Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur modernen Litteratur, namentlich des Dramas

Leben des epische" erreichen. Dieses andrerseits, aus dem reine" dialogisierte"
Epos zum sorgsam komponierten historischen oder halbhistorische" Drama ent¬
wickelt, kann eine Tragödie sei", muß es aber nicht, es kann ferner niemals
die einfache Plastik des ander" erreiche", "och de" daraus einseitig abgeleitete"
Regeln entsprechen.

Deutschland hat es, i" seiner E"kwiell""g durch de" Dreißigjährigen
Krieg aufgehalten, erst zwei Jahrhunderte nach Lope "ud Shakespeare mit
Goethes Götz zu einem historischen Drama gebracht. Jene konnten ohne
Theorie" "ud Vorbilder frei aus denk Volksgeist heraus schaffen. Uns hat
das Schicksal um diesen Vorteil betrogen; vielleicht hat es uns durch die uoch
dauernde Pflege des ernsten Dramas, die sich seit unsrer klassischen Periode
ununterbrochen fortsetzt, entschädigt. Wenn man sich die Stärke dieser geistigen
Strömung vergegenwärtigt, dazu die politischen Zustände, die damals vor
1813 -- wenig Freude am Natcrlaude aufkommen ließen, wenn mau sieht,
daß dennoch diese historische"! Dramen entstanden, so scheint es, daß eine ge¬
heime Macht den Deutschen unwiderstehlich zum historischen Drama treibt.
Von der Pfordten behauptet also in Bezug auf das historische Drama eine
fortschreitende, aufsteigende Entwicklung von Goethes Götz bis auf unsre Zeit,
sowohl vom historische" tvie vom dramatischen Standpunkt aus: dort die immer
reichere Benutzung der historischen Forschung, hier die immer vollendetere
Dramatisierung des epischen Stoffs. Er betont neben der künstlerischen die
wissenschaftliche Thätigkeit des Dramatikers, so, daß die Schaubühne anstatt
einer "moralischen Anstalt," die sie ja bekanntermaßen nicht ist, eine belehrende
und zu ernster Betrachtung der in die Gegenwart hiuciuwirkeudeu Vergangen-
heit anleitende werde" könnte und müßte. Alles das wird nun im einzelnen
zum Nutzen des dramatischen Dichters sowohl wie für die Auffassung des
Zuschauers und Lesers anSgeftthrt. Wir können diesen tief eindringenden
methodischen Erörterungen, die durch ihren Ernst für sich einnehmen und für
die Erkenntnis der Thatsachen jedenfalls ihren Wert haben, hier nicht nach-
gehn und beschränken uns auf einige rei" persönliche Bemerkungen, die des
Verfassers eigne Dramen ganz ans den" Spiel lassen. Die Forderung eines
ans tvissenschaftlichem Wege verstärkten historischen Realismus ist theoretisch
im Recht, sobald mau zugiebt, daß die Kenntnis der historischen Thatsachen
im Laufe der Zeiten allgemein zunimmt; praktisch müßte dann das Drama der
wirklichen Geschichte immer näher kommen. Aber die Erfahrung zeigt uns
bis jetzt an hunderten von Beispielen im Drama, im Roman und, wo die
Verhältnisse ganz ebenso liegen, in der historischen Malerei, daß die Stärke
der Wirklichkeitseindrücke, die die spätern Menschen von der künstlerischen
Darstellung einer Vergangenheit empfangen, keineswegs im geraden Verhältnis
zu der historischen Treue und Ausführlichkeit steht. Es ist im Gegenteil bis
zur Trivialität bekannt, daß die Genauigkeit und die Vollständigkeit ernüchternd
und erkältend wirken, archäologisch, wie mau sagt, daß aber ein glücklicher
Anachronismus im Geiste und in der Hand eines echten historischen Dichters


Zur modernen Litteratur, namentlich des Dramas

Leben des epische» erreichen. Dieses andrerseits, aus dem reine» dialogisierte»
Epos zum sorgsam komponierten historischen oder halbhistorische» Drama ent¬
wickelt, kann eine Tragödie sei», muß es aber nicht, es kann ferner niemals
die einfache Plastik des ander» erreiche», »och de» daraus einseitig abgeleitete»
Regeln entsprechen.

