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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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ferne Lehre erteilen, sondern auch eine Schuld gegen die deutsche Geistcsart
sühnen und in uns den Boden für jene Eigenschaften wieder empfänglicher
machen. Oder ist es blos; Schwarzseherei, wenn behauptet wird, die Wirk¬
lichkeit bestätige nicht, daß sie in Deutschland häufiger und besser wüchsen als
in andern Ländern?

Freilich wird, wie setzt die Dinge liegen, die Einführung der offnen Ab¬
stimmung als ein "Attentat" auf Freiheit und Volksrechte ausgeschrieen werden
und bei sehr vielen Leuten, in ganzen Volksschichten sogar und über den Be¬
reich der Sozialdemokratie hinaus in dieser verzerrten Gestalt Glauben finden.
Denn jeder Teil des geltenden Wahlrechts zum Reichstage ist der Masse des
Volks derer, und mag man dies auch als Vorurteil bezeichnen, was ja für
die Heimlichkeit zutrifft, so sind doch Vorurteile mächtig, wenn sie so tiefe
Wurzel geschlagen haben. Und es wird ja mit der Heimlichkeit nicht das
allgemeine Wahlrecht selbst, sondern nur ein Auswuchs beschnitte", aber in
den untern Schichten wird es heißen: "Uns nehmt ihr es ganz, denn wir
sind abhängige Leute. Wenigstens dieses Stück unsrer Rechte konnten wir
noch ohne Furcht für das tägliche Brot ausüben, und auch das soll uns ge¬
nommen werden. Immer wieder sind wir es, die bei dem, was ihr Reformen
nennt, die Kosten bezahlen müssen. Reformiert doch einmal um euch!" Be¬
rechtigt oder nicht verdient dieser Borwurf, weil er weite Verbreitung finden
wird, politische Berücksichtigung. Nicht so, daß die Maßregel unterlassen oder
vertagt werden dürfte, aber als Aufforderung, auch da zu reformieren, wo sich
die ins Auge springenden Folgen gerade den günstiger gestellten Bevölkerungs¬
schichten fühlbar macheu werden. Wenn es ein Korrelat des Wahlrechts ist,
daß die Stimme offen abgegeben wird, so ist die Gegenverpflichtnng, überhaupt
zu wählen, logisch und ethisch uicht weniger zwingend, eine Strafe für die
Nichterfüllung ebenso gerechtfertigt, und sie wird, da die kleinen Leute fleißige
Wähler sind, nicht als gegen sie gerichtet, sondern eher im Lichte eines Aus¬
gleichs erscheinen. Eine Bestimmung, wonach wer sein Wahlrecht nicht ausübt,
für die nächste Wahl, und schon für die etwaige Stichwahl, von der Wähler¬
liste auszuschließen ist, wäre ein Stück populärer Gerechtigkeit, eine Anwendung
der im Volke lebendigen Talionsanschauuug. Und diese populäre Wirkung
wird nicht verloren gehn, wenn die Bestimmung, wie zu hoffen und zu er¬
warten ist, auf die Dauer in unsern Kreisen größern Wnhleifer erweckt, denn
pessimistische Spekulationen sind ein Vorrecht "höherer Bildung," raffinierte
Stimmungen, die dem kleinen Main: fern liegen. Freilich wird auch da wieder
bei denen, die es trifft, von einem Attentat auf die Freiheit gesprochen werden,
aber darauf ist Lachen die beste Antwort, der erste Lacher wird Chorus macheu.
Technisch ist die Durchführung so einfach wie möglich, und es wird zwar ein
Ncstitntionsverfahren zugelassen werden müssen, aber so, daß nur nachgewiesene
Krankheit zu dem Antrage ans Wiederaufnahme in die Wahlliste berechtigt.
Für sonstige Entschuldigungsgründe gilt analog das, was Fürst Bismarck 1868
dem Reichstage für die Behandlung von Urlaubsgesuchen als Norm empfahl,


ferne Lehre erteilen, sondern auch eine Schuld gegen die deutsche Geistcsart
sühnen und in uns den Boden für jene Eigenschaften wieder empfänglicher
machen. Oder ist es blos; Schwarzseherei, wenn behauptet wird, die Wirk¬
lichkeit bestätige nicht, daß sie in Deutschland häufiger und besser wüchsen als
in andern Ländern?

