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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Aindersprache und Sprachgeschichte

Die Sprache hält eben mit der geistigen Entwicklung nicht Schritt, sie vermag
dem vorwärts eilenden Geiste nicht immer und überall zu folgen und bleibt
arm, wahrend dieser sich bereichert. Immerhin wäre eine Vermehrung unsers
Beispielvorrnts aus der Kindersprache mit genauster Angabe des Verhaltens
der Kleinen bei Verwendung der Ausdrücke sehr zu wünschen, damit der Beweis
noch überzeugender geführt werden kann.

Auf der andern Seite wird man sich aber anch nicht zu der Ansicht be¬
kennen können, daß das unentwickelte Denken über Begriffe verfügt, zu
deren Bildung nur der gereifte Verstand gelangen kann. Selbstverständlich
ist auf niederer Stufe das Unterscheidnngsbedürfnis gering, die Sprechenden
verwenden vielfach nicht besondre, sondern allgemeine Begriffe -- man unter¬
scheidet etwa nicht heiß und warm, kalt und kühl, hat für die verschieden¬
artigsten Thätigkeiten vielleicht nur einen Ausdruck wie machen u. dergl. --,
zum Teil überrascht uus auch wohl eine solche Bezeichnung, indem sie uns
die Höhere Einheit zeigt, an die wir bei unsern besondern Ausdrücken gewöhn¬
lich nicht denken, z. B. wenn hoch und tief, wie im Lateinischen, mit einem
Worte iMns) benannt werden, das also weder das eine noch das andre für
sich, sondern beides, die Ausdehnung in senkrechter Richtung, bezeichnet: aber
sollen wirklich Ausdrücke wie das ägyptische Jaen und die entsprechenden der
Kindersprache ursprünglich uicht den einen der beiden Gegensätze, stark oder
schwach, sondern das "Verhältnis zwischen beiden" und den "Unterschied
beider" bedeutet haben? Kann man dem Menschen in den Ansaugen seiner
geistigen Entwicklung die Fähigkeit zutrauen, einen solchen verhältnismäßig
hohen Begriff zu bilden? Abel, der auf jene Eigentümlichkeit des Altägyp¬
tischen hingewiesen hat, hat in seiner sehr lesenswerten Schrift "Vom Gegen¬
sinn der UrWorte" thatsächlich diese Ansicht aufgestellt. Er meint, die Gegen¬
sätze hätten ursprünglich nur miteinander gedacht werden können, und erst einer
spätern Zeit sei ihre Scheidung, das Denken des einen ohne den andern,
möglich geworden. Jener "Gegensinn" sei für alle Sprachen auf älterer Ent¬
wicklungsstufe vorauszusetzen; er sei ein "grundlegendes Denk- und Sprach¬
gesetz der Menschheit." Dagegen wird man wohl vor allem einwenden dürfen,
daß zuvor ein Nachweis aus der Gebärdensprache gebracht werden müßte, die
doch der Lautsprnche vorangegangen ist, dann lange ihre Begleiterin gewesen
und erst allmählich vou ihr verdrängt worden ist. Es scheint jedoch, daß
gerade die Gebärden von Anfang an eindeutig gewesen sind. Als Gesetz der
Lautsprache ist der Gegensinn allerdings nicht anfechtbar. Nur gehört er einer
sehr frühen Stufe der Entwicklung an -- Adels Versuche, ihn auch noch ans
andern Sprachgebieten als dem ägyptischen zu belegen, sind nicht geglückt --,
und er wird am einfachsten durch Übertragung vermöge der Assoziativ" des
Gegensatzes erklärt. Für diese Art der Entstehung spricht auch die Analogie
der eigentümlichen Wortbildungen auf späterer Stufe -- wegwachsen, auf¬
schließen usw. --, die doch niemand durch "Gegensinn" wird erklären wollen.

