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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Kindersprache und Sprachgeschichte

Nntiirlich beobachten wir auch beim Kinde eine Vorstufe, auf der seine
Ausdrucksmittel denen der höhern Tiere entsprechen. Seine angebornen instink¬
tiven Äußerungen, besonders das Weinen und Schreien, treten bald in den
Dienst der Mitteilung: das Kind weint und schreit absichtlich, nachdem sich
die Vorstellung des Erfolges seiner zunächst uuU'illknrlicheu Äußerungen, also
des Stillens und Wartens, mit der Vorstellung dieser Lante verknüpft hat.
Nach einiger Zeit gesellen sich zu den rein voknlischen Schreien auch Silben, die
schon Konsonanten enthalten, und die zugleich eine bestimmte engere Bedeutung
als jene lediglich das Unlustgefühl ankündigenden Schreie aufweise". Nach
deu -- freilich noch sehr zu vervollständigenden -- Beobachtungen scheint die
Silbe mon durch eine Verbindung des Unlnstschreies mit der dem fangenden
Kinde eigentümlichen Mundstellung zu entsteh", lind entsprechend ist ihre Be¬
deutung nicht allgemein, nicht die der Unlust und des Verlangens überhaupt,
sondern sie hat die ganz besondre Bedeutung des Verlangens nach Nahrung.
Mön heißt also: mich hungert, und bisweilen hält sich diese Ursilbe in der
Sprache des Kindes noch lange in der Bedeutung Nahrung. So ist nun auch
die Entwicklung beim Urmenschen vor der Schöpfung der eigentlich mensch¬
lichen Sprache zu denken. Nur werden die Jnterjektionssprache und die laute
Muudgebärdeusprache bei ihm noch weiter ausgebildet gewesen sein. Insbesondre
mögen die auf die Nahrung bezüglichen Gebärden des Saugens, Lenkers,
Beißens, Kauens in Verbindung mit dem Begehrungsschrei schon eine ganze
Reihe von bedeutungsvollen Silben geschaffen haben. Bei allen Versuchen
jedoch, Wörter heutiger Sprachen ans solche vvrsprnchlichen Äußerungen zurück¬
zuführen, ist große Vorsicht geboten.

Auch für die Frage der Abhängigkeit des Denkens von der Sprache find
die Beobnchtnngcn, die wir an den Kleinen machen, von Wichtigkeit. Daß
erst die Sprache das Denken geschaffen habe, ist zwar von angesehener Seite
behauptet worden, es spricht aber doch alles dagegen. An unsern sprechen
lernenden Kindern sehen wir deutlich, wie das Denken der Sprache vorauseilt,
und dasselbe nehmen, wir für die Entwicklung der menschlichen Sprache an.
Wir erklären die Erwerbung der Sprache durch den Menschen dadurch, daß
er vor diesem Besitze schon in gewissen Grenzen begrifflich zu denken vermochte.
Diese Möglichkeit wird aber anch durch das Verhalten des noch sprachlosen
Kindes bewiesen. Preyer hat das durch einen Versuch gezeigt, den er mit
seinem Söhnchen angestellt hat. Das Kind wurde unruhig beim Anblick von
Flaschen, die mit weißer Flüssigkeit gefüllt waren, mochten die Flaschen der
Form nach noch so verschieden sein, während es sich leeren und mit Wasser
gefüllten Flaschen gegenüber ziemlich gleichgiltig verhielt. Es unterschied also
Nnsche und Inhalt und hatte die Begriffe Flasche und Nahrung gebildet, ehe
e's die Sprache verstand.

