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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die ZVohnungs- und Bodenpolitik in Großberlin

so arg getadelte Vorortsbauordnung fällt. Von einer Wohnungsnot im Sinne
der ersterwähnten konnte in ihr nicht geredet werden. Der kräftiger entwickelten
Bauspekulation, an der es 1871 fehlte, ist jedenfalls, mag an ihr noch so viel
zu tadeln sein, ein gewisses Verdienst dabei nicht zu bestreiten. Der starke
Abfall der Zunahme in dem nächstfolgenden Jahrfünft 1890/95 ist -- abge¬
sehen von der Depression des Erwerbslebens -- hauptsächlich durch die zu¬
nehmende Verwendung von Bauplätzen in der innern Stadt zu andern als zu
Wohnzwecken (Citybildung) erklärt worden neben der Abnahme des noch un¬
bebauten Geländes an der Peripherie des Weichbilds. Um so auffallender ist
das starke Emporschnellen der Bevölkerungszunahme im letzten Jahrfünft, trotz
verstärkter Citybildung und sehr verbesserter Verkehrsmittel nach den Vororten.
Der ungeheure Aufschwung der industriellen Unternehmungen in der Stadt
hat dazu sicher das meiste beigetragen, und der Wert, den die Arbeiterschaft
noch immer ans das Wohnen nahe bei der Arbeitsstätte legt, ist dadurch wieder
kräftig in Erinnerung gebracht worden. Die Folge ist in der sich jetzt, 1900/1901,
nachdem schon der industrielle Abfall eingetreten ist, geltend machenden Woh¬
nungsnot deutlich erkennbar. Die Wohnungsnot und der Wohnungswucher
haben gegenwärtig, wenn auch noch lange nicht den Grad von 1871/75 erreicht,
so doch seitdem den höchsten.

Berechnet man die Bevölkerungszunahme in den verschiednen Perioden
auf je ein Jahr, so ergiebt sich als Jahreswachstum für die Periode

1871/8S188SM"1890/95189S/1SV0
in Berlin . .8492452 7011970242204
in den Vororten117782099S3830440944

In Prozenten hat die Vorortsbevölkerung in den letzten drei Jcchrfünften
um 64,11, 61,97 und 47,03 zugenommen, also 1885/90 am stärksten, 1895/1900
am schwächsten. Das ist im Vergleich mit der Stadt Berlin ein befremdliches
Verhältnis. Hoffentlich wird die weitere Bearbeitung der Volkszählungs-
ergebnisfe von 1900 wertvolle Erklärungen dafür bringen. Jetzt schon be¬
stimmte Umstände zu bezeichnen, die die.Heranziehung der Vororte zur Ent¬
lastung der Stadt Berlin in Bezug auf das Wohnungsbcdürfnis der arbeitenden
Klassen gehemmt hätten, wäre verfrüht. So viel scheint sich uns aber aus
dem ganzen Zahlenbilde zu ergeben, daß es hohe Zeit ist, mit der Dezentrali-
sation oder vielmehr Evakuation der Großindustrie aus Berlin und seinen
Vororten ganz energisch vorzugehn. Eine neue industrielle Haussebewegung
"urbe sonst ganz unerträgliche Zustände schaffen.

Die Entwicklung der Vorstädte als Zubehör zur Großstadt hat eigentlich
erst mit 1870/71 begonnen. Ende 1871 hatten die heutigen sechzehn Vor¬
orte des rechten Spreenfcrs, wie wir sehen, um wenig über 17000 Einwohner
und die dreizehn des linken Spreenfers etwas über 40000; darunter die Stadt
Charlottenburg über 19000. Um ein Bild von der Vorortsentwicklung zu
geben, mögen'noch die Bevölkerungszahlen der sechzehn Vororte, die im De¬


Die ZVohnungs- und Bodenpolitik in Großberlin

so arg getadelte Vorortsbauordnung fällt. Von einer Wohnungsnot im Sinne
der ersterwähnten konnte in ihr nicht geredet werden. Der kräftiger entwickelten
Bauspekulation, an der es 1871 fehlte, ist jedenfalls, mag an ihr noch so viel
zu tadeln sein, ein gewisses Verdienst dabei nicht zu bestreiten. Der starke
Abfall der Zunahme in dem nächstfolgenden Jahrfünft 1890/95 ist — abge¬
sehen von der Depression des Erwerbslebens — hauptsächlich durch die zu¬
nehmende Verwendung von Bauplätzen in der innern Stadt zu andern als zu
Wohnzwecken (Citybildung) erklärt worden neben der Abnahme des noch un¬
bebauten Geländes an der Peripherie des Weichbilds. Um so auffallender ist
das starke Emporschnellen der Bevölkerungszunahme im letzten Jahrfünft, trotz
verstärkter Citybildung und sehr verbesserter Verkehrsmittel nach den Vororten.
Der ungeheure Aufschwung der industriellen Unternehmungen in der Stadt
hat dazu sicher das meiste beigetragen, und der Wert, den die Arbeiterschaft
noch immer ans das Wohnen nahe bei der Arbeitsstätte legt, ist dadurch wieder
kräftig in Erinnerung gebracht worden. Die Folge ist in der sich jetzt, 1900/1901,
nachdem schon der industrielle Abfall eingetreten ist, geltend machenden Woh¬
nungsnot deutlich erkennbar. Die Wohnungsnot und der Wohnungswucher
haben gegenwärtig, wenn auch noch lange nicht den Grad von 1871/75 erreicht,
so doch seitdem den höchsten.

