Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

deshalb komme ihm kein andres Volk an Gedankentiefe und Umfang der Ge¬
lehrsamkeit gleich.

Und eben diese deutsche Wissenschaft erhebe gegen Adam Smith ganz
dieselben Vorwürfe, die List in seinem Buche ausgesprochen habe, aber in
einem ganz andern Sinne, den der unphilosophische Schutzzollprediger gar
nicht verstehe. Als Hauptrcprüsentcmten der deutschen Staatswissenschaft führt
er Adam Müller an, von dessen Lehren die Polemik Lifts gegen Smith nur
eine schlechte Kopie sei. Beide werfen Smith seinen Kosmopolitismus, seinen
Materialismus und seinen desorganisiereudeu Individualismus vor. Aber
Lifts Nationalitätsbegriff sei von dem des audi-endümonistischen Müller grund¬
verschieden, und List sei nicht weniger Individualist als Smith. Gleich diesem
gelte ihm die körperliche und die geistige Wohlfahrt der Individuen als höchster
Zweck der Volkswirtschaft und des Staates; Staat, Gesellschaft, National¬
ökonomie seien ihm nur Mittel für die Individuen. In diesem Sinne wisse
auch Smith den Staat gar wohl zu schützen, und er stelle ausdrücklich das,
was List die Gesamtheit der produktiven Kräfte nenne, die Macht des Staates
über den Reichtum, über die Gesamtheit der Tauschwerte der Individuen. Der
ganze Unterschied zwischen List und Smith beschränke sich darauf, daß jeuer
die Schutzzölle für ein Mittel zur Machterhöhung ansehe, dieser nicht. Müller
dagegen stelle die Vereinigung, die Gesamtheit als den Zweck hin, dem die
Einzelnen dienen müßten, diese seien - nach Kant-Fichtischen Grundsätzen --
nur insoweit als Selbstzweck zu behandeln, als sie sittlich frei oder wenigstens
nach sittlicher Freiheit z" streben fähig seien. Müller sage vollkommen richtig:
"Alle gemeinen Seckel, reden in unsern Tagen von einem gewissen Glück und
Wohlsein der Menschheit, das der Zweck aller Stnatsoperntionen sein müsse.
Aber in dem Worte Menschheit liegt ein schlimmer Doppelsinn: die Menschheit
kaun etwas Erhabnes, aber auch ein höchst Nichtswürdiges sein. Die Menschheit,
sofern sie bloß die Summe der gerade jetzt sich herumtreibenden Individuen
ist, ihren Plänen und Wünschen gemäß glücklich zu machen, ist ein elender
Zweck. Der große Hause unsrer Stantshandbncher hat gar nichts Höheres
im Auge, als ein unaufhörliches Beispriugen in der Not und für die Wünsche
des Einzelnen. Mer urteilt doch auch Brüggemanns höchste und verehrteste
Autorität recht abfällig über die deutsche Staatswissenschaft seiner Zeit.j Zum
Glück hat sich gerade in unsern Tagen suum gar erst in unsern!j die Not in
so viele einander widersprechende Formen ausgeprägt, und haben die Wünsche
der Individuen eine so gänzlich einander aufhebende und zerstörende Richtung
bekommen, daß dieses gemeine Bestreben des Staatshandwerkers von selbst
auf die Seite geschafft wird." Daß aber der Staatshandwerker selbst auf die
Seite geschafft wird, wenn er gar zu viel Wünsche unbefriedigt läßt, wie
Müller doch von 1789 her wußte, daran scheint er, als er das schrieb, nicht
gedacht zu haben.

Wie wenig List verstehe, was Nationalität sei, gehe schon daraus hervor,
daß er keinen andern Unterschied zwischen den Völkern kenne, als den der ver-


deshalb komme ihm kein andres Volk an Gedankentiefe und Umfang der Ge¬
lehrsamkeit gleich.