Also wunderlichste Vieldeutigkeit, das ist das Zeichen, in dem der Wort-


Aindersprache und Sprachgeschichte

Die Sprache hält eben mit der geistigen Entwicklung nicht Schritt, sie vermag
dem vorwärts eilenden Geiste nicht immer und überall zu folgen und bleibt
arm, wahrend dieser sich bereichert. Immerhin wäre eine Vermehrung unsers
Beispielvorrnts aus der Kindersprache mit genauster Angabe des Verhaltens
der Kleinen bei Verwendung der Ausdrücke sehr zu wünschen, damit der Beweis
noch überzeugender geführt werden kann.

Auf der andern Seite wird man sich aber anch nicht zu der Ansicht be¬
kennen können, daß das unentwickelte Denken über Begriffe verfügt, zu
deren Bildung nur der gereifte Verstand gelangen kann. Selbstverständlich
ist auf niederer Stufe das Unterscheidnngsbedürfnis gering, die Sprechenden
verwenden vielfach nicht besondre, sondern allgemeine Begriffe — man unter¬
scheidet etwa nicht heiß und warm, kalt und kühl, hat für die verschieden¬
artigsten Thätigkeiten vielleicht nur einen Ausdruck wie machen u. dergl. —,
zum Teil überrascht uus auch wohl eine solche Bezeichnung, indem sie uns
die Höhere Einheit zeigt, an die wir bei unsern besondern Ausdrücken gewöhn¬
lich nicht denken, z. B. wenn hoch und tief, wie im Lateinischen, mit einem
Worte iMns) benannt werden, das also weder das eine noch das andre für
sich, sondern beides, die Ausdehnung in senkrechter Richtung, bezeichnet: aber
sollen wirklich Ausdrücke wie das ägyptische Jaen und die entsprechenden der
Kindersprache ursprünglich uicht den einen der beiden Gegensätze, stark oder
schwach, sondern das „Verhältnis zwischen beiden" und den „Unterschied
beider" bedeutet haben? Kann man dem Menschen in den Ansaugen seiner
geistigen Entwicklung die Fähigkeit zutrauen, einen solchen verhältnismäßig
hohen Begriff zu bilden? Abel, der auf jene Eigentümlichkeit des Altägyp¬
tischen hingewiesen hat, hat in seiner sehr lesenswerten Schrift „Vom Gegen¬
sinn der UrWorte" thatsächlich diese Ansicht aufgestellt. Er meint, die Gegen¬
sätze hätten ursprünglich nur miteinander gedacht werden können, und erst einer
spätern Zeit sei ihre Scheidung, das Denken des einen ohne den andern,
möglich geworden. Jener „Gegensinn" sei für alle Sprachen auf älterer Ent¬
wicklungsstufe vorauszusetzen; er sei ein „grundlegendes Denk- und Sprach¬
gesetz der Menschheit." Dagegen wird man wohl vor allem einwenden dürfen,
daß zuvor ein Nachweis aus der Gebärdensprache gebracht werden müßte, die
doch der Lautsprnche vorangegangen ist, dann lange ihre Begleiterin gewesen
und erst allmählich vou ihr verdrängt worden ist. Es scheint jedoch, daß
gerade die Gebärden von Anfang an eindeutig gewesen sind. Als Gesetz der
Lautsprache ist der Gegensinn allerdings nicht anfechtbar. Nur gehört er einer
sehr frühen Stufe der Entwicklung an — Adels Versuche, ihn auch noch ans
andern Sprachgebieten als dem ägyptischen zu belegen, sind nicht geglückt —,
und er wird am einfachsten durch Übertragung vermöge der Assoziativ» des
Gegensatzes erklärt. Für diese Art der Entstehung spricht auch die Analogie
der eigentümlichen Wortbildungen auf späterer Stufe — wegwachsen, auf¬
schließen usw. —, die doch niemand durch „Gegensinn" wird erklären wollen.