Also auch über die Zustände, wie wir sie in der Urzeit zu denken haben,
geben uns die Kleinen erwünschten Aufschluß. Und wir haben nicht erst nötig,
zwei Neugeborne in die Einsamkeit zu versetzen und, ohne daß die Laute mensch¬
licher Rede an ihr Ohr dringen, aufzuziehen, wie es einst der König Psalm-


Kindersprache und Sprachgeschichte

Nntiirlich beobachten wir auch beim Kinde eine Vorstufe, auf der seine
Ausdrucksmittel denen der höhern Tiere entsprechen. Seine angebornen instink¬
tiven Äußerungen, besonders das Weinen und Schreien, treten bald in den
Dienst der Mitteilung: das Kind weint und schreit absichtlich, nachdem sich
die Vorstellung des Erfolges seiner zunächst uuU'illknrlicheu Äußerungen, also
des Stillens und Wartens, mit der Vorstellung dieser Lante verknüpft hat.
Nach einiger Zeit gesellen sich zu den rein voknlischen Schreien auch Silben, die
schon Konsonanten enthalten, und die zugleich eine bestimmte engere Bedeutung
als jene lediglich das Unlustgefühl ankündigenden Schreie aufweise». Nach
deu — freilich noch sehr zu vervollständigenden — Beobachtungen scheint die
Silbe mon durch eine Verbindung des Unlnstschreies mit der dem fangenden
Kinde eigentümlichen Mundstellung zu entsteh», lind entsprechend ist ihre Be¬
deutung nicht allgemein, nicht die der Unlust und des Verlangens überhaupt,
sondern sie hat die ganz besondre Bedeutung des Verlangens nach Nahrung.
Mön heißt also: mich hungert, und bisweilen hält sich diese Ursilbe in der
Sprache des Kindes noch lange in der Bedeutung Nahrung. So ist nun auch
die Entwicklung beim Urmenschen vor der Schöpfung der eigentlich mensch¬
lichen Sprache zu denken. Nur werden die Jnterjektionssprache und die laute
Muudgebärdeusprache bei ihm noch weiter ausgebildet gewesen sein. Insbesondre
mögen die auf die Nahrung bezüglichen Gebärden des Saugens, Lenkers,
Beißens, Kauens in Verbindung mit dem Begehrungsschrei schon eine ganze
Reihe von bedeutungsvollen Silben geschaffen haben. Bei allen Versuchen
jedoch, Wörter heutiger Sprachen ans solche vvrsprnchlichen Äußerungen zurück¬
zuführen, ist große Vorsicht geboten.

Auch für die Frage der Abhängigkeit des Denkens von der Sprache find
die Beobnchtnngcn, die wir an den Kleinen machen, von Wichtigkeit. Daß
erst die Sprache das Denken geschaffen habe, ist zwar von angesehener Seite
behauptet worden, es spricht aber doch alles dagegen. An unsern sprechen
lernenden Kindern sehen wir deutlich, wie das Denken der Sprache vorauseilt,
und dasselbe nehmen, wir für die Entwicklung der menschlichen Sprache an.
Wir erklären die Erwerbung der Sprache durch den Menschen dadurch, daß
er vor diesem Besitze schon in gewissen Grenzen begrifflich zu denken vermochte.
Diese Möglichkeit wird aber anch durch das Verhalten des noch sprachlosen
Kindes bewiesen. Preyer hat das durch einen Versuch gezeigt, den er mit
seinem Söhnchen angestellt hat. Das Kind wurde unruhig beim Anblick von
Flaschen, die mit weißer Flüssigkeit gefüllt waren, mochten die Flaschen der
Form nach noch so verschieden sein, während es sich leeren und mit Wasser
gefüllten Flaschen gegenüber ziemlich gleichgiltig verhielt. Es unterschied also
Nnsche und Inhalt und hatte die Begriffe Flasche und Nahrung gebildet, ehe
e's die Sprache verstand.

