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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Zur Psychologie und Anthropologie

vollen Schatzkammer, die wir Gedächtnis nennen, geduldig wartet, bis wir es.
immer eins nach dem andern, je nachdem wir es brauchen, ins Licht des Be¬
wußtseins aufsteigen heißen; und manches kommt jahrelang weder gerufen noch
ungerufen, zeigt sich dann aber unerwartet einmal und beweist dadurch, daß
es die ganze Zeit über da gewesen ist. Wo aber?

In einer Hirnzelle, antwortet die moderne Anthropologie. Und sie hat
ja auch noch auf viele andre der Fragen, die schon die Alten aufgeworfen
haben, Antworten gefunden und mit Hilfe der Naturwissenschaften einerseits,
der metaphysischen Spekulation andrerseits eine sehr reich ausgestattete Psycho¬
logie aufgebaut. Aber während die Bedeutung der modernen Naturwissenschaft
in den wunderbaren technischen Leistungen liegt, zu denen sie befähigt, und
durch die sie im neunzehnten Jahrhundert das Antlitz der Erde umgestaltet hat,
übt die Wissenschaft von der Seele keinerlei praktische Wirkungen aus, oder
"ur so geringfügige, daß sie im großen und ganzen nicht gespürt werden. Die
modernen Staatsmänner und Demagogen haben nicht mehr Macht über die
Gemüter und verstehn die Kunst der Seelenleitnng nicht besser als die alten,
und weder die Herren Dieterich Hahn und Rusland, noch Bebel und Jaures
verdanken ihre Erfolge dem Studium der Biologie, die uns angeblich den
Mechanismus der Seele erklären soll, und wenn sie ihr Versprechen zu er¬
füllen vermochte, uns doch auch schou gezeigt haben würde, wie man ihn hand¬
haben kann. Wenn aber die Pädagogik entschieden Fortschritte gemacht hat,
so ist das vorzugsweise Männern zu verdanken, die von den materialistischen
Erklnrnngswcisen nichts wußten oder sie ablehnten. Herbart z. B. erklärt alles
aus dem Mechanismus der Seele selbst, die er für ein unräumliches, unkörper¬
liches, einfaches Wesen hält. Es ist ja ganz interessant, daß uns die moderne
Physiologie Ermüdungsstoffe in, Gehirn nachweist, aber die Thatsache der Er¬
müdung infolge anhaltender gespannter Aufmerksamkeit ist von jeher bekannt
gewesen, und die Schulmeister der ältern Zeit haben an ihrem eignen Leibe
die Erfahrung gemacht, daß man bei einer langweiligen Predigt einschläft;
wenn sie daraus keine Schlüsse auf ihre Schüler gezogen haben, so war daran
nicht ihre mangelhafte Natnrerkenntnis, sondern ihre Roheit, Gewissenlosigkeit
und Gedankenlosigkeit schuld. Lotze schreibt: "Nur eine Karikatur des Tief¬
sinns ist die oft wiederholte Behauptung, es sei unmöglich, deu Meuscheu
vollkommen zu kennen, ohne alle die tiefern Glieder der Tierreiche durchschaut
zu haben, an deren Gipfel zu stehn seine wesentliche Bedeutung sei. Welche
Pedanterie, zu meinen, den Menschen verstehe nnr, wer zuvor das Infusorium,
das Insekt und den Frosch verstanden habe: welche Kühnheit, dies zu sagen
im Angesicht von Jahrtausenden menschlicher Geschichte, in deren langem Ver¬
lauf alle Bedeutung des menschlichen Daseins in leidenschaftlichem Ringen ohne
Zweifel tausendfach empfunden worden ist! Und doch haben gewiß die Helden,
die in den Streit zogen, sich dabei nicht als die obersten der Säugetiere
gewußt." Damit soll der Kenntnis des Tierlebens nicht jede praktische Be¬
deutung für die Seelenkunde abgesprochen werden. Zwar wenn Herbart öfters


Zur Psychologie und Anthropologie

vollen Schatzkammer, die wir Gedächtnis nennen, geduldig wartet, bis wir es.
immer eins nach dem andern, je nachdem wir es brauchen, ins Licht des Be¬
wußtseins aufsteigen heißen; und manches kommt jahrelang weder gerufen noch
ungerufen, zeigt sich dann aber unerwartet einmal und beweist dadurch, daß
es die ganze Zeit über da gewesen ist. Wo aber?

