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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Gottsched im Rahmen der deutschen Wörterbücher

einem "Hirngespinst" umgewandelt worden war. Sie hatten eben das Wort
in der ersten Auflage der "Vernünftigen Tadlerinnen" kennen gelernt und
erfuhren von der neuen Bildung wohl erst, als sie sich in der Schriftsprache
durchgesetzt hatte.

Und jetzt noch einen dritten und letzten Fall. Zu dem Worte " Kunst¬
lichter" wird bemerkt: "Es muß erst nach 1700 aufgekommen sein. Auch
Stieler hat es nicht; sogar im achtzehnten Jahrhundert Steinbach und Frisch
noch nicht; erst Adelung führt es an." Aber damit ist die Sache nicht erledigt.
Rudolf Hildebrandt (der den Buchstaben K im Grimmschen Wörterbuch bear¬
beitet hat) findet das Wort "gut und natürlich gebildet" und scheint zu be¬
dauern, daß es ,.jetzt wieder verdrängt" ist (nämlich durch das gute deutsche
Wort "Kunstkritiker"!); und so hat er sich offenbar Mühe gegeben, dem Schöpfer
des Wortes auf die Spur zu kommen. Er führt dem? auch zwei Schrift¬
steller an und setzt sogar bei den angeführten Stellen die Jahreszahlen hinzu,
sodaß man gewissermaßen gezwungen ist, die frühest genannte Quelle für die
Ursprungsstelle zu halten. Die zwei Schriftsteller aber sind: Bodmer und --
Gottsched. Der Name Gottsched ist wirklich genannt; es werden sogar zwei
Belege von ihm beigebracht; aber wahrend die Belegstelle von Bodmer aus dem
Jahre 1740 stammt, sind die Belegstellen von Gottsched aus den Jahren 1743
und 1759; nämlich aus der vierten Auflage der "Weltweisheit" und aus der
fünften Auflage der "Redekunst"! Hildebrandt hat sich also nicht einmal die
Mühe genommen, die ersten Auflagen der zwei Hauptwerke Gottscheds (1732
und 1736) anzusehen, um, was ihm ja in diesem Falle sehr leicht gewesen
wäre, wenigstens für Gottsched ein Vorrecht gegenüber Bodmer festzustellen!
Und das alles ist gründliche deutsche Wissenschaft! Zum Überfluß sei noch
bemerkt, daß das Wort Kunstrichter (für das Heyne der Einfachheit wegen gar
keine Quelle anführt!) von Gottsched schon für die "Vernünftigen Tadlerinnen"
geschaffen worden war, wo es im vierzehnten Stück des zweiten Teiles zuerst
gebraucht und auch in spätern Stücken desselben Bandes gegen vierzigmal ver¬
wertet wird!

Für alle diese Seltsamkeit läßt sich der Grund ohne viel Mühe finden.
Gottsched galt seit Menschenaltern für eine so vollkommen abgethane Größe,
es war so sehr zum wissenschaftlichen Gemeinplatz geworden, daß der "tief
originale Geist unsrer Sprache unter seiner kalten Hand erstorben" war,
daß die jüngern Wortgelehrten, Grimm an der Spitze, ein Anstcmdsrecht
M haben wähnen durften, den Moder, den sie in Gottscheds Schriften
vorzufinden befürchten mochten, nicht erst anzurühren. Um der "Gerechtig¬
keit" willen wurde in einigen der "ledernen" Bände flüchtig geblättert,
wurden sogar zehn oder zwölf Wörter herausgehoben -- damit glaubte man
mehr als genug gethan zu haben. So ist es denn wirklich geglückt, den Mann,
der unsre neue hochdeutsche Sprache zum Teil erst geschaffen, sie jedenfalls
von allen altertümlichen, aus der Lutherzeit herstammenden Bildungen befreit
und, geleitet von einen? sichern, lebendig in ihm quellenden Sprachgefühl, mit


Gottsched im Rahmen der deutschen Wörterbücher

einem „Hirngespinst" umgewandelt worden war. Sie hatten eben das Wort
in der ersten Auflage der „Vernünftigen Tadlerinnen" kennen gelernt und
erfuhren von der neuen Bildung wohl erst, als sie sich in der Schriftsprache
durchgesetzt hatte.