Berechnet man die Bevölkerungszunahme in den verschiednen Perioden
auf je ein Jahr, so ergiebt sich als Jahreswachstum für die Periode

1871/8S188SM»1890/95189S/1SV0
in Berlin . .8492452 7011970242204
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In Prozenten hat die Vorortsbevölkerung in den letzten drei Jcchrfünften
um 64,11, 61,97 und 47,03 zugenommen, also 1885/90 am stärksten, 1895/1900
am schwächsten. Das ist im Vergleich mit der Stadt Berlin ein befremdliches
Verhältnis. Hoffentlich wird die weitere Bearbeitung der Volkszählungs-
ergebnisfe von 1900 wertvolle Erklärungen dafür bringen. Jetzt schon be¬
stimmte Umstände zu bezeichnen, die die.Heranziehung der Vororte zur Ent¬
lastung der Stadt Berlin in Bezug auf das Wohnungsbcdürfnis der arbeitenden
Klassen gehemmt hätten, wäre verfrüht. So viel scheint sich uns aber aus
dem ganzen Zahlenbilde zu ergeben, daß es hohe Zeit ist, mit der Dezentrali-
sation oder vielmehr Evakuation der Großindustrie aus Berlin und seinen
Vororten ganz energisch vorzugehn. Eine neue industrielle Haussebewegung
"urbe sonst ganz unerträgliche Zustände schaffen.

Die Entwicklung der Vorstädte als Zubehör zur Großstadt hat eigentlich
erst mit 1870/71 begonnen. Ende 1871 hatten die heutigen sechzehn Vor¬
orte des rechten Spreenfcrs, wie wir sehen, um wenig über 17000 Einwohner
und die dreizehn des linken Spreenfers etwas über 40000; darunter die Stadt
Charlottenburg über 19000. Um ein Bild von der Vorortsentwicklung zu
geben, mögen'noch die Bevölkerungszahlen der sechzehn Vororte, die im De¬


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[0307] Die ZVohnungs- und Bodenpolitik in Großberlin so arg getadelte Vorortsbauordnung fällt. Von einer Wohnungsnot im Sinne der ersterwähnten konnte in ihr nicht geredet werden. Der kräftiger entwickelten Bauspekulation, an der es 1871 fehlte, ist jedenfalls, mag an ihr noch so viel zu tadeln sein, ein gewisses Verdienst dabei nicht zu bestreiten. Der starke Abfall der Zunahme in dem nächstfolgenden Jahrfünft 1890/95 ist — abge¬ sehen von der Depression des Erwerbslebens — hauptsächlich durch die zu¬ nehmende Verwendung von Bauplätzen in der innern Stadt zu andern als zu Wohnzwecken (Citybildung) erklärt worden neben der Abnahme des noch un¬ bebauten Geländes an der Peripherie des Weichbilds. Um so auffallender ist das starke Emporschnellen der Bevölkerungszunahme im letzten Jahrfünft, trotz verstärkter Citybildung und sehr verbesserter Verkehrsmittel nach den Vororten. Der ungeheure Aufschwung der industriellen Unternehmungen in der Stadt hat dazu sicher das meiste beigetragen, und der Wert, den die Arbeiterschaft noch immer ans das Wohnen nahe bei der Arbeitsstätte legt, ist dadurch wieder kräftig in Erinnerung gebracht worden. Die Folge ist in der sich jetzt, 1900/1901, nachdem schon der industrielle Abfall eingetreten ist, geltend machenden Woh¬ nungsnot deutlich erkennbar. Die Wohnungsnot und der Wohnungswucher haben gegenwärtig, wenn auch noch lange nicht den Grad von 1871/75 erreicht, so doch seitdem den höchsten. Berechnet man die Bevölkerungszunahme in den verschiednen Perioden auf je ein Jahr, so ergiebt sich als Jahreswachstum für die Periode 1871/8S188SM»1890/95189S/1SV0 in Berlin . .8492452 7011970242204 in den Vororten117782099S3830440944 In Prozenten hat die Vorortsbevölkerung in den letzten drei Jcchrfünften um 64,11, 61,97 und 47,03 zugenommen, also 1885/90 am stärksten, 1895/1900 am schwächsten. Das ist im Vergleich mit der Stadt Berlin ein befremdliches Verhältnis. Hoffentlich wird die weitere Bearbeitung der Volkszählungs- ergebnisfe von 1900 wertvolle Erklärungen dafür bringen. Jetzt schon be¬ stimmte Umstände zu bezeichnen, die die.Heranziehung der Vororte zur Ent¬ lastung der Stadt Berlin in Bezug auf das Wohnungsbcdürfnis der arbeitenden Klassen gehemmt hätten, wäre verfrüht. So viel scheint sich uns aber aus dem ganzen Zahlenbilde zu ergeben, daß es hohe Zeit ist, mit der Dezentrali- sation oder vielmehr Evakuation der Großindustrie aus Berlin und seinen Vororten ganz energisch vorzugehn. Eine neue industrielle Haussebewegung "urbe sonst ganz unerträgliche Zustände schaffen. Die Entwicklung der Vorstädte als Zubehör zur Großstadt hat eigentlich erst mit 1870/71 begonnen. Ende 1871 hatten die heutigen sechzehn Vor¬ orte des rechten Spreenfcrs, wie wir sehen, um wenig über 17000 Einwohner und die dreizehn des linken Spreenfers etwas über 40000; darunter die Stadt Charlottenburg über 19000. Um ein Bild von der Vorortsentwicklung zu geben, mögen'noch die Bevölkerungszahlen der sechzehn Vororte, die im De¬

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/307>, abgerufen am 25.08.2024.