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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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stehenden Mitteln in demselben "sozialen" Sinne, den man in der Stadt be¬
thätigt, zu reformieren.

Es ist schon kurz darauf hingewiesen worden, daß der linke Flügel der
kathedersozialistischen Nationalökonomen, namentlich auch Rauchberg in seinem
Buch über die deutsche Berufs- und Gewerbezählung von 1895, die Landflucht
viel zu leicht zu nehmen scheint. Rauchberg sagt dort unter anderm, die
Stadtbevölkerung habe von 1882 bis 1895 zwar um 6893 788 Personen oder
36,47 Prozent zugenommen, die Bevölkerung des flachen Landes dagegen um
345617 Personen oder 1,31 Prozent abgenommen. Diese Abnahme sei aber
nur scheinbar und dadurch hervorgerufen, daß die Wohnplätze, die die kritische
Einwohnerzahl von 2000 überschritten, hätten, aus der Kategorie der Landorte
ausschieden und fortab von der Statistik zu den städtischen Wohnplützen ge¬
rechnet würden. Das gleiche gelte auch von den weitern Verschiebungen nach
oben hin. Von einer allgemeinen Landflucht oder drohenden Entvölkerung
des Platten Landes durch den Zug nach der Stadt könne demnach absolut
nicht die Rede sein. Das gehe auch Scherr daraus hervor, daß von den gering¬
fügigen Ausnahmen in den Regierungsbezirken Kostin, Sigmaringen und Jagst-
kreis abgesehen, 1882 bis 1895 nirgends (!) im Deutschen Reich eine Abnahme
der Bevölkerung stattgefunden habe. Die "Landflucht" sei ein agrarisches
Märchen. Das ist eine sehr unvorsichtige Behauptung, wie man sie wohl
einem so phantasiereichen Nationalökonomen wie Brentano zutrauen könnte,
aber niemals einem Statistiker von Fach wie Rauchberg verzeihen kann.

Die Landflucht ist in den preußischen Ostprovinzen keine neue Erscheinung.
Schon in den sechziger und siebziger Jahren wurde darüber von sachkundigen
Landwirten, Beamten und Gelehrten viel gesprochen und geschrieben. Freilich
zogen die Landflüchtigen damals zu einem weit größer" Teile ins Ausland als
heute, und die starke Abwandrung, die erst begann, verursachte natürlich damals
zunächst keinen so fühlbaren Arbeitermnngel in der Landwirtschaft und so sicht¬
bare Lücken in der Landbevölkerung wie jetzt, nachdem sie ein Menschenalter
angedauert hat. Ganz zeitgemäß hat nenerdings der Abgeordnete Gothein in
einem sonst gerade nicht durch wissenschaftliche Selbständigkeit lind Zuverlässig¬
keit hervorragenden Buche über deu deutschen Außenhandels nu diese Landflucht
vor dreißig Jahren erinnert, indem er einige Zahlen über den Rückgang der
Bevölkerung in den preußischen Landgemeinden der Ostprovinzen von 1867
bis 1875 aus der amtlichen Statistik reproduzierte. Allein in Schlesien wiesen
damals dreißig Kreise eine zum Teil starke Entvölkerung der Landgemeinden
auf, in Brandenburg dreizehn Kreise, in Pommern zwanzig usw. Seit 1880 ist
dann die Abwandrung vom Lande aufs neue stark in Fluß gekommen. Wie
der jüngst veröffentlichte amtliche Bericht über die vorläufigen Ergebnisse der
Volkszählung vom 1. Dezember 1900 im Königreich Preußen mitteilt, war in
den einzelnen Provinzen die Zahl der Kreise, die in dem vorhergehenden



*) Berlin, Som'moves und Troschel, I9V1.
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stehenden Mitteln in demselben „sozialen" Sinne, den man in der Stadt be¬
thätigt, zu reformieren.

Es ist schon kurz darauf hingewiesen worden, daß der linke Flügel der
kathedersozialistischen Nationalökonomen, namentlich auch Rauchberg in seinem
Buch über die deutsche Berufs- und Gewerbezählung von 1895, die Landflucht
viel zu leicht zu nehmen scheint. Rauchberg sagt dort unter anderm, die
Stadtbevölkerung habe von 1882 bis 1895 zwar um 6893 788 Personen oder
36,47 Prozent zugenommen, die Bevölkerung des flachen Landes dagegen um
345617 Personen oder 1,31 Prozent abgenommen. Diese Abnahme sei aber
nur scheinbar und dadurch hervorgerufen, daß die Wohnplätze, die die kritische
Einwohnerzahl von 2000 überschritten, hätten, aus der Kategorie der Landorte
ausschieden und fortab von der Statistik zu den städtischen Wohnplützen ge¬
rechnet würden. Das gleiche gelte auch von den weitern Verschiebungen nach
oben hin. Von einer allgemeinen Landflucht oder drohenden Entvölkerung
des Platten Landes durch den Zug nach der Stadt könne demnach absolut
nicht die Rede sein. Das gehe auch Scherr daraus hervor, daß von den gering¬
fügigen Ausnahmen in den Regierungsbezirken Kostin, Sigmaringen und Jagst-
kreis abgesehen, 1882 bis 1895 nirgends (!) im Deutschen Reich eine Abnahme
der Bevölkerung stattgefunden habe. Die „Landflucht" sei ein agrarisches
Märchen. Das ist eine sehr unvorsichtige Behauptung, wie man sie wohl
einem so phantasiereichen Nationalökonomen wie Brentano zutrauen könnte,
aber niemals einem Statistiker von Fach wie Rauchberg verzeihen kann.

