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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line Denkschrift des Ministers Witte

damit die Volksvertretung durch Wust in tels System der Legislative ein¬
geführt, und alle Welt begriff, daß damit ein weiterer Schritt zur Vollendung
der landschaftlichen Reform gethan wurde, d. h. daß die Regierung beschlossen
hatte, eine Konstitution zu gebe". Mau sah klar, daß eine vereinigte Lcmd-
schaftsversammluug folgen müsse, die nichts andres sei" werde, als der preu¬
ßische Bereinigte Landtag von 1848, und daß unstreitig diese Versammlung
einen Anteil an der gesetzgebenden Gewalt fordern und zuletzt erhalten werde.
Kenuan versicherte in seiner im Jahre 189V erschienenen Schrift, ^) der Ukas
zur Einberufung der Kommission sei vom Zaren am 1. März 1881 unter¬
schrieben und dem Grafen Loris übergeben worden, und zwar nach Durchlesuug
der oben angefahrten Petition der fünfundzwanzig Moskaner Bürger, in der
die Frage uach der Konstitution sehr klar gestellt war, und die auf den Monarchen
einen tiefen Eindruck gemacht habe.

Ich muß mir versagen, den weitern Darlegungen Wildes über diese An¬
gelegenheit zu folgen; doch will ich noch hervorheben, daß nach diesen Mit¬
teilungen Graf Loris als früherer Minister des Innern dem neuen Zaren
Alexander III. eine Unterlegung wegen der Ausführung der von Alexander II.
gebilligten Maßnahmen machte, worauf zum 8. März eine besondre Beratung
der Minister anberaumt wurde. Was auf dieser Versammlung vorging, meint
Witte, und zu welchem Ergebnis sie gelangte, sei nicht zuverlässig bekannt ge¬
worden.

Von da ab ging es mit den Landschaften rasch abwärts. Alexander III.
entschloß sich, umzukehren zu dem andern Wege: zur Kräftigung der Selbst¬
herrschaft durch Errichtung einer starken Regierungsgewalt. Im Jahre 1882
bekam Graf D. Tolstoi das Ministerium des Innern, und im Jahre 1890
erschien das Gesetz, wodurch das Laudschaftsgesetz vou 1864 umgestaltet wurde.
"Graf Tolstoi, sagt Witte spitzig, verließ nicht die gewohnte Politik des
Ministeriums des Innern gegenüber den landschaftlichen Institutionen. seinen
Gedanken, in Wirklichkeit die Landschaft aufzuheben, gab er in seinem Projekt
offen Ausdruck; unter dem Anschein regelrechter Ausbildung der Prinzipien
der Selbstverwaltung wünschte er deren äußere Form zu erhalten, sie aber
jedes Inhalts zu berauben." So wurde das Gesetz vou 1899 zu einer neuen
Halbmaßregel i es schaffte die Landschaft nicht ab, nahm ihr aber Charakter
und Farbe; es vernichtete nicht das allständische Prinzip, fügte aber eine
ständische Färbung hinzu; es ließ Wahlämter bestehn, erklärte aber den Dienst
in ihnen als Staatsdienst; es machte die landschaftlichen Ämter nicht zu
Staatsbehörden, aber vermehrte ihre Bevormundung durch den Gouverneur;
es ließ den landschaftlichen Versammlungen ihre bisherige selbständige Be¬
schlußfassung in den meisten ihrer Sorge zugewiesenen Dingen, aber ver¬
stärkte das bloß regierende Einspruchsrecht des Gouverneurs. Von der Haupt¬
masse der Landbevölkerung, den Bauern, wurde die Landschaft völlig ge-



*) Kerman, Die letzte Erklärung der russischen Liberalen (russisch).
Line Denkschrift des Ministers Witte

damit die Volksvertretung durch Wust in tels System der Legislative ein¬
geführt, und alle Welt begriff, daß damit ein weiterer Schritt zur Vollendung
der landschaftlichen Reform gethan wurde, d. h. daß die Regierung beschlossen
hatte, eine Konstitution zu gebe». Mau sah klar, daß eine vereinigte Lcmd-
schaftsversammluug folgen müsse, die nichts andres sei» werde, als der preu¬
ßische Bereinigte Landtag von 1848, und daß unstreitig diese Versammlung
einen Anteil an der gesetzgebenden Gewalt fordern und zuletzt erhalten werde.
Kenuan versicherte in seiner im Jahre 189V erschienenen Schrift, ^) der Ukas
zur Einberufung der Kommission sei vom Zaren am 1. März 1881 unter¬
schrieben und dem Grafen Loris übergeben worden, und zwar nach Durchlesuug
der oben angefahrten Petition der fünfundzwanzig Moskaner Bürger, in der
die Frage uach der Konstitution sehr klar gestellt war, und die auf den Monarchen
einen tiefen Eindruck gemacht habe.

Ich muß mir versagen, den weitern Darlegungen Wildes über diese An¬
gelegenheit zu folgen; doch will ich noch hervorheben, daß nach diesen Mit¬
teilungen Graf Loris als früherer Minister des Innern dem neuen Zaren
Alexander III. eine Unterlegung wegen der Ausführung der von Alexander II.
gebilligten Maßnahmen machte, worauf zum 8. März eine besondre Beratung
der Minister anberaumt wurde. Was auf dieser Versammlung vorging, meint
Witte, und zu welchem Ergebnis sie gelangte, sei nicht zuverlässig bekannt ge¬
worden.