Deutschland hat es, i» seiner E»kwiell»»g durch de» Dreißigjährigen
Krieg aufgehalten, erst zwei Jahrhunderte nach Lope »ud Shakespeare mit
Goethes Götz zu einem historischen Drama gebracht. Jene konnten ohne
Theorie» »ud Vorbilder frei aus denk Volksgeist heraus schaffen. Uns hat
das Schicksal um diesen Vorteil betrogen; vielleicht hat es uns durch die uoch
dauernde Pflege des ernsten Dramas, die sich seit unsrer klassischen Periode
ununterbrochen fortsetzt, entschädigt. Wenn man sich die Stärke dieser geistigen
Strömung vergegenwärtigt, dazu die politischen Zustände, die damals vor
1813 — wenig Freude am Natcrlaude aufkommen ließen, wenn mau sieht,
daß dennoch diese historische»! Dramen entstanden, so scheint es, daß eine ge¬
heime Macht den Deutschen unwiderstehlich zum historischen Drama treibt.
Von der Pfordten behauptet also in Bezug auf das historische Drama eine
fortschreitende, aufsteigende Entwicklung von Goethes Götz bis auf unsre Zeit,
sowohl vom historische» tvie vom dramatischen Standpunkt aus: dort die immer
reichere Benutzung der historischen Forschung, hier die immer vollendetere
Dramatisierung des epischen Stoffs. Er betont neben der künstlerischen die
wissenschaftliche Thätigkeit des Dramatikers, so, daß die Schaubühne anstatt
einer „moralischen Anstalt," die sie ja bekanntermaßen nicht ist, eine belehrende
und zu ernster Betrachtung der in die Gegenwart hiuciuwirkeudeu Vergangen-
heit anleitende werde« könnte und müßte. Alles das wird nun im einzelnen
zum Nutzen des dramatischen Dichters sowohl wie für die Auffassung des
Zuschauers und Lesers anSgeftthrt. Wir können diesen tief eindringenden
methodischen Erörterungen, die durch ihren Ernst für sich einnehmen und für
die Erkenntnis der Thatsachen jedenfalls ihren Wert haben, hier nicht nach-
gehn und beschränken uns auf einige rei» persönliche Bemerkungen, die des
Verfassers eigne Dramen ganz ans den» Spiel lassen. Die Forderung eines
ans tvissenschaftlichem Wege verstärkten historischen Realismus ist theoretisch
im Recht, sobald mau zugiebt, daß die Kenntnis der historischen Thatsachen
im Laufe der Zeiten allgemein zunimmt; praktisch müßte dann das Drama der
wirklichen Geschichte immer näher kommen. Aber die Erfahrung zeigt uns
bis jetzt an hunderten von Beispielen im Drama, im Roman und, wo die
Verhältnisse ganz ebenso liegen, in der historischen Malerei, daß die Stärke
der Wirklichkeitseindrücke, die die spätern Menschen von der künstlerischen
Darstellung einer Vergangenheit empfangen, keineswegs im geraden Verhältnis
zu der historischen Treue und Ausführlichkeit steht. Es ist im Gegenteil bis
zur Trivialität bekannt, daß die Genauigkeit und die Vollständigkeit ernüchternd
und erkältend wirken, archäologisch, wie mau sagt, daß aber ein glücklicher
Anachronismus im Geiste und in der Hand eines echten historischen Dichters