In einer Hirnzelle, antwortet die moderne Anthropologie. Und sie hat
ja auch noch auf viele andre der Fragen, die schon die Alten aufgeworfen
haben, Antworten gefunden und mit Hilfe der Naturwissenschaften einerseits,
der metaphysischen Spekulation andrerseits eine sehr reich ausgestattete Psycho¬
logie aufgebaut. Aber während die Bedeutung der modernen Naturwissenschaft
in den wunderbaren technischen Leistungen liegt, zu denen sie befähigt, und
durch die sie im neunzehnten Jahrhundert das Antlitz der Erde umgestaltet hat,
übt die Wissenschaft von der Seele keinerlei praktische Wirkungen aus, oder
»ur so geringfügige, daß sie im großen und ganzen nicht gespürt werden. Die
modernen Staatsmänner und Demagogen haben nicht mehr Macht über die
Gemüter und verstehn die Kunst der Seelenleitnng nicht besser als die alten,
und weder die Herren Dieterich Hahn und Rusland, noch Bebel und Jaures
verdanken ihre Erfolge dem Studium der Biologie, die uns angeblich den
Mechanismus der Seele erklären soll, und wenn sie ihr Versprechen zu er¬
füllen vermochte, uns doch auch schou gezeigt haben würde, wie man ihn hand¬
haben kann. Wenn aber die Pädagogik entschieden Fortschritte gemacht hat,
so ist das vorzugsweise Männern zu verdanken, die von den materialistischen
Erklnrnngswcisen nichts wußten oder sie ablehnten. Herbart z. B. erklärt alles
aus dem Mechanismus der Seele selbst, die er für ein unräumliches, unkörper¬
liches, einfaches Wesen hält. Es ist ja ganz interessant, daß uns die moderne
Physiologie Ermüdungsstoffe in, Gehirn nachweist, aber die Thatsache der Er¬
müdung infolge anhaltender gespannter Aufmerksamkeit ist von jeher bekannt
gewesen, und die Schulmeister der ältern Zeit haben an ihrem eignen Leibe
die Erfahrung gemacht, daß man bei einer langweiligen Predigt einschläft;
wenn sie daraus keine Schlüsse auf ihre Schüler gezogen haben, so war daran
nicht ihre mangelhafte Natnrerkenntnis, sondern ihre Roheit, Gewissenlosigkeit
und Gedankenlosigkeit schuld. Lotze schreibt: „Nur eine Karikatur des Tief¬
sinns ist die oft wiederholte Behauptung, es sei unmöglich, deu Meuscheu
vollkommen zu kennen, ohne alle die tiefern Glieder der Tierreiche durchschaut
zu haben, an deren Gipfel zu stehn seine wesentliche Bedeutung sei. Welche
Pedanterie, zu meinen, den Menschen verstehe nnr, wer zuvor das Infusorium,
das Insekt und den Frosch verstanden habe: welche Kühnheit, dies zu sagen
im Angesicht von Jahrtausenden menschlicher Geschichte, in deren langem Ver¬
lauf alle Bedeutung des menschlichen Daseins in leidenschaftlichem Ringen ohne
Zweifel tausendfach empfunden worden ist! Und doch haben gewiß die Helden,
die in den Streit zogen, sich dabei nicht als die obersten der Säugetiere
gewußt." Damit soll der Kenntnis des Tierlebens nicht jede praktische Be¬
deutung für die Seelenkunde abgesprochen werden. Zwar wenn Herbart öfters


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[0027] Zur Psychologie und Anthropologie vollen Schatzkammer, die wir Gedächtnis nennen, geduldig wartet, bis wir es. immer eins nach dem andern, je nachdem wir es brauchen, ins Licht des Be¬ wußtseins aufsteigen heißen; und manches kommt jahrelang weder gerufen noch ungerufen, zeigt sich dann aber unerwartet einmal und beweist dadurch, daß es die ganze Zeit über da gewesen ist. Wo aber? In einer Hirnzelle, antwortet die moderne Anthropologie. Und sie hat ja auch noch auf viele andre der Fragen, die schon die Alten aufgeworfen haben, Antworten gefunden und mit Hilfe der Naturwissenschaften einerseits, der metaphysischen Spekulation andrerseits eine sehr reich ausgestattete Psycho¬ logie aufgebaut. Aber während die Bedeutung der modernen Naturwissenschaft in den wunderbaren technischen Leistungen liegt, zu denen sie befähigt, und durch die sie im neunzehnten Jahrhundert das Antlitz der Erde umgestaltet hat, übt die Wissenschaft von der Seele keinerlei praktische Wirkungen aus, oder »ur so geringfügige, daß sie im großen und ganzen nicht gespürt werden. Die modernen Staatsmänner und Demagogen haben nicht mehr Macht über die Gemüter und verstehn die Kunst der Seelenleitnng nicht besser als die alten, und weder die Herren Dieterich Hahn und Rusland, noch Bebel und Jaures verdanken ihre Erfolge dem Studium der Biologie, die uns angeblich den Mechanismus der Seele erklären soll, und wenn sie ihr Versprechen zu er¬ füllen vermochte, uns doch auch schou gezeigt haben würde, wie man ihn hand¬ haben kann. Wenn aber die Pädagogik entschieden Fortschritte gemacht hat, so ist das vorzugsweise Männern zu verdanken, die von den materialistischen Erklnrnngswcisen nichts wußten oder sie ablehnten. Herbart z. B. erklärt alles aus dem Mechanismus der Seele selbst, die er für ein unräumliches, unkörper¬ liches, einfaches Wesen hält. Es ist ja ganz interessant, daß uns die moderne Physiologie Ermüdungsstoffe in, Gehirn nachweist, aber die Thatsache der Er¬ müdung infolge anhaltender gespannter Aufmerksamkeit ist von jeher bekannt gewesen, und die Schulmeister der ältern Zeit haben an ihrem eignen Leibe die Erfahrung gemacht, daß man bei einer langweiligen Predigt einschläft; wenn sie daraus keine Schlüsse auf ihre Schüler gezogen haben, so war daran nicht ihre mangelhafte Natnrerkenntnis, sondern ihre Roheit, Gewissenlosigkeit und Gedankenlosigkeit schuld. Lotze schreibt: „Nur eine Karikatur des Tief¬ sinns ist die oft wiederholte Behauptung, es sei unmöglich, deu Meuscheu vollkommen zu kennen, ohne alle die tiefern Glieder der Tierreiche durchschaut zu haben, an deren Gipfel zu stehn seine wesentliche Bedeutung sei. Welche Pedanterie, zu meinen, den Menschen verstehe nnr, wer zuvor das Infusorium, das Insekt und den Frosch verstanden habe: welche Kühnheit, dies zu sagen im Angesicht von Jahrtausenden menschlicher Geschichte, in deren langem Ver¬ lauf alle Bedeutung des menschlichen Daseins in leidenschaftlichem Ringen ohne Zweifel tausendfach empfunden worden ist! Und doch haben gewiß die Helden, die in den Streit zogen, sich dabei nicht als die obersten der Säugetiere gewußt." Damit soll der Kenntnis des Tierlebens nicht jede praktische Be¬ deutung für die Seelenkunde abgesprochen werden. Zwar wenn Herbart öfters

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/27>, abgerufen am 22.07.2024.