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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Der Vater der Memoirenlittercitur

für em Jahr der zweiundachtzigsten Olympiade (452 bis 449) und für
das Jahr 428, aber schon der Umstand, daß er sicher mehr als zweimal
Tragödien auf die ätherische Bühne brachte und nach antiker Sitte persönlich
die Aufführung vorbereiten und leiten mußte, spricht dafür, daß er auch in
andern Jahren längere Zeit in Athen verweilte. Von hier ans unternahm
der Dichter dann auch Reisen nach andern Städten Griechenlands. Sicher ist,
daß er wenigstens einmal Sparta besucht hat, wo er Gast und Tischgenosse
des einen Königs, wahrscheinlich des Archidamos (469 bis 427) war. Denn
zu Ehren des Königs dichtete er in Sparta in Form einer Elegie ein Trink¬
lied, von dein uns der spätgriechische Schriftsteller Athenäus die folgenden fünf
Distichen bewahrt hat:


Heil dir, König von Sparta, du Schirmer und Vnder des Volkes,
Uns aber möge den Trank reichen des Mundschenks Hand,
Lauter gemischt in silbernen Krüger, doch nimmer vergesset,
Das; uns der goldne Pokal netze den Boden des Saals.
Wenn wir gespendet in Ehrfurcht Herakles und der Alkmene,
Prokles, dem Ahn des Geschlechts, Perseus Söhnen und Zeus
-- Diesem zuerst --, dann beginne das Trinken, das Scherzen und Singen
Durch die ambrosische Nacht; nicht auch fehle der Tanz.
Heiter ergeht euch der Freude; doch wem eine liebliche Gattin
Züchtig waltet in: Haus, trinke noch tapferer mir!

Etwa zweiundzwanzig Jahre nach seinem ersten Auftreten als tragischer
Dichter, im Jahre 428, rang Ion mit Euripides, der damals den Hippvlytus
ans die Bühne brachte, und mit Jophon um den tragischen Preis. Der
Preis fiel dem Euripides zu, während Ion als dritter aus dem Wettkampfe
hervorging. Ein andres mal war dein Ion das Glück günstiger; er trug zu¬
gleich mit einem Dithyrambus und einer Tragödie den ersten Preis davon.
Ob freilich dieser Sieg vor oder hinter die eben erwähnte Niederlage fällt, ist
ungewiß, ebenso fehlt eine nähere Angabe über den Titel des Dramas oder
die Namen der Mitbewerber. Wir verdanken überhaupt die Nachricht nur
einer Anekdote, die sich an den Sieg geknüpft hat. Ion soll aus Dank
für die Gunst des Volks jedem Athener ein Keramion Chierwein gespendet
haben. Diese Geschichte klingt nun allerdings in der überlieferten Form nicht
glaublich, wenn mau bedenkt, daß ein Keramion etwa vierzig Liter faßte, lind
daß die Gesamtzahl der athenischen Bürger vor dem peloponnesischen Kriege
nicht weniger als 60000 betrug; jedenfalls aber lehrt sie, daß dem Dichter
die Freude eines Siegs nur sehr selten, wohl überhaupt nur ein einziges mal
zu teil wurde. Über das Todesjahr des Dichters sind wir gemalter unter¬
richtet als über die Zeit seiner Geburt. Den" in dein von Aristophanes ver¬
faßten "Frieden," der zuerst an dem Feste der großen Dionysien des Jahres
421 aufgeführt wurde, wird seiner als eines jüngst Verstorbnen gedacht. Er
werde, so berichtet der aus dem Himmel zurückgekehrte Trygäus, in der andern
Welt der Morgenstern genannt, weil er diesen einst in einer Ode besungen


Der Vater der Memoirenlittercitur

für em Jahr der zweiundachtzigsten Olympiade (452 bis 449) und für
das Jahr 428, aber schon der Umstand, daß er sicher mehr als zweimal
Tragödien auf die ätherische Bühne brachte und nach antiker Sitte persönlich
die Aufführung vorbereiten und leiten mußte, spricht dafür, daß er auch in
andern Jahren längere Zeit in Athen verweilte. Von hier ans unternahm
der Dichter dann auch Reisen nach andern Städten Griechenlands. Sicher ist,
daß er wenigstens einmal Sparta besucht hat, wo er Gast und Tischgenosse
des einen Königs, wahrscheinlich des Archidamos (469 bis 427) war. Denn
zu Ehren des Königs dichtete er in Sparta in Form einer Elegie ein Trink¬
lied, von dein uns der spätgriechische Schriftsteller Athenäus die folgenden fünf
Distichen bewahrt hat:


Heil dir, König von Sparta, du Schirmer und Vnder des Volkes,
Uns aber möge den Trank reichen des Mundschenks Hand,
Lauter gemischt in silbernen Krüger, doch nimmer vergesset,
Das; uns der goldne Pokal netze den Boden des Saals.
Wenn wir gespendet in Ehrfurcht Herakles und der Alkmene,
Prokles, dem Ahn des Geschlechts, Perseus Söhnen und Zeus
— Diesem zuerst —, dann beginne das Trinken, das Scherzen und Singen
Durch die ambrosische Nacht; nicht auch fehle der Tanz.
Heiter ergeht euch der Freude; doch wem eine liebliche Gattin
Züchtig waltet in: Haus, trinke noch tapferer mir!

Etwa zweiundzwanzig Jahre nach seinem ersten Auftreten als tragischer
Dichter, im Jahre 428, rang Ion mit Euripides, der damals den Hippvlytus
ans die Bühne brachte, und mit Jophon um den tragischen Preis. Der
Preis fiel dem Euripides zu, während Ion als dritter aus dem Wettkampfe
hervorging. Ein andres mal war dein Ion das Glück günstiger; er trug zu¬
gleich mit einem Dithyrambus und einer Tragödie den ersten Preis davon.
Ob freilich dieser Sieg vor oder hinter die eben erwähnte Niederlage fällt, ist
ungewiß, ebenso fehlt eine nähere Angabe über den Titel des Dramas oder
die Namen der Mitbewerber. Wir verdanken überhaupt die Nachricht nur
einer Anekdote, die sich an den Sieg geknüpft hat. Ion soll aus Dank
für die Gunst des Volks jedem Athener ein Keramion Chierwein gespendet
haben. Diese Geschichte klingt nun allerdings in der überlieferten Form nicht
glaublich, wenn mau bedenkt, daß ein Keramion etwa vierzig Liter faßte, lind
daß die Gesamtzahl der athenischen Bürger vor dem peloponnesischen Kriege
nicht weniger als 60000 betrug; jedenfalls aber lehrt sie, daß dem Dichter
die Freude eines Siegs nur sehr selten, wohl überhaupt nur ein einziges mal
zu teil wurde. Über das Todesjahr des Dichters sind wir gemalter unter¬
richtet als über die Zeit seiner Geburt. Den» in dein von Aristophanes ver¬
faßten „Frieden," der zuerst an dem Feste der großen Dionysien des Jahres
421 aufgeführt wurde, wird seiner als eines jüngst Verstorbnen gedacht. Er
werde, so berichtet der aus dem Himmel zurückgekehrte Trygäus, in der andern
Welt der Morgenstern genannt, weil er diesen einst in einer Ode besungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/512>, abgerufen am 24.08.2024.