Und jetzt noch einen dritten und letzten Fall. Zu dem Worte „ Kunst¬
lichter" wird bemerkt: „Es muß erst nach 1700 aufgekommen sein. Auch
Stieler hat es nicht; sogar im achtzehnten Jahrhundert Steinbach und Frisch
noch nicht; erst Adelung führt es an." Aber damit ist die Sache nicht erledigt.
Rudolf Hildebrandt (der den Buchstaben K im Grimmschen Wörterbuch bear¬
beitet hat) findet das Wort „gut und natürlich gebildet" und scheint zu be¬
dauern, daß es ,.jetzt wieder verdrängt" ist (nämlich durch das gute deutsche
Wort „Kunstkritiker"!); und so hat er sich offenbar Mühe gegeben, dem Schöpfer
des Wortes auf die Spur zu kommen. Er führt dem? auch zwei Schrift¬
steller an und setzt sogar bei den angeführten Stellen die Jahreszahlen hinzu,
sodaß man gewissermaßen gezwungen ist, die frühest genannte Quelle für die
Ursprungsstelle zu halten. Die zwei Schriftsteller aber sind: Bodmer und —
Gottsched. Der Name Gottsched ist wirklich genannt; es werden sogar zwei
Belege von ihm beigebracht; aber wahrend die Belegstelle von Bodmer aus dem
Jahre 1740 stammt, sind die Belegstellen von Gottsched aus den Jahren 1743
und 1759; nämlich aus der vierten Auflage der „Weltweisheit" und aus der
fünften Auflage der „Redekunst"! Hildebrandt hat sich also nicht einmal die
Mühe genommen, die ersten Auflagen der zwei Hauptwerke Gottscheds (1732
und 1736) anzusehen, um, was ihm ja in diesem Falle sehr leicht gewesen
wäre, wenigstens für Gottsched ein Vorrecht gegenüber Bodmer festzustellen!
Und das alles ist gründliche deutsche Wissenschaft! Zum Überfluß sei noch
bemerkt, daß das Wort Kunstrichter (für das Heyne der Einfachheit wegen gar
keine Quelle anführt!) von Gottsched schon für die „Vernünftigen Tadlerinnen"
geschaffen worden war, wo es im vierzehnten Stück des zweiten Teiles zuerst
gebraucht und auch in spätern Stücken desselben Bandes gegen vierzigmal ver¬
wertet wird!

Für alle diese Seltsamkeit läßt sich der Grund ohne viel Mühe finden.
Gottsched galt seit Menschenaltern für eine so vollkommen abgethane Größe,
es war so sehr zum wissenschaftlichen Gemeinplatz geworden, daß der „tief
originale Geist unsrer Sprache unter seiner kalten Hand erstorben" war,
daß die jüngern Wortgelehrten, Grimm an der Spitze, ein Anstcmdsrecht
M haben wähnen durften, den Moder, den sie in Gottscheds Schriften
vorzufinden befürchten mochten, nicht erst anzurühren. Um der „Gerechtig¬
keit" willen wurde in einigen der „ledernen" Bände flüchtig geblättert,
wurden sogar zehn oder zwölf Wörter herausgehoben — damit glaubte man
mehr als genug gethan zu haben. So ist es denn wirklich geglückt, den Mann,
der unsre neue hochdeutsche Sprache zum Teil erst geschaffen, sie jedenfalls
von allen altertümlichen, aus der Lutherzeit herstammenden Bildungen befreit
und, geleitet von einen? sichern, lebendig in ihm quellenden Sprachgefühl, mit


