Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.Zur Psychologie und Anthropologie von Hunden und Pferden spricht, so ist es nicht der Bau des Gehirns dieser Zur Psychologie und Anthropologie von Hunden und Pferden spricht, so ist es nicht der Bau des Gehirns dieser <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235200"/> <fw type="header" place="top"> Zur Psychologie und Anthropologie</fw><lb/> <p xml:id="ID_61" prev="#ID_60"> von Hunden und Pferden spricht, so ist es nicht der Bau des Gehirns dieser<lb/> Tiere, was er heranzieht, sondern ihr Seelenleben und ihre Anatomie und<lb/> Physiologie, soweit sie auch von einem Laien in der Naturwissenschaft wahr¬<lb/> genommen und beobachtet werden können, z, B, das Verhalten der Hunde in<lb/> verschiednen Lebenslagen und bei der verschiednen Behandlung, die sie erfahren.<lb/> Aber wenn Dio von Prusa den Diogenes lehren läßt, der Mensch brauche so<lb/> wenig Kleider wie die Tiere, und man dürfe nicht die Pelze und Federn ein¬<lb/> wenden, denn der Frosch habe eine nackte Haut wie der Mensch und sogar<lb/> eine noch zartere, halte es aber trotzdem im kältesten Wasser aus, so würde<lb/> heute jeder dreizehnjährige Schulknabe den alten Philosophen mit dem Hinweis<lb/> auf deu Unterschied zwischen kaltblütigen und warmblütigen Geschöpfen wider¬<lb/> legen. Mehr allerdings als die Tierphhsiologie haben die kulturgeschichtlichen<lb/> Studien, die man heute lieber soziologische nennt, dazu beigetragen, das Lebens¬<lb/> ideal der alten Cyniker und Asketen zu zerstöre», dem heut nur noch ver¬<lb/> einzelte Schwärmer huldigen. Jene Studien haben klar gemacht, daß das<lb/> Ideal auf Einbildung beruht, indem es gerade die Arbeit zur Befriedigung<lb/> der Bedürfnisse des Leibes ist, was dem Geiste zur Entfaltung verhilft, daß<lb/> ohne äußerliche Zivilisation die erhabne Weisheit der Cyniker so wenig vor¬<lb/> handen sein würde wie irgend eine andre, und daß ohne sie der Mensch, wenn<lb/> nicht leiblich, so doch ganz gewiß seelisch ein Affe geblieben sein würde. Indes<lb/> hatten die kulturhistorischen Studien, denen wir solche Einsichten verdanken,<lb/> weit weniger den Fortschritt der Naturwissenschaften zur Voraussetzung, als<lb/> die Hinwendung des Blicks auf die Wirklichkeit und seine Schärfung dafür im<lb/> allgemeinen, zu der ja allerdings die Schwenkung von den humanistischen<lb/> Wissenschaften zu den Realien viel beigetragen hat. Das bis heut unüber¬<lb/> troffne und vielleicht unübertreffliche Meisterwerk einer Psychologie, die alle<lb/> Errungenschaften aller modernen Wissenschaften dazu verwendet, das Menschen¬<lb/> wesen von außen und von innen, als Individuum und als Gattung zu be¬<lb/> leuchten und darzustellen, hat Lotze geliefert, der in seinem Mikrokosmus keinen<lb/> der Einflüsse übersieht, die auf den Menschen einwirken, und seinem Ursprünge<lb/> bis in den Schoß der Gottheit nachspürt, während er zugleich die Bedingungen<lb/> und die Entstehung aller seiner Lebensäußerungen, sogar der unbedeutendsten<lb/> und gleichgiltigsten darlegt. Wie reizend ist seine Psychologie des Putzes,<lb/> die er an der balancierten Stange, der an einer Schnur geschwungnen Kugel<lb/> und dem über die Hand gestülpten Topf (Cylinderhut, wallendes und wehendes<lb/> Frauengewand, enge Juugeuhose) entwickelt, und wie überraschend und belehrend<lb/> sein Nachweis, daß alle Möglichkeit des Werkzenggebrauchs und damit der<lb/> ganzen Technik und Kultur auf einer wunderbaren Konstruktion unsrer Finger¬<lb/> nerven beruht, die uns befähigt, nicht allein den Teil des Schreibstifts, des<lb/> Zirkels, des Spatens zu fühlen, den wir unmittelbar berühren, sondern auch<lb/> den Gegenstand, den das andre Ende des Werkzeugs trifft, und die Art und<lb/> Weise, wie dieses entweder in ihn eindringt oder über ihn hingleitet. (Im<lb/> zweiten Kapitel des fünften Buches.)</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0028]
Zur Psychologie und Anthropologie
von Hunden und Pferden spricht, so ist es nicht der Bau des Gehirns dieser
Tiere, was er heranzieht, sondern ihr Seelenleben und ihre Anatomie und
Physiologie, soweit sie auch von einem Laien in der Naturwissenschaft wahr¬
genommen und beobachtet werden können, z, B, das Verhalten der Hunde in
verschiednen Lebenslagen und bei der verschiednen Behandlung, die sie erfahren.