Die Landflucht ist in den preußischen Ostprovinzen keine neue Erscheinung.
Schon in den sechziger und siebziger Jahren wurde darüber von sachkundigen
Landwirten, Beamten und Gelehrten viel gesprochen und geschrieben. Freilich
zogen die Landflüchtigen damals zu einem weit größer» Teile ins Ausland als
heute, und die starke Abwandrung, die erst begann, verursachte natürlich damals
zunächst keinen so fühlbaren Arbeitermnngel in der Landwirtschaft und so sicht¬
bare Lücken in der Landbevölkerung wie jetzt, nachdem sie ein Menschenalter
angedauert hat. Ganz zeitgemäß hat nenerdings der Abgeordnete Gothein in
einem sonst gerade nicht durch wissenschaftliche Selbständigkeit lind Zuverlässig¬
keit hervorragenden Buche über deu deutschen Außenhandels nu diese Landflucht
vor dreißig Jahren erinnert, indem er einige Zahlen über den Rückgang der
Bevölkerung in den preußischen Landgemeinden der Ostprovinzen von 1867
bis 1875 aus der amtlichen Statistik reproduzierte. Allein in Schlesien wiesen
damals dreißig Kreise eine zum Teil starke Entvölkerung der Landgemeinden
auf, in Brandenburg dreizehn Kreise, in Pommern zwanzig usw. Seit 1880 ist
dann die Abwandrung vom Lande aufs neue stark in Fluß gekommen. Wie
der jüngst veröffentlichte amtliche Bericht über die vorläufigen Ergebnisse der
Volkszählung vom 1. Dezember 1900 im Königreich Preußen mitteilt, war in
den einzelnen Provinzen die Zahl der Kreise, die in dem vorhergehenden



*) Berlin, Som'moves und Troschel, I9V1.
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[0555] Mohmmgs- und Va>de»pe>init stehenden Mitteln in demselben „sozialen" Sinne, den man in der Stadt be¬ thätigt, zu reformieren. Es ist schon kurz darauf hingewiesen worden, daß der linke Flügel der kathedersozialistischen Nationalökonomen, namentlich auch Rauchberg in seinem Buch über die deutsche Berufs- und Gewerbezählung von 1895, die Landflucht viel zu leicht zu nehmen scheint. Rauchberg sagt dort unter anderm, die Stadtbevölkerung habe von 1882 bis 1895 zwar um 6893 788 Personen oder 36,47 Prozent zugenommen, die Bevölkerung des flachen Landes dagegen um 345617 Personen oder 1,31 Prozent abgenommen. Diese Abnahme sei aber nur scheinbar und dadurch hervorgerufen, daß die Wohnplätze, die die kritische Einwohnerzahl von 2000 überschritten, hätten, aus der Kategorie der Landorte ausschieden und fortab von der Statistik zu den städtischen Wohnplützen ge¬ rechnet würden. Das gleiche gelte auch von den weitern Verschiebungen nach oben hin. Von einer allgemeinen Landflucht oder drohenden Entvölkerung des Platten Landes durch den Zug nach der Stadt könne demnach absolut nicht die Rede sein. Das gehe auch Scherr daraus hervor, daß von den gering¬ fügigen Ausnahmen in den Regierungsbezirken Kostin, Sigmaringen und Jagst- kreis abgesehen, 1882 bis 1895 nirgends (!) im Deutschen Reich eine Abnahme der Bevölkerung stattgefunden habe. Die „Landflucht" sei ein agrarisches Märchen. Das ist eine sehr unvorsichtige Behauptung, wie man sie wohl einem so phantasiereichen Nationalökonomen wie Brentano zutrauen könnte, aber niemals einem Statistiker von Fach wie Rauchberg verzeihen kann. Die Landflucht ist in den preußischen Ostprovinzen keine neue Erscheinung. Schon in den sechziger und siebziger Jahren wurde darüber von sachkundigen Landwirten, Beamten und Gelehrten viel gesprochen und geschrieben. Freilich zogen die Landflüchtigen damals zu einem weit größer» Teile ins Ausland als heute, und die starke Abwandrung, die erst begann, verursachte natürlich damals zunächst keinen so fühlbaren Arbeitermnngel in der Landwirtschaft und so sicht¬ bare Lücken in der Landbevölkerung wie jetzt, nachdem sie ein Menschenalter angedauert hat. Ganz zeitgemäß hat nenerdings der Abgeordnete Gothein in einem sonst gerade nicht durch wissenschaftliche Selbständigkeit lind Zuverlässig¬ keit hervorragenden Buche über deu deutschen Außenhandels nu diese Landflucht vor dreißig Jahren erinnert, indem er einige Zahlen über den Rückgang der Bevölkerung in den preußischen Landgemeinden der Ostprovinzen von 1867 bis 1875 aus der amtlichen Statistik reproduzierte. Allein in Schlesien wiesen damals dreißig Kreise eine zum Teil starke Entvölkerung der Landgemeinden auf, in Brandenburg dreizehn Kreise, in Pommern zwanzig usw. Seit 1880 ist dann die Abwandrung vom Lande aufs neue stark in Fluß gekommen. Wie der jüngst veröffentlichte amtliche Bericht über die vorläufigen Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 im Königreich Preußen mitteilt, war in den einzelnen Provinzen die Zahl der Kreise, die in dem vorhergehenden *) Berlin, Som'moves und Troschel, I9V1.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/555>, abgerufen am 22.07.2024.