Von da ab ging es mit den Landschaften rasch abwärts. Alexander III.
entschloß sich, umzukehren zu dem andern Wege: zur Kräftigung der Selbst¬
herrschaft durch Errichtung einer starken Regierungsgewalt. Im Jahre 1882
bekam Graf D. Tolstoi das Ministerium des Innern, und im Jahre 1890
erschien das Gesetz, wodurch das Laudschaftsgesetz vou 1864 umgestaltet wurde.
„Graf Tolstoi, sagt Witte spitzig, verließ nicht die gewohnte Politik des
Ministeriums des Innern gegenüber den landschaftlichen Institutionen. seinen
Gedanken, in Wirklichkeit die Landschaft aufzuheben, gab er in seinem Projekt
offen Ausdruck; unter dem Anschein regelrechter Ausbildung der Prinzipien
der Selbstverwaltung wünschte er deren äußere Form zu erhalten, sie aber
jedes Inhalts zu berauben." So wurde das Gesetz vou 1899 zu einer neuen
Halbmaßregel i es schaffte die Landschaft nicht ab, nahm ihr aber Charakter
und Farbe; es vernichtete nicht das allständische Prinzip, fügte aber eine
ständische Färbung hinzu; es ließ Wahlämter bestehn, erklärte aber den Dienst
in ihnen als Staatsdienst; es machte die landschaftlichen Ämter nicht zu
Staatsbehörden, aber vermehrte ihre Bevormundung durch den Gouverneur;
es ließ den landschaftlichen Versammlungen ihre bisherige selbständige Be¬
schlußfassung in den meisten ihrer Sorge zugewiesenen Dingen, aber ver¬
stärkte das bloß regierende Einspruchsrecht des Gouverneurs. Von der Haupt¬
masse der Landbevölkerung, den Bauern, wurde die Landschaft völlig ge-



*) Kerman, Die letzte Erklärung der russischen Liberalen (russisch).
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[0319] Line Denkschrift des Ministers Witte damit die Volksvertretung durch Wust in tels System der Legislative ein¬ geführt, und alle Welt begriff, daß damit ein weiterer Schritt zur Vollendung der landschaftlichen Reform gethan wurde, d. h. daß die Regierung beschlossen hatte, eine Konstitution zu gebe». Mau sah klar, daß eine vereinigte Lcmd- schaftsversammluug folgen müsse, die nichts andres sei» werde, als der preu¬ ßische Bereinigte Landtag von 1848, und daß unstreitig diese Versammlung einen Anteil an der gesetzgebenden Gewalt fordern und zuletzt erhalten werde. Kenuan versicherte in seiner im Jahre 189V erschienenen Schrift, ^) der Ukas zur Einberufung der Kommission sei vom Zaren am 1. März 1881 unter¬ schrieben und dem Grafen Loris übergeben worden, und zwar nach Durchlesuug der oben angefahrten Petition der fünfundzwanzig Moskaner Bürger, in der die Frage uach der Konstitution sehr klar gestellt war, und die auf den Monarchen einen tiefen Eindruck gemacht habe. Ich muß mir versagen, den weitern Darlegungen Wildes über diese An¬ gelegenheit zu folgen; doch will ich noch hervorheben, daß nach diesen Mit¬ teilungen Graf Loris als früherer Minister des Innern dem neuen Zaren Alexander III. eine Unterlegung wegen der Ausführung der von Alexander II. gebilligten Maßnahmen machte, worauf zum 8. März eine besondre Beratung der Minister anberaumt wurde. Was auf dieser Versammlung vorging, meint Witte, und zu welchem Ergebnis sie gelangte, sei nicht zuverlässig bekannt ge¬ worden. Von da ab ging es mit den Landschaften rasch abwärts. Alexander III. entschloß sich, umzukehren zu dem andern Wege: zur Kräftigung der Selbst¬ herrschaft durch Errichtung einer starken Regierungsgewalt. Im Jahre 1882 bekam Graf D. Tolstoi das Ministerium des Innern, und im Jahre 1890 erschien das Gesetz, wodurch das Laudschaftsgesetz vou 1864 umgestaltet wurde. „Graf Tolstoi, sagt Witte spitzig, verließ nicht die gewohnte Politik des Ministeriums des Innern gegenüber den landschaftlichen Institutionen. seinen Gedanken, in Wirklichkeit die Landschaft aufzuheben, gab er in seinem Projekt offen Ausdruck; unter dem Anschein regelrechter Ausbildung der Prinzipien der Selbstverwaltung wünschte er deren äußere Form zu erhalten, sie aber jedes Inhalts zu berauben." So wurde das Gesetz vou 1899 zu einer neuen Halbmaßregel i es schaffte die Landschaft nicht ab, nahm ihr aber Charakter und Farbe; es vernichtete nicht das allständische Prinzip, fügte aber eine ständische Färbung hinzu; es ließ Wahlämter bestehn, erklärte aber den Dienst in ihnen als Staatsdienst; es machte die landschaftlichen Ämter nicht zu Staatsbehörden, aber vermehrte ihre Bevormundung durch den Gouverneur; es ließ den landschaftlichen Versammlungen ihre bisherige selbständige Be¬ schlußfassung in den meisten ihrer Sorge zugewiesenen Dingen, aber ver¬ stärkte das bloß regierende Einspruchsrecht des Gouverneurs. Von der Haupt¬ masse der Landbevölkerung, den Bauern, wurde die Landschaft völlig ge- *) Kerman, Die letzte Erklärung der russischen Liberalen (russisch).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/319>, abgerufen am 23.07.2024.