Aber wenn Dio von Prusa den Diogenes lehren läßt, der Mensch brauche so
wenig Kleider wie die Tiere, und man dürfe nicht die Pelze und Federn ein¬
wenden, denn der Frosch habe eine nackte Haut wie der Mensch und sogar
eine noch zartere, halte es aber trotzdem im kältesten Wasser aus, so würde
heute jeder dreizehnjährige Schulknabe den alten Philosophen mit dem Hinweis
auf deu Unterschied zwischen kaltblütigen und warmblütigen Geschöpfen wider¬
legen. Mehr allerdings als die Tierphhsiologie haben die kulturgeschichtlichen
Studien, die man heute lieber soziologische nennt, dazu beigetragen, das Lebens¬
ideal der alten Cyniker und Asketen zu zerstöre», dem heut nur noch ver¬
einzelte Schwärmer huldigen. Jene Studien haben klar gemacht, daß das
Ideal auf Einbildung beruht, indem es gerade die Arbeit zur Befriedigung
der Bedürfnisse des Leibes ist, was dem Geiste zur Entfaltung verhilft, daß
ohne äußerliche Zivilisation die erhabne Weisheit der Cyniker so wenig vor¬
handen sein würde wie irgend eine andre, und daß ohne sie der Mensch, wenn
nicht leiblich, so doch ganz gewiß seelisch ein Affe geblieben sein würde. Indes
hatten die kulturhistorischen Studien, denen wir solche Einsichten verdanken,
weit weniger den Fortschritt der Naturwissenschaften zur Voraussetzung, als
die Hinwendung des Blicks auf die Wirklichkeit und seine Schärfung dafür im
allgemeinen, zu der ja allerdings die Schwenkung von den humanistischen
Wissenschaften zu den Realien viel beigetragen hat. Das bis heut unüber¬
troffne und vielleicht unübertreffliche Meisterwerk einer Psychologie, die alle
Errungenschaften aller modernen Wissenschaften dazu verwendet, das Menschen¬
wesen von außen und von innen, als Individuum und als Gattung zu be¬
leuchten und darzustellen, hat Lotze geliefert, der in seinem Mikrokosmus keinen
der Einflüsse übersieht, die auf den Menschen einwirken, und seinem Ursprünge
bis in den Schoß der Gottheit nachspürt, während er zugleich die Bedingungen
und die Entstehung aller seiner Lebensäußerungen, sogar der unbedeutendsten
und gleichgiltigsten darlegt. Wie reizend ist seine Psychologie des Putzes,
die er an der balancierten Stange, der an einer Schnur geschwungnen Kugel
und dem über die Hand gestülpten Topf (Cylinderhut, wallendes und wehendes
Frauengewand, enge Juugeuhose) entwickelt, und wie überraschend und belehrend
sein Nachweis, daß alle Möglichkeit des Werkzenggebrauchs und damit der
ganzen Technik und Kultur auf einer wunderbaren Konstruktion unsrer Finger¬
nerven beruht, die uns befähigt, nicht allein den Teil des Schreibstifts, des
Zirkels, des Spatens zu fühlen, den wir unmittelbar berühren, sondern auch
den Gegenstand, den das andre Ende des Werkzeugs trifft, und die Art und
Weise, wie dieses entweder in ihn eindringt oder über ihn hingleitet. (Im
zweiten Kapitel des fünften Buches.)
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