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0333" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235505"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur modernen Litteratur, namentlich des Dramas</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1540" prev="#ID_1539"> Leben des epische» erreichen. Dieses andrerseits, aus dem reine» dialogisierte»<lb/>
Epos zum sorgsam komponierten historischen oder halbhistorische» Drama ent¬<lb/>
wickelt, kann eine Tragödie sei», muß es aber nicht, es kann ferner niemals<lb/>
die einfache Plastik des ander» erreiche», »och de» daraus einseitig abgeleitete»<lb/>
Regeln entsprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1541" next="#ID_1542"> Deutschland hat es, i» seiner E»kwiell»»g durch de» Dreißigjährigen<lb/>
Krieg aufgehalten, erst zwei Jahrhunderte nach Lope »ud Shakespeare mit<lb/>
Goethes Götz zu einem historischen Drama gebracht. Jene konnten ohne<lb/>
Theorie» »ud Vorbilder frei aus denk Volksgeist heraus schaffen. Uns hat<lb/>
das Schicksal um diesen Vorteil betrogen; vielleicht hat es uns durch die uoch<lb/>
dauernde Pflege des ernsten Dramas, die sich seit unsrer klassischen Periode<lb/>
ununterbrochen fortsetzt, entschädigt. Wenn man sich die Stärke dieser geistigen<lb/>
Strömung vergegenwärtigt, dazu die politischen Zustände, die damals vor<lb/>
1813 &#x2014; wenig Freude am Natcrlaude aufkommen ließen, wenn mau sieht,<lb/>
daß dennoch diese historische»! Dramen entstanden, so scheint es, daß eine ge¬<lb/>
heime Macht den Deutschen unwiderstehlich zum historischen Drama treibt.<lb/>
Von der Pfordten behauptet also in Bezug auf das historische Drama eine<lb/>
fortschreitende, aufsteigende Entwicklung von Goethes Götz bis auf unsre Zeit,<lb/>
sowohl vom historische» tvie vom dramatischen Standpunkt aus: dort die immer<lb/>
reichere Benutzung der historischen Forschung, hier die immer vollendetere<lb/>
Dramatisierung des epischen Stoffs. Er betont neben der künstlerischen die<lb/>
wissenschaftliche Thätigkeit des Dramatikers, so, daß die Schaubühne anstatt<lb/>
einer &#x201E;moralischen Anstalt," die sie ja bekanntermaßen nicht ist, eine belehrende<lb/>
und zu ernster Betrachtung der in die Gegenwart hiuciuwirkeudeu Vergangen-<lb/>
heit anleitende werde« könnte und müßte. Alles das wird nun im einzelnen<lb/>
zum Nutzen des dramatischen Dichters sowohl wie für die Auffassung des<lb/>
Zuschauers und Lesers anSgeftthrt. Wir können diesen tief eindringenden<lb/>
methodischen Erörterungen, die durch ihren Ernst für sich einnehmen und für<lb/>
die Erkenntnis der Thatsachen jedenfalls ihren Wert haben, hier nicht nach-<lb/>
gehn und beschränken uns auf einige rei» persönliche Bemerkungen, die des<lb/>
Verfassers eigne Dramen ganz ans den» Spiel lassen. Die Forderung eines<lb/>
ans tvissenschaftlichem Wege verstärkten historischen Realismus ist theoretisch<lb/>
im Recht, sobald mau zugiebt, daß die Kenntnis der historischen Thatsachen<lb/>
im Laufe der Zeiten allgemein zunimmt; praktisch müßte dann das Drama der<lb/>
wirklichen Geschichte immer näher kommen. Aber die Erfahrung zeigt uns<lb/>
bis jetzt an hunderten von Beispielen im Drama, im Roman und, wo die<lb/>
Verhältnisse ganz ebenso liegen, in der historischen Malerei, daß die Stärke<lb/>
der Wirklichkeitseindrücke, die die spätern Menschen von der künstlerischen<lb/>
Darstellung einer Vergangenheit empfangen, keineswegs im geraden Verhältnis<lb/>
zu der historischen Treue und Ausführlichkeit steht. Es ist im Gegenteil bis<lb/>
zur Trivialität bekannt, daß die Genauigkeit und die Vollständigkeit ernüchternd<lb/>