Und eben diese deutsche Wissenschaft erhebe gegen Adam Smith ganz
dieselben Vorwürfe, die List in seinem Buche ausgesprochen habe, aber in
einem ganz andern Sinne, den der unphilosophische Schutzzollprediger gar
nicht verstehe. Als Hauptrcprüsentcmten der deutschen Staatswissenschaft führt
er Adam Müller an, von dessen Lehren die Polemik Lifts gegen Smith nur
eine schlechte Kopie sei. Beide werfen Smith seinen Kosmopolitismus, seinen
Materialismus und seinen desorganisiereudeu Individualismus vor. Aber
Lifts Nationalitätsbegriff sei von dem des audi-endümonistischen Müller grund¬
verschieden, und List sei nicht weniger Individualist als Smith. Gleich diesem
gelte ihm die körperliche und die geistige Wohlfahrt der Individuen als höchster
Zweck der Volkswirtschaft und des Staates; Staat, Gesellschaft, National¬
ökonomie seien ihm nur Mittel für die Individuen. In diesem Sinne wisse
auch Smith den Staat gar wohl zu schützen, und er stelle ausdrücklich das,
was List die Gesamtheit der produktiven Kräfte nenne, die Macht des Staates
über den Reichtum, über die Gesamtheit der Tauschwerte der Individuen. Der
ganze Unterschied zwischen List und Smith beschränke sich darauf, daß jeuer
die Schutzzölle für ein Mittel zur Machterhöhung ansehe, dieser nicht. Müller
dagegen stelle die Vereinigung, die Gesamtheit als den Zweck hin, dem die
Einzelnen dienen müßten, diese seien - nach Kant-Fichtischen Grundsätzen —
nur insoweit als Selbstzweck zu behandeln, als sie sittlich frei oder wenigstens
nach sittlicher Freiheit z» streben fähig seien. Müller sage vollkommen richtig:
„Alle gemeinen Seckel, reden in unsern Tagen von einem gewissen Glück und
Wohlsein der Menschheit, das der Zweck aller Stnatsoperntionen sein müsse.
Aber in dem Worte Menschheit liegt ein schlimmer Doppelsinn: die Menschheit
kaun etwas Erhabnes, aber auch ein höchst Nichtswürdiges sein. Die Menschheit,
sofern sie bloß die Summe der gerade jetzt sich herumtreibenden Individuen
ist, ihren Plänen und Wünschen gemäß glücklich zu machen, ist ein elender
Zweck. Der große Hause unsrer Stantshandbncher hat gar nichts Höheres
im Auge, als ein unaufhörliches Beispriugen in der Not und für die Wünsche
des Einzelnen. Mer urteilt doch auch Brüggemanns höchste und verehrteste
Autorität recht abfällig über die deutsche Staatswissenschaft seiner Zeit.j Zum
Glück hat sich gerade in unsern Tagen suum gar erst in unsern!j die Not in
so viele einander widersprechende Formen ausgeprägt, und haben die Wünsche
der Individuen eine so gänzlich einander aufhebende und zerstörende Richtung
bekommen, daß dieses gemeine Bestreben des Staatshandwerkers von selbst
auf die Seite geschafft wird." Daß aber der Staatshandwerker selbst auf die
Seite geschafft wird, wenn er gar zu viel Wünsche unbefriedigt läßt, wie
Müller doch von 1789 her wußte, daran scheint er, als er das schrieb, nicht
gedacht zu haben.

