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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Jur modernen Litteratur, namentlich des Dramas

speare, den man doch als Dramatiker über Schiller zu stellen pflege. Nicht
umsonst seien zwei Jahrhunderte vergangen, das Genie könne nicht ersetzen,
was ihm die mangelhafte Bildung seiner Zeit versage. Eine welthistorische Szene,
wie die im Don Carlos zwischen dem König und dem Großinquisitor, wo sich
eine ganze Zeit in einem einzigen Dialog zusammenhalte, werde man bei Shake¬
speare und Lope vergebens suchen. Die Volksszenen in Goethes Egmont,
deren Echtheit schon Schiller in seiner Rezension hervorhob, findet der Ver¬
fasser viel charakteristischer als die bei Shakespeare, Man darf nicht vergessen,
sagt er, daß unsre beiden großen Dichter stark im Banne Lessings standen und
in ihren Theorien weit entfernt waren, das historische Drama zu fordern.
Schillern insbesondre schwebte immer mehr "das" Drama oder "die" Tragödie
vor. Wenn er aber schrieb, so zwang ihn sein historischer Sinn, keine zeit¬
losen Tragödien zu schreiben, sondern beinahe wider Willen das historische
Drama auszubauen und an eine hohe Stufe (über Snkespeare) emporzuheben.
Obwohl streng genommen nnr der Wollenstein ein historisches Drama ist, und
die andern Stücke Schillers halbhistorisch sind, so sind doch vor ihm niemals
geschichtliche Stoffe so geistvoll empfunden und so mit Gefühlen und Be¬
geisterung durchdrängen worden. Daß sich dabei ein gut Teil Rhetorik aus
dem französischen Drama mit einfchlich, ist bekannt. Das historische Drama
in seiner Reinheit geht vom nationalen aus, und von Schillers Dramen sind
die beiden vorzugsweise nationalen, Wallenstein und Tell, heute die lebendigsten
von allen. Auf der andern Seite: die Brune von Messina ist die vollendetste
Imitation der griechischen Tragödie, die römischen und romanischen weit über¬
ragend, aber eine Imitation, -- Also vom Standpunkt dieses Buchs, für das
"Historische," aber auch in dramatisch-technischer Hinsicht bedeiite Schiller einen
Fortschritt gegen Shakespeare, Lessing, sagt der Verfasser weiter, lobt Shake¬
speare, wo er nur kann, und will doch nicht sehen, daß er dann mit seinem
Aristoteles schlechterdings nicht durchkomme. Seit ihm spinnt sich der Traum
fort von "den:" Drama, das die Vorzüge der griechischen und shakespearischer
Kunst vereinigen kann und soll, wiewohl schon 1773, fünf Jahre nach der
Hamburgischen Dramaturgie, Herder erklärte, daß Shakespeares Drama und
das der Griechen kaum etwas anßer dem Namen gemein hätten. Lessing
selbst beharrt ans dein griechischen Standpunkt und hat seinen Shakespeare
vergesse", wenn er deduziert, die Tragödie sei keine dialogisierte Geschichte,
und die Geschichte für die Tragödie nichts als ein Repertorium von Namen,
mit denen man gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sei. Dem stellt der
Verfasser den Satz entgegen: Das historische Drama ist keine griechische Tra¬
gödie, und wem die Geschichte nicht mehr bedeutet, der soll nicht mit ihr
spielen, sondern erdichtete Namen zu seinem zeitlosen Drama nehmen. Und
wie er sich näher das Verhältnis des griechischen Dramas zu seinem histo¬
rischen denkt, zeigt eine frühere Stelle: Es giebt ein Drama, das ans lyrischem
Pathos entsteht und sich zum zeitlosen Drama fortentwickelt, es kann mit
Geist und Gedanken erfüllt werden, kann aber nie die Anschaulichkeit und das


Jur modernen Litteratur, namentlich des Dramas

speare, den man doch als Dramatiker über Schiller zu stellen pflege. Nicht
umsonst seien zwei Jahrhunderte vergangen, das Genie könne nicht ersetzen,
was ihm die mangelhafte Bildung seiner Zeit versage. Eine welthistorische Szene,
wie die im Don Carlos zwischen dem König und dem Großinquisitor, wo sich
eine ganze Zeit in einem einzigen Dialog zusammenhalte, werde man bei Shake¬
speare und Lope vergebens suchen. Die Volksszenen in Goethes Egmont,
deren Echtheit schon Schiller in seiner Rezension hervorhob, findet der Ver¬
fasser viel charakteristischer als die bei Shakespeare, Man darf nicht vergessen,
sagt er, daß unsre beiden großen Dichter stark im Banne Lessings standen und
in ihren Theorien weit entfernt waren, das historische Drama zu fordern.
Schillern insbesondre schwebte immer mehr „das" Drama oder „die" Tragödie
vor. Wenn er aber schrieb, so zwang ihn sein historischer Sinn, keine zeit¬
losen Tragödien zu schreiben, sondern beinahe wider Willen das historische
Drama auszubauen und an eine hohe Stufe (über Snkespeare) emporzuheben.
Obwohl streng genommen nnr der Wollenstein ein historisches Drama ist, und
die andern Stücke Schillers halbhistorisch sind, so sind doch vor ihm niemals
geschichtliche Stoffe so geistvoll empfunden und so mit Gefühlen und Be¬
geisterung durchdrängen worden. Daß sich dabei ein gut Teil Rhetorik aus
dem französischen Drama mit einfchlich, ist bekannt. Das historische Drama
in seiner Reinheit geht vom nationalen aus, und von Schillers Dramen sind
die beiden vorzugsweise nationalen, Wallenstein und Tell, heute die lebendigsten
von allen. Auf der andern Seite: die Brune von Messina ist die vollendetste
Imitation der griechischen Tragödie, die römischen und romanischen weit über¬
ragend, aber eine Imitation, — Also vom Standpunkt dieses Buchs, für das
„Historische," aber auch in dramatisch-technischer Hinsicht bedeiite Schiller einen
Fortschritt gegen Shakespeare, Lessing, sagt der Verfasser weiter, lobt Shake¬
speare, wo er nur kann, und will doch nicht sehen, daß er dann mit seinem
Aristoteles schlechterdings nicht durchkomme. Seit ihm spinnt sich der Traum
fort von „den:" Drama, das die Vorzüge der griechischen und shakespearischer
Kunst vereinigen kann und soll, wiewohl schon 1773, fünf Jahre nach der
Hamburgischen Dramaturgie, Herder erklärte, daß Shakespeares Drama und
das der Griechen kaum etwas anßer dem Namen gemein hätten. Lessing
selbst beharrt ans dein griechischen Standpunkt und hat seinen Shakespeare
vergesse», wenn er deduziert, die Tragödie sei keine dialogisierte Geschichte,
und die Geschichte für die Tragödie nichts als ein Repertorium von Namen,
mit denen man gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sei. Dem stellt der
Verfasser den Satz entgegen: Das historische Drama ist keine griechische Tra¬
gödie, und wem die Geschichte nicht mehr bedeutet, der soll nicht mit ihr
spielen, sondern erdichtete Namen zu seinem zeitlosen Drama nehmen. Und
wie er sich näher das Verhältnis des griechischen Dramas zu seinem histo¬
rischen denkt, zeigt eine frühere Stelle: Es giebt ein Drama, das ans lyrischem
Pathos entsteht und sich zum zeitlosen Drama fortentwickelt, es kann mit
Geist und Gedanken erfüllt werden, kann aber nie die Anschaulichkeit und das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/332>, abgerufen am 22.07.2024.