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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line Denkschrift des Ministers Witte

wie ich vermute, Herrn Witte für einen glänzenden Verteidiger der freiheit¬
lichen russischen Landschaftsinstitutionen halten, dem nnr das Schlußwort auf
den Lippen erstarb, die Folgerung, man müsse also die autokratische Nerfassnng
Rußlands andern. Auch weist er nachdrücklich darauf hin, daß diese Folgerung
nicht bloß in den Landschaften, sondern mich in einem wesentlichen Teile der
Gesellschaft gezogen worden sei. Namentlich waren eS fünfundzwanzig hervor¬
ragende Moskaner Bürger, die im Jahre 1880 dem Grafen Loris-Melikow
(damals Minister des Innern) eine Bittschrift zur Überreichung an den Zaren
vorlegten, in der sie die Fortschritte der revolntwnären Thätigkeit zum wesent¬
lichsten Teil ans "das erzwungne Schweigen der Landschaften zurückführten,".,.
"Die russische Gesellschaft, hieß es "veiter in der Bittschrift, bestärkt sich immer
mehr und mehr in der Überzeugung, daß ein so weites Reich, wie das unsre, mit
seinem komplizierten sozialen Leben nicht ausschließlich von Staatsbeamten
verwaltet werde" kann." Und zum Schluß heißt es: "Das einzige Mittel,
das Land ans seiner gegenwärtigen Lage herauszubringen, besteht in der Be¬
rufung einer unabhängigen Versammlung von Vertretern der Landschaften, in
der dieser Versammlung gewährten Teilnahme an der Regierung der Nation,
und in der Ausarbeitung der notwendigen Garantien für die Rechte der Person,
der Freiheit der Gedanken und des Worts," Soweit hatten sich die Gegen¬
sätze zu Anfang der achtziger Jahre zugespitzt, "Die Regierung stand vor dem
Dilemma: entweder den landschaftlichen Institutionen eine geregelte Stellung
zu schaffen, ihnen weitere Entwicklung zu geben, und so den Forderungen der
Landschaften nachgebend offen in die Bahn des Konstitutionalismus einzu¬
lenken, oder, die Grundlagen der Autokratie wahrend, alleudlich jede Selb¬
ständigkeit und Selbstthätigkeit der landschaftlichen Institutionen zu unterdrücken
und dem gouvernementalen Prinzip ein entschiednes Übergewicht über das land¬
schaftliche Wahlprinzip zu erteilen."

"Graf Loris-Melikow beschloß offenbar, vorsichtig den ersten Weg zu ver¬
suchen, sofern er nicht etwa im Sinn hatte, das Dilemma zu umgehn," Er
sprach sich hierüber den Vertretern der Petersburger Tagespresse gegenüber
im einzelnen ans, durch die dann sein Programm vor ganz Rußland verkündet
wurde, "In Wirklichkeit versprach dieses nichts bestimmtes, aber die Agitation
der Landschaften verdoppelte sich, und die Gesellschaft glaubte die Verheißung
eines neuen, auf eine Verfassung abzielenden Kurses erkennen zu können."
In der Zusammenkunft von 1880 wurde von den Vertretern einer Verbindung,
die sich der "landschaftliche Bund" nannte, die Notwendigkeit festgestellt, "eine
zentrale Volksvertretung mit der unbedingten Schaffung eines Repräsentanten¬
hauses und allgemeinen Stimmrechts zu erlangen, d. h. ans breitester demokra¬
tischer Grundlage beschloß man Petitionen einzureichen um Erweiterung der
landschaftlichen Rechte, um Massuug der Landschaft zur Teilnahme an der
Zentmlverwaltttng, Und in der That, die Petitionen schütteten von den
Landschaften im Überfluß herab, wobei bemerkenswert ist, daß die landschaft¬
lichen Vertreter "in dem Ausdruck ihrer Zustimmung zu der neuen Richtung


