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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Zur Psychologie und Anthropologie

bindung stehn, so muß ein jedes auch die Bewegungen der entferntesten Teile
wahrnehmen können, uur daß die meisten solchen Ätherwellenbewegungen
-- der hypothetische Äther ist das Medium, das jedes mit jedem verbindet --
für gewöhnlich unterhalb der Schwelle des Bewußtseins bleiben. Und da
jeder Willensakt von einer Molekularbewegung von Hirnzellen begleitet ist, so
muß er durch diese auch Ätherwellcn in Vewcguug setzen und Fernwirkungen
erzeugen können. Eine Äquivalenz zwischen mechanischer Bewegung und Be¬
wußtseinsvorgang, meint der Verfasser, müsse vorhanden sein, sie sei mir noch
nicht gefunden. Das bestreiten wir freilich mit Hartmaim, wenn das Wort
Äquivalenz exakt verstanden wird. Und was nun folgt, erscheint uns wenig
wahrscheinlich, während wir uns der Auffassung der Technik als einer Fort¬
setzung der natürlichen Entwicklung gern anschließen. Die weitere Entwicklung,
führt Haberkalt aus, werde nicht in einer Verschärfung unsrer Sinnesorgane
bestehn, diese schienen im Gegenteil schwächer zu werden (dem stimmen wir
ebenfalls bei), aber auch nicht bloß in der Vervollkommnung der Technik,
sondern darin, daß die okkulten oder transzendentalen Fähigkeiten der sensi¬
tiven, Somnambulen und spiritistischen Medien allgemein werden. Sollte das
geschehn, so könnten wir darin eine Vervollkommnung nicht sehen; denn diese
Wesen sind krank, und das, was wir bisher unter echt menschlichem Forschen,
Erkennen, Wirken und Handeln verstanden haben, würde aufhören, wenn alle
Menschen Schlafwandler und Medien würden. Diese Erscheinungen sind uns
wertvolle Bestätigungen der Ansicht von der Einheit der Welt und nicht
minder wertvolle Zeugnisse davon, daß es auch andre Formen des Daseins
und Wirkens giebt als unsre gewöhnlichen irdischen, aber mit unsrer Lebens¬
aufgabe sind wir auf diese irdische Welt angewiesen; den Eintritt in die andre
haben wir nach den? Tode zu erwarten. Die Möglichkeit einer Fortdauer nach
dem Tode giebt übrigens Haberkalt zu, und Seite 144 schreibt er, wie hoch
auch die menschliche Erkenntnis in Zukunft steigen möge, der Lösung der
Frage nach den letzten Gründen der Welt werde sie um keinen Schritt näher
kommen.

Die Auffassung Haberkalts regt noch zwei andre Gedankenreihen an. Die
Theologen können hier anknüpfen, um die Möglichkeit der biblischen und der
in den Heiligenlegenden erzählten Wunder zu beweisen. Dann lassen sich
ethische Folgerungen daraus ziehn. Was vou deu Werkzellgen, von den
Bauten und Kunstwerken gilt, das gilt mich von der Kleidung und von allein
Schaffen des Menschen. Die Kleidung ist seine vervollständigte Haut, und
die Gesamtheit der Veränderungen, die er in der Natur hervorbringt, seine
eigne erweiterte Persönlichkeit. Darin eben besteht der wesentliche Unterschied
zwischen Mensch und Tier, daß dieses fertig aus des Schöpfers Hand kommt:
mit Kleid und Haus lind Nahrnngsvorrat oder dem instinktiven Trieb zum
Hausbau und zur Nahrungsuche, jener aber sich in bewußter, planvoller, von
mühsamer Forschung unterstützter Thätigkeit selbst vollenden muß und soll.
Und in diesem Sollen liegt die Pflicht und in ihrer Vernachlässigung die


Zur Psychologie und Anthropologie

bindung stehn, so muß ein jedes auch die Bewegungen der entferntesten Teile
wahrnehmen können, uur daß die meisten solchen Ätherwellenbewegungen
— der hypothetische Äther ist das Medium, das jedes mit jedem verbindet —
für gewöhnlich unterhalb der Schwelle des Bewußtseins bleiben. Und da
jeder Willensakt von einer Molekularbewegung von Hirnzellen begleitet ist, so
muß er durch diese auch Ätherwellcn in Vewcguug setzen und Fernwirkungen
erzeugen können. Eine Äquivalenz zwischen mechanischer Bewegung und Be¬
wußtseinsvorgang, meint der Verfasser, müsse vorhanden sein, sie sei mir noch
nicht gefunden. Das bestreiten wir freilich mit Hartmaim, wenn das Wort
Äquivalenz exakt verstanden wird. Und was nun folgt, erscheint uns wenig
wahrscheinlich, während wir uns der Auffassung der Technik als einer Fort¬
setzung der natürlichen Entwicklung gern anschließen. Die weitere Entwicklung,
führt Haberkalt aus, werde nicht in einer Verschärfung unsrer Sinnesorgane
bestehn, diese schienen im Gegenteil schwächer zu werden (dem stimmen wir
ebenfalls bei), aber auch nicht bloß in der Vervollkommnung der Technik,
sondern darin, daß die okkulten oder transzendentalen Fähigkeiten der sensi¬
tiven, Somnambulen und spiritistischen Medien allgemein werden. Sollte das
geschehn, so könnten wir darin eine Vervollkommnung nicht sehen; denn diese
Wesen sind krank, und das, was wir bisher unter echt menschlichem Forschen,
Erkennen, Wirken und Handeln verstanden haben, würde aufhören, wenn alle
Menschen Schlafwandler und Medien würden. Diese Erscheinungen sind uns
wertvolle Bestätigungen der Ansicht von der Einheit der Welt und nicht
minder wertvolle Zeugnisse davon, daß es auch andre Formen des Daseins
und Wirkens giebt als unsre gewöhnlichen irdischen, aber mit unsrer Lebens¬
aufgabe sind wir auf diese irdische Welt angewiesen; den Eintritt in die andre
haben wir nach den? Tode zu erwarten. Die Möglichkeit einer Fortdauer nach
dem Tode giebt übrigens Haberkalt zu, und Seite 144 schreibt er, wie hoch
auch die menschliche Erkenntnis in Zukunft steigen möge, der Lösung der
Frage nach den letzten Gründen der Welt werde sie um keinen Schritt näher
kommen.

