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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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das Prvletaricit zu erbittern vermag, das sollte Adolf Wagner recht genau
studieren, ehe er die sozialen Splitter in Stadt und Industrie mehr agitatorisch
als wissenschaftlich hervorhebt und die Balken im ländlichen Arbeitsverhältnis
totschweigt. Wenn die Herren Kathedersvzialisten agrarischer Färbung auch
nur deu hundertsten Teil der nrbeiterfreundlichen Gründlichkeit auf die Er¬
forschung und Darstellung der ländlichen Zustände verwenden wollten, wie auf
die städtischen, so würde wohl much in dieser Beziehung die Regierung ihr
>-überall ör eher aufgeben. Nicht Leichtsinn und Vergnügungssucht verleitet
die jungen Leute, nach der Militürzeit in der Stadt zu bleibe". Erst bei der
Fahne haben sie meist etwas auf sich halten und den Wert einer bei aller
Strenge gesicherten persönlichen Nechtssphüre schätzen lernen. Erst hier haben
sie staunend erlebt, daß Herren von Rang und Namen, fast noch hoher als
der Herr "Leutnant" ans dem Gut oder der gnädige Herr und der Herr In¬
spektor oder gar der Bauer zu Hause wirklich sogar Ehrgefühl bei ihnen
voraussetzten, ganz ernstlich daran glaubten und es geschont wissen wollten.
Das sind für diese Leute ganz außerordentliche Erfahrungen und Eindrücke,
deren Wert dnrch alle die bekannten Sammlungen wahrer und unwahrer
Soldateninißhandlnngsgeschichten auch nicht im geringsten getrübt wird. Wahr¬
haftig, die Leute, die des .Königs Rock mit Borten und mit Ehren zwei Jahre
getragen haben, müssen nur zu oft die Rückkehr in die Stellung des Bauern-
und Hofknechts, wie die Sachen liegen, als uuter ihrer Würde betrachten.
Solchen Thatsachen gegenüber, wie sie die Geschichte der zunehmenden Land¬
flucht in den letzten Jahrzehnten uns vor Augen führt, ist weiteres Vertuschen
dieses Zustands die größte Dummheit. Die Leute laufen fort, weil sich zu
Hanse nicht mehr aushalten. Das ist im großen und ganzen die Wahrheit,
die zur Anerkennung gebracht werden muß.

Auf das allerschärfste muß dann zweitens die Irrlehre zurückgewiesen
werdeu, als ob sich für deutsche Landarbeiter und kleine Landstellenbesitzer
in unsern Ostprovinzeu "ach einem wirtschaftlichen "Naturgesetz" überhaupt nicht
mehr solche Lebensbedingungen schaffen ließen, daß sie trotz berechtigter höherer
sozialer Ansprüche in der alten Heimat und im alten Beruf nushaltcu könnten.
Die Beschwerde!,, die ihnen die Heimat verleiden, die ihnen schon seit lange
das Heimatgefühl geraubt haben, und die sie seit drei Jahrzehnten in zu¬
nehmendem Maße in die Stadt und in die Industrie treiben, sind keine un¬
überwindlichen Naturgewalten, sondern historisch gewordne Mißstände, aller¬
dings sehr komplizierter Art, die man leider, wie das oft in der Geschichte
geschehn ist, hat einreißen lassen, bis die Not ans die Nägel brennt. Sie
können aber beseitigt werden und müssen und werden auch beseitigt werden,
wenn kein Ausweg, keine Hinterthür mehr offen steht, durch die nun sich der
schwierigen Aufgabe länger entziehn kann. Leider schielt man noch immer
nach solchen ganz unbrauchbaren Hinterthüren.

Eine Illusion, wie sie die Agitation und der Parteikampf brauchen, ist es
natürlich, wem, mau sich einredet, das bischen Zollerhöhuug, das überhaupt


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das Prvletaricit zu erbittern vermag, das sollte Adolf Wagner recht genau
studieren, ehe er die sozialen Splitter in Stadt und Industrie mehr agitatorisch
als wissenschaftlich hervorhebt und die Balken im ländlichen Arbeitsverhältnis
totschweigt. Wenn die Herren Kathedersvzialisten agrarischer Färbung auch
nur deu hundertsten Teil der nrbeiterfreundlichen Gründlichkeit auf die Er¬
forschung und Darstellung der ländlichen Zustände verwenden wollten, wie auf
die städtischen, so würde wohl much in dieser Beziehung die Regierung ihr
>-überall ör eher aufgeben. Nicht Leichtsinn und Vergnügungssucht verleitet
die jungen Leute, nach der Militürzeit in der Stadt zu bleibe». Erst bei der
Fahne haben sie meist etwas auf sich halten und den Wert einer bei aller
Strenge gesicherten persönlichen Nechtssphüre schätzen lernen. Erst hier haben
sie staunend erlebt, daß Herren von Rang und Namen, fast noch hoher als
der Herr „Leutnant" ans dem Gut oder der gnädige Herr und der Herr In¬
spektor oder gar der Bauer zu Hause wirklich sogar Ehrgefühl bei ihnen
voraussetzten, ganz ernstlich daran glaubten und es geschont wissen wollten.
Das sind für diese Leute ganz außerordentliche Erfahrungen und Eindrücke,
deren Wert dnrch alle die bekannten Sammlungen wahrer und unwahrer
Soldateninißhandlnngsgeschichten auch nicht im geringsten getrübt wird. Wahr¬
haftig, die Leute, die des .Königs Rock mit Borten und mit Ehren zwei Jahre
getragen haben, müssen nur zu oft die Rückkehr in die Stellung des Bauern-
und Hofknechts, wie die Sachen liegen, als uuter ihrer Würde betrachten.
Solchen Thatsachen gegenüber, wie sie die Geschichte der zunehmenden Land¬
flucht in den letzten Jahrzehnten uns vor Augen führt, ist weiteres Vertuschen
dieses Zustands die größte Dummheit. Die Leute laufen fort, weil sich zu
Hanse nicht mehr aushalten. Das ist im großen und ganzen die Wahrheit,
die zur Anerkennung gebracht werden muß.

Auf das allerschärfste muß dann zweitens die Irrlehre zurückgewiesen
werdeu, als ob sich für deutsche Landarbeiter und kleine Landstellenbesitzer
in unsern Ostprovinzeu »ach einem wirtschaftlichen „Naturgesetz" überhaupt nicht
mehr solche Lebensbedingungen schaffen ließen, daß sie trotz berechtigter höherer
sozialer Ansprüche in der alten Heimat und im alten Beruf nushaltcu könnten.
Die Beschwerde!,, die ihnen die Heimat verleiden, die ihnen schon seit lange
das Heimatgefühl geraubt haben, und die sie seit drei Jahrzehnten in zu¬
nehmendem Maße in die Stadt und in die Industrie treiben, sind keine un¬
überwindlichen Naturgewalten, sondern historisch gewordne Mißstände, aller¬
dings sehr komplizierter Art, die man leider, wie das oft in der Geschichte
geschehn ist, hat einreißen lassen, bis die Not ans die Nägel brennt. Sie
können aber beseitigt werden und müssen und werden auch beseitigt werden,
wenn kein Ausweg, keine Hinterthür mehr offen steht, durch die nun sich der
schwierigen Aufgabe länger entziehn kann. Leider schielt man noch immer
nach solchen ganz unbrauchbaren Hinterthüren.

Eine Illusion, wie sie die Agitation und der Parteikampf brauchen, ist es
natürlich, wem, mau sich einredet, das bischen Zollerhöhuug, das überhaupt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/559>, abgerufen am 22.07.2024.