und erkältend wirken, archäologisch, wie mau sagt, daß aber ein glücklicher<lb/>
Anachronismus im Geiste und in der Hand eines echten historischen Dichters</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0333] Zur modernen Litteratur, namentlich des Dramas Leben des epische» erreichen. Dieses andrerseits, aus dem reine» dialogisierte» Epos zum sorgsam komponierten historischen oder halbhistorische» Drama ent¬ wickelt, kann eine Tragödie sei», muß es aber nicht, es kann ferner niemals die einfache Plastik des ander» erreiche», »och de» daraus einseitig abgeleitete» Regeln entsprechen. Deutschland hat es, i» seiner E»kwiell»»g durch de» Dreißigjährigen Krieg aufgehalten, erst zwei Jahrhunderte nach Lope »ud Shakespeare mit Goethes Götz zu einem historischen Drama gebracht. Jene konnten ohne Theorie» »ud Vorbilder frei aus denk Volksgeist heraus schaffen. Uns hat das Schicksal um diesen Vorteil betrogen; vielleicht hat es uns durch die uoch dauernde Pflege des ernsten Dramas, die sich seit unsrer klassischen Periode ununterbrochen fortsetzt, entschädigt. Wenn man sich die Stärke dieser geistigen Strömung vergegenwärtigt, dazu die politischen Zustände, die damals vor 1813 — wenig Freude am Natcrlaude aufkommen ließen, wenn mau sieht, daß dennoch diese historische»! Dramen entstanden, so scheint es, daß eine ge¬ heime Macht den Deutschen unwiderstehlich zum historischen Drama treibt. Von der Pfordten behauptet also in Bezug auf das historische Drama eine fortschreitende, aufsteigende Entwicklung von Goethes Götz bis auf unsre Zeit, sowohl vom historische» tvie vom dramatischen Standpunkt aus: dort die immer reichere Benutzung der historischen Forschung, hier die immer vollendetere Dramatisierung des epischen Stoffs. Er betont neben der künstlerischen die wissenschaftliche Thätigkeit des Dramatikers, so, daß die Schaubühne anstatt einer „moralischen Anstalt," die sie ja bekanntermaßen nicht ist, eine belehrende und zu ernster Betrachtung der in die Gegenwart hiuciuwirkeudeu Vergangen- heit anleitende werde« könnte und müßte. Alles das wird nun im einzelnen zum Nutzen des dramatischen Dichters sowohl wie für die Auffassung des Zuschauers und Lesers anSgeftthrt. Wir können diesen tief eindringenden methodischen Erörterungen, die durch ihren Ernst für sich einnehmen und für die Erkenntnis der Thatsachen jedenfalls ihren Wert haben, hier nicht nach- gehn und beschränken uns auf einige rei» persönliche Bemerkungen, die des Verfassers eigne Dramen ganz ans den» Spiel lassen. Die Forderung eines ans tvissenschaftlichem Wege verstärkten historischen Realismus ist theoretisch im Recht, sobald mau zugiebt, daß die Kenntnis der historischen Thatsachen im Laufe der Zeiten allgemein zunimmt; praktisch müßte dann das Drama der wirklichen Geschichte immer näher kommen. Aber die Erfahrung zeigt uns bis jetzt an hunderten von Beispielen im Drama, im Roman und, wo die Verhältnisse ganz ebenso liegen, in der historischen Malerei, daß die Stärke der Wirklichkeitseindrücke, die die spätern Menschen von der künstlerischen Darstellung einer Vergangenheit empfangen, keineswegs im geraden Verhältnis zu der historischen Treue und Ausführlichkeit steht. Es ist im Gegenteil bis zur Trivialität bekannt, daß die Genauigkeit und die Vollständigkeit ernüchternd und erkältend wirken, archäologisch, wie mau sagt, daß aber ein glücklicher Anachronismus im Geiste und in der Hand eines echten historischen Dichters

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/333
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/333>, abgerufen am 22.07.2024.