Line Denkschrift des Ministers Witte

wie ich vermute, Herrn Witte für einen glänzenden Verteidiger der freiheit¬
lichen russischen Landschaftsinstitutionen halten, dem nnr das Schlußwort auf
den Lippen erstarb, die Folgerung, man müsse also die autokratische Nerfassnng
Rußlands andern. Auch weist er nachdrücklich darauf hin, daß diese Folgerung
nicht bloß in den Landschaften, sondern mich in einem wesentlichen Teile der
Gesellschaft gezogen worden sei. Namentlich waren eS fünfundzwanzig hervor¬
ragende Moskaner Bürger, die im Jahre 1880 dem Grafen Loris-Melikow
(damals Minister des Innern) eine Bittschrift zur Überreichung an den Zaren
vorlegten, in der sie die Fortschritte der revolntwnären Thätigkeit zum wesent¬
lichsten Teil ans „das erzwungne Schweigen der Landschaften zurückführten,".,.
„Die russische Gesellschaft, hieß es »veiter in der Bittschrift, bestärkt sich immer
mehr und mehr in der Überzeugung, daß ein so weites Reich, wie das unsre, mit
seinem komplizierten sozialen Leben nicht ausschließlich von Staatsbeamten
verwaltet werde» kann." Und zum Schluß heißt es: „Das einzige Mittel,
das Land ans seiner gegenwärtigen Lage herauszubringen, besteht in der Be¬
rufung einer unabhängigen Versammlung von Vertretern der Landschaften, in
der dieser Versammlung gewährten Teilnahme an der Regierung der Nation,
und in der Ausarbeitung der notwendigen Garantien für die Rechte der Person,
der Freiheit der Gedanken und des Worts," Soweit hatten sich die Gegen¬
sätze zu Anfang der achtziger Jahre zugespitzt, „Die Regierung stand vor dem
Dilemma: entweder den landschaftlichen Institutionen eine geregelte Stellung
zu schaffen, ihnen weitere Entwicklung zu geben, und so den Forderungen der
Landschaften nachgebend offen in die Bahn des Konstitutionalismus einzu¬
lenken, oder, die Grundlagen der Autokratie wahrend, alleudlich jede Selb¬
ständigkeit und Selbstthätigkeit der landschaftlichen Institutionen zu unterdrücken
und dem gouvernementalen Prinzip ein entschiednes Übergewicht über das land¬
schaftliche Wahlprinzip zu erteilen."

„Graf Loris-Melikow beschloß offenbar, vorsichtig den ersten Weg zu ver¬
suchen, sofern er nicht etwa im Sinn hatte, das Dilemma zu umgehn," Er
sprach sich hierüber den Vertretern der Petersburger Tagespresse gegenüber
im einzelnen ans, durch die dann sein Programm vor ganz Rußland verkündet
wurde, „In Wirklichkeit versprach dieses nichts bestimmtes, aber die Agitation
der Landschaften verdoppelte sich, und die Gesellschaft glaubte die Verheißung
eines neuen, auf eine Verfassung abzielenden Kurses erkennen zu können."
In der Zusammenkunft von 1880 wurde von den Vertretern einer Verbindung,
die sich der „landschaftliche Bund" nannte, die Notwendigkeit festgestellt, „eine
zentrale Volksvertretung mit der unbedingten Schaffung eines Repräsentanten¬
hauses und allgemeinen Stimmrechts zu erlangen, d. h. ans breitester demokra¬
tischer Grundlage beschloß man Petitionen einzureichen um Erweiterung der
landschaftlichen Rechte, um Massuug der Landschaft zur Teilnahme an der
Zentmlverwaltttng, Und in der That, die Petitionen schütteten von den
Landschaften im Überfluß herab, wobei bemerkenswert ist, daß die landschaft¬
lichen Vertreter »in dem Ausdruck ihrer Zustimmung zu der neuen Richtung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/317>, abgerufen am 22.07.2024.