Also wunderlichste Vieldeutigkeit, das ist das Zeichen, in dem der Wort-


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[0428] Aindersprache und Sprachgeschichte Die Sprache hält eben mit der geistigen Entwicklung nicht Schritt, sie vermag dem vorwärts eilenden Geiste nicht immer und überall zu folgen und bleibt arm, wahrend dieser sich bereichert. Immerhin wäre eine Vermehrung unsers Beispielvorrnts aus der Kindersprache mit genauster Angabe des Verhaltens der Kleinen bei Verwendung der Ausdrücke sehr zu wünschen, damit der Beweis noch überzeugender geführt werden kann. Auf der andern Seite wird man sich aber anch nicht zu der Ansicht be¬ kennen können, daß das unentwickelte Denken über Begriffe verfügt, zu deren Bildung nur der gereifte Verstand gelangen kann. Selbstverständlich ist auf niederer Stufe das Unterscheidnngsbedürfnis gering, die Sprechenden verwenden vielfach nicht besondre, sondern allgemeine Begriffe — man unter¬ scheidet etwa nicht heiß und warm, kalt und kühl, hat für die verschieden¬ artigsten Thätigkeiten vielleicht nur einen Ausdruck wie machen u. dergl. —, zum Teil überrascht uus auch wohl eine solche Bezeichnung, indem sie uns die Höhere Einheit zeigt, an die wir bei unsern besondern Ausdrücken gewöhn¬ lich nicht denken, z. B. wenn hoch und tief, wie im Lateinischen, mit einem Worte iMns) benannt werden, das also weder das eine noch das andre für sich, sondern beides, die Ausdehnung in senkrechter Richtung, bezeichnet: aber sollen wirklich Ausdrücke wie das ägyptische Jaen und die entsprechenden der Kindersprache ursprünglich uicht den einen der beiden Gegensätze, stark oder schwach, sondern das „Verhältnis zwischen beiden" und den „Unterschied beider" bedeutet haben? Kann man dem Menschen in den Ansaugen seiner geistigen Entwicklung die Fähigkeit zutrauen, einen solchen verhältnismäßig hohen Begriff zu bilden? Abel, der auf jene Eigentümlichkeit des Altägyp¬ tischen hingewiesen hat, hat in seiner sehr lesenswerten Schrift „Vom Gegen¬ sinn der UrWorte" thatsächlich diese Ansicht aufgestellt. Er meint, die Gegen¬ sätze hätten ursprünglich nur miteinander gedacht werden können, und erst einer spätern Zeit sei ihre Scheidung, das Denken des einen ohne den andern, möglich geworden. Jener „Gegensinn" sei für alle Sprachen auf älterer Ent¬ wicklungsstufe vorauszusetzen; er sei ein „grundlegendes Denk- und Sprach¬ gesetz der Menschheit." Dagegen wird man wohl vor allem einwenden dürfen, daß zuvor ein Nachweis aus der Gebärdensprache gebracht werden müßte, die doch der Lautsprnche vorangegangen ist, dann lange ihre Begleiterin gewesen und erst allmählich vou ihr verdrängt worden ist. Es scheint jedoch, daß gerade die Gebärden von Anfang an eindeutig gewesen sind. Als Gesetz der Lautsprache ist der Gegensinn allerdings nicht anfechtbar. Nur gehört er einer sehr frühen Stufe der Entwicklung an — Adels Versuche, ihn auch noch ans andern Sprachgebieten als dem ägyptischen zu belegen, sind nicht geglückt —, und er wird am einfachsten durch Übertragung vermöge der Assoziativ» des Gegensatzes erklärt. Für diese Art der Entstehung spricht auch die Analogie der eigentümlichen Wortbildungen auf späterer Stufe — wegwachsen, auf¬ schließen usw. —, die doch niemand durch „Gegensinn" wird erklären wollen. Also wunderlichste Vieldeutigkeit, das ist das Zeichen, in dem der Wort-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/428>, abgerufen am 22.07.2024.