Die Auffassung Haberkalts regt noch zwei andre Gedankenreihen an. Die
Theologen können hier anknüpfen, um die Möglichkeit der biblischen und der
in den Heiligenlegenden erzählten Wunder zu beweisen. Dann lassen sich
ethische Folgerungen daraus ziehn. Was vou deu Werkzellgen, von den
Bauten und Kunstwerken gilt, das gilt mich von der Kleidung und von allein
Schaffen des Menschen. Die Kleidung ist seine vervollständigte Haut, und
die Gesamtheit der Veränderungen, die er in der Natur hervorbringt, seine
eigne erweiterte Persönlichkeit. Darin eben besteht der wesentliche Unterschied
zwischen Mensch und Tier, daß dieses fertig aus des Schöpfers Hand kommt:
mit Kleid und Haus lind Nahrnngsvorrat oder dem instinktiven Trieb zum
Hausbau und zur Nahrungsuche, jener aber sich in bewußter, planvoller, von
mühsamer Forschung unterstützter Thätigkeit selbst vollenden muß und soll.
Und in diesem Sollen liegt die Pflicht und in ihrer Vernachlässigung die


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[0370] Zur Psychologie und Anthropologie bindung stehn, so muß ein jedes auch die Bewegungen der entferntesten Teile wahrnehmen können, uur daß die meisten solchen Ätherwellenbewegungen — der hypothetische Äther ist das Medium, das jedes mit jedem verbindet — für gewöhnlich unterhalb der Schwelle des Bewußtseins bleiben. Und da jeder Willensakt von einer Molekularbewegung von Hirnzellen begleitet ist, so muß er durch diese auch Ätherwellcn in Vewcguug setzen und Fernwirkungen erzeugen können. Eine Äquivalenz zwischen mechanischer Bewegung und Be¬ wußtseinsvorgang, meint der Verfasser, müsse vorhanden sein, sie sei mir noch nicht gefunden. Das bestreiten wir freilich mit Hartmaim, wenn das Wort Äquivalenz exakt verstanden wird. Und was nun folgt, erscheint uns wenig wahrscheinlich, während wir uns der Auffassung der Technik als einer Fort¬ setzung der natürlichen Entwicklung gern anschließen. Die weitere Entwicklung, führt Haberkalt aus, werde nicht in einer Verschärfung unsrer Sinnesorgane bestehn, diese schienen im Gegenteil schwächer zu werden (dem stimmen wir ebenfalls bei), aber auch nicht bloß in der Vervollkommnung der Technik, sondern darin, daß die okkulten oder transzendentalen Fähigkeiten der sensi¬ tiven, Somnambulen und spiritistischen Medien allgemein werden. Sollte das geschehn, so könnten wir darin eine Vervollkommnung nicht sehen; denn diese Wesen sind krank, und das, was wir bisher unter echt menschlichem Forschen, Erkennen, Wirken und Handeln verstanden haben, würde aufhören, wenn alle Menschen Schlafwandler und Medien würden. Diese Erscheinungen sind uns wertvolle Bestätigungen der Ansicht von der Einheit der Welt und nicht minder wertvolle Zeugnisse davon, daß es auch andre Formen des Daseins und Wirkens giebt als unsre gewöhnlichen irdischen, aber mit unsrer Lebens¬ aufgabe sind wir auf diese irdische Welt angewiesen; den Eintritt in die andre haben wir nach den? Tode zu erwarten. Die Möglichkeit einer Fortdauer nach dem Tode giebt übrigens Haberkalt zu, und Seite 144 schreibt er, wie hoch auch die menschliche Erkenntnis in Zukunft steigen möge, der Lösung der Frage nach den letzten Gründen der Welt werde sie um keinen Schritt näher kommen. Die Auffassung Haberkalts regt noch zwei andre Gedankenreihen an. Die Theologen können hier anknüpfen, um die Möglichkeit der biblischen und der in den Heiligenlegenden erzählten Wunder zu beweisen. Dann lassen sich ethische Folgerungen daraus ziehn. Was vou deu Werkzellgen, von den Bauten und Kunstwerken gilt, das gilt mich von der Kleidung und von allein Schaffen des Menschen. Die Kleidung ist seine vervollständigte Haut, und die Gesamtheit der Veränderungen, die er in der Natur hervorbringt, seine eigne erweiterte Persönlichkeit. Darin eben besteht der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier, daß dieses fertig aus des Schöpfers Hand kommt: mit Kleid und Haus lind Nahrnngsvorrat oder dem instinktiven Trieb zum Hausbau und zur Nahrungsuche, jener aber sich in bewußter, planvoller, von mühsamer Forschung unterstützter Thätigkeit selbst vollenden muß und soll. Und in diesem Sollen liegt die Pflicht und in ihrer Vernachlässigung die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/370>, abgerufen am 22.07.2024.