigkeit in der alten Dogmatik erst ihren fundamentalen
Charakter erhält, mit der Lehre von dem Zusammenhange zwischen Sünde und
Tod, von der Erbsünde und von der Sünde als einer selbständigen, mich
außerhalb der Menschen bestehenden Macht.

„Der Tod des Menschen als eines geschaffnen Wesens, erklärt er (S. 78),
ist nicht die Folge seiner Abwendung von Gott oder gar einer einzelnen sündigen
That, sondern er ist das gottgewollte Ende des natürlichen Menschen als eines
geschaffnen, in dein Wechsel der Erscheinungen ans Licht getretner Wesens."
Die Lehre von der Erbsünde bezeichnet er nicht nur als falsch, sondern geradezu
"is ein Haupthindernis für die Entfaltung der wahren Religiosität. „Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/507>, abgerufen am 22.07.2024.