Wie wenig List verstehe, was Nationalität sei, gehe schon daraus hervor,
daß er keinen andern Unterschied zwischen den Völkern kenne, als den der ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0567" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235097"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1690" prev="#ID_1689"> deshalb komme ihm kein andres Volk an Gedankentiefe und Umfang der Ge¬<lb/>
lehrsamkeit gleich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1691"> Und eben diese deutsche Wissenschaft erhebe gegen Adam Smith ganz<lb/>
dieselben Vorwürfe, die List in seinem Buche ausgesprochen habe, aber in<lb/>
einem ganz andern Sinne, den der unphilosophische Schutzzollprediger gar<lb/>
nicht verstehe. Als Hauptrcprüsentcmten der deutschen Staatswissenschaft führt<lb/>
er Adam Müller an, von dessen Lehren die Polemik Lifts gegen Smith nur<lb/>
eine schlechte Kopie sei. Beide werfen Smith seinen Kosmopolitismus, seinen<lb/>
Materialismus und seinen desorganisiereudeu Individualismus vor. Aber<lb/>
Lifts Nationalitätsbegriff sei von dem des audi-endümonistischen Müller grund¬<lb/>
verschieden, und List sei nicht weniger Individualist als Smith. Gleich diesem<lb/>
gelte ihm die körperliche und die geistige Wohlfahrt der Individuen als höchster<lb/>
Zweck der Volkswirtschaft und des Staates; Staat, Gesellschaft, National¬<lb/>
ökonomie seien ihm nur Mittel für die Individuen. In diesem Sinne wisse<lb/>
auch Smith den Staat gar wohl zu schützen, und er stelle ausdrücklich das,<lb/>
was List die Gesamtheit der produktiven Kräfte nenne, die Macht des Staates<lb/>
über den Reichtum, über die Gesamtheit der Tauschwerte der Individuen. Der<lb/>
ganze Unterschied zwischen List und Smith beschränke sich darauf, daß jeuer<lb/>
die Schutzzölle für ein Mittel zur Machterhöhung ansehe, dieser nicht. Müller<lb/>
dagegen stelle die Vereinigung, die Gesamtheit als den Zweck hin, dem die<lb/>
Einzelnen dienen müßten, diese seien - nach Kant-Fichtischen Grundsätzen &#x2014;<lb/>
nur insoweit als Selbstzweck zu behandeln, als sie sittlich frei oder wenigstens<lb/>
nach sittlicher Freiheit z» streben fähig seien. Müller sage vollkommen richtig:<lb/>
&#x201E;Alle gemeinen Seckel, reden in unsern Tagen von einem gewissen Glück und<lb/>
Wohlsein der Menschheit, das der Zweck aller Stnatsoperntionen sein müsse.<lb/>
Aber in dem Worte Menschheit liegt ein schlimmer Doppelsinn: die Menschheit<lb/>
kaun etwas Erhabnes, aber auch ein höchst Nichtswürdiges sein. Die Menschheit,<lb/>
sofern sie bloß die Summe der gerade jetzt sich herumtreibenden Individuen<lb/>
ist, ihren Plänen und Wünschen gemäß glücklich zu machen, ist ein elender<lb/>
Zweck. Der große Hause unsrer Stantshandbncher hat gar nichts Höheres<lb/>
im Auge, als ein unaufhörliches Beispriugen in der Not und für die Wünsche<lb/>
des Einzelnen. Mer urteilt doch auch Brüggemanns höchste und verehrteste<lb/>
Autorität recht abfällig über die deutsche Staatswissenschaft seiner Zeit.j Zum<lb/>
Glück hat sich gerade in unsern Tagen suum gar erst in unsern!j die Not in<lb/>
so viele einander widersprechende Formen ausgeprägt, und haben die Wünsche<lb/>
der Individuen eine so gänzlich einander aufhebende und zerstörende Richtung<lb/>
bekommen, daß dieses gemeine Bestreben des Staatshandwerkers von selbst<lb/>
auf die Seite geschafft wird." Daß aber der Staatshandwerker selbst auf die<lb/>
Seite geschafft wird, wenn er gar zu viel Wünsche unbefriedigt läßt, wie<lb/>
Müller doch von 1789 her wußte, daran scheint er, als er das schrieb, nicht<lb/>