Freilich wird, wie setzt die Dinge liegen, die Einführung der offnen Ab¬
stimmung als ein „Attentat" auf Freiheit und Volksrechte ausgeschrieen werden
und bei sehr vielen Leuten, in ganzen Volksschichten sogar und über den Be¬
reich der Sozialdemokratie hinaus in dieser verzerrten Gestalt Glauben finden.
Denn jeder Teil des geltenden Wahlrechts zum Reichstage ist der Masse des
Volks derer, und mag man dies auch als Vorurteil bezeichnen, was ja für
die Heimlichkeit zutrifft, so sind doch Vorurteile mächtig, wenn sie so tiefe
Wurzel geschlagen haben. Und es wird ja mit der Heimlichkeit nicht das
allgemeine Wahlrecht selbst, sondern nur ein Auswuchs beschnitte«, aber in
den untern Schichten wird es heißen: „Uns nehmt ihr es ganz, denn wir
sind abhängige Leute. Wenigstens dieses Stück unsrer Rechte konnten wir
noch ohne Furcht für das tägliche Brot ausüben, und auch das soll uns ge¬
nommen werden. Immer wieder sind wir es, die bei dem, was ihr Reformen
nennt, die Kosten bezahlen müssen. Reformiert doch einmal um euch!" Be¬
rechtigt oder nicht verdient dieser Borwurf, weil er weite Verbreitung finden
wird, politische Berücksichtigung. Nicht so, daß die Maßregel unterlassen oder
vertagt werden dürfte, aber als Aufforderung, auch da zu reformieren, wo sich
die ins Auge springenden Folgen gerade den günstiger gestellten Bevölkerungs¬
schichten fühlbar macheu werden. Wenn es ein Korrelat des Wahlrechts ist,
daß die Stimme offen abgegeben wird, so ist die Gegenverpflichtnng, überhaupt
zu wählen, logisch und ethisch uicht weniger zwingend, eine Strafe für die
Nichterfüllung ebenso gerechtfertigt, und sie wird, da die kleinen Leute fleißige
Wähler sind, nicht als gegen sie gerichtet, sondern eher im Lichte eines Aus¬
gleichs erscheinen. Eine Bestimmung, wonach wer sein Wahlrecht nicht ausübt,
für die nächste Wahl, und schon für die etwaige Stichwahl, von der Wähler¬
liste auszuschließen ist, wäre ein Stück populärer Gerechtigkeit, eine Anwendung
der im Volke lebendigen Talionsanschauuug. Und diese populäre Wirkung
wird nicht verloren gehn, wenn die Bestimmung, wie zu hoffen und zu er¬
warten ist, auf die Dauer in unsern Kreisen größern Wnhleifer erweckt, denn
pessimistische Spekulationen sind ein Vorrecht „höherer Bildung," raffinierte
Stimmungen, die dem kleinen Main: fern liegen. Freilich wird auch da wieder
bei denen, die es trifft, von einem Attentat auf die Freiheit gesprochen werden,
aber darauf ist Lachen die beste Antwort, der erste Lacher wird Chorus macheu.
Technisch ist die Durchführung so einfach wie möglich, und es wird zwar ein
Ncstitntionsverfahren zugelassen werden müssen, aber so, daß nur nachgewiesene
Krankheit zu dem Antrage ans Wiederaufnahme in die Wahlliste berechtigt.
Für sonstige Entschuldigungsgründe gilt analog das, was Fürst Bismarck 1868
dem Reichstage für die Behandlung von Urlaubsgesuchen als Norm empfahl,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/541>, abgerufen am 22.07.2024.