Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.Friedrich List schiednen Stufen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, Er meine, alle Nationen Friedrich List schiednen Stufen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, Er meine, alle Nationen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0568" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235098"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich List</fw><lb/> <p xml:id="ID_1693" prev="#ID_1692" next="#ID_1694"> schiednen Stufen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, Er meine, alle Nationen<lb/> müßten diese Stufen sämtlich, und zwar in derselben Reihenfolge durchlause»<lb/> und zuletzt beim Agrikultur-Manufakturhandelsstaate anlangen. Das heißt,<lb/> nur alle Staaten der gemäßigten Zone, denn einen Unterschied lasse er aller¬<lb/> dings außer dem der ökonomischen Stufen noch gelten, indem er die Bewohner<lb/> der heißen Zone für unfähig erkläre, Industrie zu betreiben, was übrigens<lb/> falsch sei. Zunächst nnn sei die Stufentheorie anfechtbar, und dann gebe es<lb/> außer dem Stnfenunterschiede viele andre weit wichtigere Unterschiede zwischen<lb/> den Nationen. Diese beiden Einwendungen gegen Lifts Ansicht sind von<lb/> andern gründlicher ausgeführt worden, als es Vrttggemann thut, und gerade<lb/> heute verdiente diese Seite der Sache einmal recht gründlich beleuchtet zu<lb/> werden. Zwar der eine Punkt hat nur ein wissenschaftliches Interesse. Die<lb/> Reihenfolge der Kulturstufen, die List aufstellt: Jäger- und Fischerleben, Hirten¬<lb/> leben, Ackerbau, Ackerbau mit Gewerbe, Ackerbau mit Gewerbe und Handel ist<lb/> allgemein aufgegeben. Jäger- und Fischervölker werden nicht Hirten und Acker¬<lb/> bauer, die alten Kulturvölker der Enphrntebne und des Nilthals siud wahr¬<lb/> scheinlich niemals Nomaden gewesen, und der Handel ist vielfach den Gewerben<lb/> vorangegangen. Aber der andre Punkt ist von großem aktuellen Interesse.<lb/> Bisher hat die scharf ausgeprägte Individualität der Nationen auch ihr Wirt¬<lb/> schaftsleben beherrscht und bestimmt. Wir verstehn, wie England ein Fabrik¬<lb/> land und die Warenfabrik der Welt werden konnte. Denn hier ist Thomas<lb/> Gradgriud zu Hause, der in der Schule die kleine Sissy tadelt, weil sie es<lb/> schön finden würde, wenn sie in ihrer Stube einen Teppich mit Blumen Hütte,<lb/> denn sie würde sich einbilde« — „Aber du darfst dir nichts einbilden! Das<lb/> ists eben, du sollst dir nie etwas einbilden! Thatsachen! Thatsachen! Ihr<lb/> müßt euch in allen Dingen uach Thatsachen und nach der Wirklichkeit richten.<lb/> Binnen kurzem hoffen wir eine Thatsachenkommission zu haben, die das Volk<lb/> zwingt, ein Volk der Thatsachen und nnr der Thatsachen zu werden. In<lb/> keiner Sache, die zum Gebrauch oder zur Verzierung dient, darf etwas vor¬<lb/> kommen, was der Wirklichkeit widerspricht. Ihr geht in der Wirklichkeit nicht<lb/> auf Blumen spazieren, es darf euch also auch nicht erlaubt werden, auf<lb/> Teppichen mit Blumen umherzngehn; ihr seht nie, daß sich ausländische Vögel<lb/> und Schmetterlinge aus eure Tassen lind Krüge setzen, ihr dürft deshalb auch<lb/> keine darauf malen. Ihr seht niemals Pferde die Wände hinauflaufen, darum<lb/> dürfen auch keine um die Wand gemalt werden." Wir verstehn vollkommen,<lb/> daß die Italiener, die sich sehr viel einbilden, lieber Mosaiken und Gipsfiguren<lb/> anfertigen als Kattun weben. Wir verstehn, daß die Pariser geschickter sind<lb/> in der Erfindung von Dmueuhüten als im Bierbrauen. Wir verstehn, daß<lb/> die Landsleute Don Quixotes einen Torero oder einen Maler von Heiligen¬<lb/> bildern mit Marter- und Kasteiungsszeuen höher schätzen als einen erfolgreichen<lb/> Fabrikanten, und wir finden diese Mannigfaltigkeit der Nativnalcharciktere<lb/> natürlich und schön. Die Sozialdemokratie aber hält, ganz so wie List, alle<lb/> Länder, die nicht dasselbe Bild darbieten wie England, für rückständig und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0568]