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[0379] Gottsched im Rahmen der deutschen Wörterbücher einem „Hirngespinst" umgewandelt worden war. Sie hatten eben das Wort in der ersten Auflage der „Vernünftigen Tadlerinnen" kennen gelernt und erfuhren von der neuen Bildung wohl erst, als sie sich in der Schriftsprache durchgesetzt hatte. Und jetzt noch einen dritten und letzten Fall. Zu dem Worte „ Kunst¬ lichter" wird bemerkt: „Es muß erst nach 1700 aufgekommen sein. Auch Stieler hat es nicht; sogar im achtzehnten Jahrhundert Steinbach und Frisch noch nicht; erst Adelung führt es an." Aber damit ist die Sache nicht erledigt. Rudolf Hildebrandt (der den Buchstaben K im Grimmschen Wörterbuch bear¬ beitet hat) findet das Wort „gut und natürlich gebildet" und scheint zu be¬ dauern, daß es ,.jetzt wieder verdrängt" ist (nämlich durch das gute deutsche Wort „Kunstkritiker"!); und so hat er sich offenbar Mühe gegeben, dem Schöpfer des Wortes auf die Spur zu kommen. Er führt dem? auch zwei Schrift¬ steller an und setzt sogar bei den angeführten Stellen die Jahreszahlen hinzu, sodaß man gewissermaßen gezwungen ist, die frühest genannte Quelle für die Ursprungsstelle zu halten. Die zwei Schriftsteller aber sind: Bodmer und — Gottsched. Der Name Gottsched ist wirklich genannt; es werden sogar zwei Belege von ihm beigebracht; aber wahrend die Belegstelle von Bodmer aus dem Jahre 1740 stammt, sind die Belegstellen von Gottsched aus den Jahren 1743 und 1759; nämlich aus der vierten Auflage der „Weltweisheit" und aus der fünften Auflage der „Redekunst"! Hildebrandt hat sich also nicht einmal die Mühe genommen, die ersten Auflagen der zwei Hauptwerke Gottscheds (1732 und 1736) anzusehen, um, was ihm ja in diesem Falle sehr leicht gewesen wäre, wenigstens für Gottsched ein Vorrecht gegenüber Bodmer festzustellen! Und das alles ist gründliche deutsche Wissenschaft! Zum Überfluß sei noch bemerkt, daß das Wort Kunstrichter (für das Heyne der Einfachheit wegen gar keine Quelle anführt!) von Gottsched schon für die „Vernünftigen Tadlerinnen" geschaffen worden war, wo es im vierzehnten Stück des zweiten Teiles zuerst gebraucht und auch in spätern Stücken desselben Bandes gegen vierzigmal ver¬ wertet wird! Für alle diese Seltsamkeit läßt sich der Grund ohne viel Mühe finden. Gottsched galt seit Menschenaltern für eine so vollkommen abgethane Größe, es war so sehr zum wissenschaftlichen Gemeinplatz geworden, daß der „tief originale Geist unsrer Sprache unter seiner kalten Hand erstorben" war, daß die jüngern Wortgelehrten, Grimm an der Spitze, ein Anstcmdsrecht M haben wähnen durften, den Moder, den sie in Gottscheds Schriften vorzufinden befürchten mochten, nicht erst anzurühren. Um der „Gerechtig¬ keit" willen wurde in einigen der „ledernen" Bände flüchtig geblättert, wurden sogar zehn oder zwölf Wörter herausgehoben — damit glaubte man mehr als genug gethan zu haben. So ist es denn wirklich geglückt, den Mann, der unsre neue hochdeutsche Sprache zum Teil erst geschaffen, sie jedenfalls von allen altertümlichen, aus der Lutherzeit herstammenden Bildungen befreit und, geleitet von einen? sichern, lebendig in ihm quellenden Sprachgefühl, mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/379>, abgerufen am 23.07.2024.