Also auch über die Zustände, wie wir sie in der Urzeit zu denken haben,
geben uns die Kleinen erwünschten Aufschluß. Und wir haben nicht erst nötig,
zwei Neugeborne in die Einsamkeit zu versetzen und, ohne daß die Laute mensch¬
licher Rede an ihr Ohr dringen, aufzuziehen, wie es einst der König Psalm-


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[0469] Kindersprache und Sprachgeschichte Nntiirlich beobachten wir auch beim Kinde eine Vorstufe, auf der seine Ausdrucksmittel denen der höhern Tiere entsprechen. Seine angebornen instink¬ tiven Äußerungen, besonders das Weinen und Schreien, treten bald in den Dienst der Mitteilung: das Kind weint und schreit absichtlich, nachdem sich die Vorstellung des Erfolges seiner zunächst uuU'illknrlicheu Äußerungen, also des Stillens und Wartens, mit der Vorstellung dieser Lante verknüpft hat. Nach einiger Zeit gesellen sich zu den rein voknlischen Schreien auch Silben, die schon Konsonanten enthalten, und die zugleich eine bestimmte engere Bedeutung als jene lediglich das Unlustgefühl ankündigenden Schreie aufweise». Nach deu — freilich noch sehr zu vervollständigenden — Beobachtungen scheint die Silbe mon durch eine Verbindung des Unlnstschreies mit der dem fangenden Kinde eigentümlichen Mundstellung zu entsteh», lind entsprechend ist ihre Be¬ deutung nicht allgemein, nicht die der Unlust und des Verlangens überhaupt, sondern sie hat die ganz besondre Bedeutung des Verlangens nach Nahrung. Mön heißt also: mich hungert, und bisweilen hält sich diese Ursilbe in der Sprache des Kindes noch lange in der Bedeutung Nahrung. So ist nun auch die Entwicklung beim Urmenschen vor der Schöpfung der eigentlich mensch¬ lichen Sprache zu denken. Nur werden die Jnterjektionssprache und die laute Muudgebärdeusprache bei ihm noch weiter ausgebildet gewesen sein. Insbesondre mögen die auf die Nahrung bezüglichen Gebärden des Saugens, Lenkers, Beißens, Kauens in Verbindung mit dem Begehrungsschrei schon eine ganze Reihe von bedeutungsvollen Silben geschaffen haben. Bei allen Versuchen jedoch, Wörter heutiger Sprachen ans solche vvrsprnchlichen Äußerungen zurück¬ zuführen, ist große Vorsicht geboten. Auch für die Frage der Abhängigkeit des Denkens von der Sprache find die Beobnchtnngcn, die wir an den Kleinen machen, von Wichtigkeit. Daß erst die Sprache das Denken geschaffen habe, ist zwar von angesehener Seite behauptet worden, es spricht aber doch alles dagegen. An unsern sprechen lernenden Kindern sehen wir deutlich, wie das Denken der Sprache vorauseilt, und dasselbe nehmen, wir für die Entwicklung der menschlichen Sprache an. Wir erklären die Erwerbung der Sprache durch den Menschen dadurch, daß er vor diesem Besitze schon in gewissen Grenzen begrifflich zu denken vermochte. Diese Möglichkeit wird aber anch durch das Verhalten des noch sprachlosen Kindes bewiesen. Preyer hat das durch einen Versuch gezeigt, den er mit seinem Söhnchen angestellt hat. Das Kind wurde unruhig beim Anblick von Flaschen, die mit weißer Flüssigkeit gefüllt waren, mochten die Flaschen der Form nach noch so verschieden sein, während es sich leeren und mit Wasser gefüllten Flaschen gegenüber ziemlich gleichgiltig verhielt. Es unterschied also Nnsche und Inhalt und hatte die Begriffe Flasche und Nahrung gebildet, ehe e's die Sprache verstand. Also auch über die Zustände, wie wir sie in der Urzeit zu denken haben, geben uns die Kleinen erwünschten Aufschluß. Und wir haben nicht erst nötig, zwei Neugeborne in die Einsamkeit zu versetzen und, ohne daß die Laute mensch¬ licher Rede an ihr Ohr dringen, aufzuziehen, wie es einst der König Psalm-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/469>, abgerufen am 22.07.2024.