gedacht zu haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1692" next="#ID_1693"> Wie wenig List verstehe, was Nationalität sei, gehe schon daraus hervor,<lb/>
daß er keinen andern Unterschied zwischen den Völkern kenne, als den der ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0567] deshalb komme ihm kein andres Volk an Gedankentiefe und Umfang der Ge¬ lehrsamkeit gleich. Und eben diese deutsche Wissenschaft erhebe gegen Adam Smith ganz dieselben Vorwürfe, die List in seinem Buche ausgesprochen habe, aber in einem ganz andern Sinne, den der unphilosophische Schutzzollprediger gar nicht verstehe. Als Hauptrcprüsentcmten der deutschen Staatswissenschaft führt er Adam Müller an, von dessen Lehren die Polemik Lifts gegen Smith nur eine schlechte Kopie sei. Beide werfen Smith seinen Kosmopolitismus, seinen Materialismus und seinen desorganisiereudeu Individualismus vor. Aber Lifts Nationalitätsbegriff sei von dem des audi-endümonistischen Müller grund¬ verschieden, und List sei nicht weniger Individualist als Smith. Gleich diesem gelte ihm die körperliche und die geistige Wohlfahrt der Individuen als höchster Zweck der Volkswirtschaft und des Staates; Staat, Gesellschaft, National¬ ökonomie seien ihm nur Mittel für die Individuen. In diesem Sinne wisse auch Smith den Staat gar wohl zu schützen, und er stelle ausdrücklich das, was List die Gesamtheit der produktiven Kräfte nenne, die Macht des Staates über den Reichtum, über die Gesamtheit der Tauschwerte der Individuen. Der ganze Unterschied zwischen List und Smith beschränke sich darauf, daß jeuer die Schutzzölle für ein Mittel zur Machterhöhung ansehe, dieser nicht. Müller dagegen stelle die Vereinigung, die Gesamtheit als den Zweck hin, dem die Einzelnen dienen müßten, diese seien - nach Kant-Fichtischen Grundsätzen — nur insoweit als Selbstzweck zu behandeln, als sie sittlich frei oder wenigstens nach sittlicher Freiheit z» streben fähig seien. Müller sage vollkommen richtig: „Alle gemeinen Seckel, reden in unsern Tagen von einem gewissen Glück und Wohlsein der Menschheit, das der Zweck aller Stnatsoperntionen sein müsse. Aber in dem Worte Menschheit liegt ein schlimmer Doppelsinn: die Menschheit kaun etwas Erhabnes, aber auch ein höchst Nichtswürdiges sein. Die Menschheit, sofern sie bloß die Summe der gerade jetzt sich herumtreibenden Individuen ist, ihren Plänen und Wünschen gemäß glücklich zu machen, ist ein elender Zweck. Der große Hause unsrer Stantshandbncher hat gar nichts Höheres im Auge, als ein unaufhörliches Beispriugen in der Not und für die Wünsche des Einzelnen. Mer urteilt doch auch Brüggemanns höchste und verehrteste Autorität recht abfällig über die deutsche Staatswissenschaft seiner Zeit.j Zum Glück hat sich gerade in unsern Tagen suum gar erst in unsern!j die Not in so viele einander widersprechende Formen ausgeprägt, und haben die Wünsche der Individuen eine so gänzlich einander aufhebende und zerstörende Richtung bekommen, daß dieses gemeine Bestreben des Staatshandwerkers von selbst auf die Seite geschafft wird." Daß aber der Staatshandwerker selbst auf die Seite geschafft wird, wenn er gar zu viel Wünsche unbefriedigt läßt, wie Müller doch von 1789 her wußte, daran scheint er, als er das schrieb, nicht gedacht zu haben. Wie wenig List verstehe, was Nationalität sei, gehe schon daraus hervor, daß er keinen andern Unterschied zwischen den Völkern kenne, als den der ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/567
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/567>, abgerufen am 22.07.2024.