Friedrich List
schiednen Stufen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, Er meine, alle Nationen
müßten diese Stufen sämtlich, und zwar in derselben Reihenfolge durchlause»
und zuletzt beim Agrikultur-Manufakturhandelsstaate anlangen. Das heißt,
nur alle Staaten der gemäßigten Zone, denn einen Unterschied lasse er aller¬
dings außer dem der ökonomischen Stufen noch gelten, indem er die Bewohner
der heißen Zone für unfähig erkläre, Industrie zu betreiben, was übrigens
falsch sei. Zunächst nnn sei die Stufentheorie anfechtbar, und dann gebe es
außer dem Stnfenunterschiede viele andre weit wichtigere Unterschiede zwischen
den Nationen. Diese beiden Einwendungen gegen Lifts Ansicht sind von
andern gründlicher ausgeführt worden, als es Vrttggemann thut, und gerade
heute verdiente diese Seite der Sache einmal recht gründlich beleuchtet zu
werden. Zwar der eine Punkt hat nur ein wissenschaftliches Interesse. Die
Reihenfolge der Kulturstufen, die List aufstellt: Jäger- und Fischerleben, Hirten¬
leben, Ackerbau, Ackerbau mit Gewerbe, Ackerbau mit Gewerbe und Handel ist
allgemein aufgegeben. Jäger- und Fischervölker werden nicht Hirten und Acker¬
bauer, die alten Kulturvölker der Enphrntebne und des Nilthals siud wahr¬
scheinlich niemals Nomaden gewesen, und der Handel ist vielfach den Gewerben
vorangegangen. Aber der andre Punkt ist von großem aktuellen Interesse.
Bisher hat die scharf ausgeprägte Individualität der Nationen auch ihr Wirt¬
schaftsleben beherrscht und bestimmt. Wir verstehn, wie England ein Fabrik¬
land und die Warenfabrik der Welt werden konnte. Denn hier ist Thomas
Gradgriud zu Hause, der in der Schule die kleine Sissy tadelt, weil sie es
schön finden würde, wenn sie in ihrer Stube einen Teppich mit Blumen Hütte,
denn sie würde sich einbilde« — „Aber du darfst dir nichts einbilden! Das
ists eben, du sollst dir nie etwas einbilden! Thatsachen! Thatsachen! Ihr
müßt euch in allen Dingen uach Thatsachen und nach der Wirklichkeit richten.
Binnen kurzem hoffen wir eine Thatsachenkommission zu haben, die das Volk
zwingt, ein Volk der Thatsachen und nnr der Thatsachen zu werden. In
keiner Sache, die zum Gebrauch oder zur Verzierung dient, darf etwas vor¬
kommen, was der Wirklichkeit widerspricht. Ihr geht in der Wirklichkeit nicht
auf Blumen spazieren, es darf euch also auch nicht erlaubt werden, auf
Teppichen mit Blumen umherzngehn; ihr seht nie, daß sich ausländische Vögel
und Schmetterlinge aus eure Tassen lind Krüge setzen, ihr dürft deshalb auch
keine darauf malen. Ihr seht niemals Pferde die Wände hinauflaufen, darum
dürfen auch keine um die Wand gemalt werden." Wir verstehn vollkommen,
daß die Italiener, die sich sehr viel einbilden, lieber Mosaiken und Gipsfiguren
anfertigen als Kattun weben. Wir verstehn, daß die Pariser geschickter sind
in der Erfindung von Dmueuhüten als im Bierbrauen. Wir verstehn, daß
die Landsleute Don Quixotes einen Torero oder einen Maler von Heiligen¬
bildern mit Marter- und Kasteiungsszeuen höher schätzen als einen erfolgreichen
Fabrikanten, und wir finden diese Mannigfaltigkeit der Nativnalcharciktere
natürlich und schön. Die Sozialdemokratie aber hält, ganz so wie List, alle
Länder, die nicht dasselbe Bild darbieten wie England, für rückständig und
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |