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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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volksbibliothoken und Lesehallen

Teil ihrer Zeit in den Museen und Lesehallen zubringen, wenn auch nur zum
Zeitvertreib oder -- im Winter -- um sich zu erwärmen. Nun ist eine
Bibliothek jedenfalls ein vorteilhafterer Aufenthalt für junge Menschen als
eine Penne oder Klappe, und für einzelne mag eine unfreiwillige Feierzeit,
die sie großenteils auf ein Lesen verwenden, das durch Umfang und Dauer
zum Studium wird, die Grundlage für das spätere Lebensglück abgeben. Das
gilt natürlich nur für die Talentvollen und Strebsamen, aber solche giebt es
doch überall, und darunter so manches Genie. Bringt die Bibliothek an jedem
Ort in jeder Generation auch mir ein Talent zur Entfaltung, so hat sie schon
dadurch ihren Zweck erfüllt und der Gesamtheit genützt; die Natur verschwendet
ja Millionen Samen, um nur einem einzigen Individuum das Dasein zu
sichern. Schnitze erinnert um den großen Carnegie, der eine freie Bibliothek
für das beste Geschenk erklärt, das man einem Gemeinwesen machen könne,
und der aus seiner Jugendzeit, wo er Arbeitsbursche war, erzählt, ein Oberst
Anderson habe den armen Burschen des Orts seine kleine Bibliothek von vier¬
hundert Bänden geöffnet und ihnen jeden Sonnabend Bücher ausgegeben.
Mit unaussprechlicher Sehnsucht hätten sie jede Woche den Sonnabend herbei¬
gewünscht, und er fühle sich dem edeln Manne zeitlebens verpflichtet. Damals
habe er sich gelobt, wenn er jemals zu Reichtum gelange, öffentliche Biblio¬
theken zu stiften. Übrigens bleibt denen, die sich zu dem Geiste des preußischen
Staats bekennen, dem Geiste, der zwischen 1806 und 1813 das neue Preußen
geschaffen und damit das neue Reich vorbereitet hat, keine Wahl: dieser Geist
ist nun einmal dem von stiehts Regulativen entgegengesetzt. Schultze zitiert
ans Fichtes Reden an die deutsche Nation die berühmte Stelle, die mit den
Worten schließt: "Es bleibt uns sonach nichts übrig, als schlechthin an alles
ohne Ausnahme, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, sodaß diese
nicht Bildung eines besondern Standes, sondern daß sie Bildung der Nation
schlechthin als solcher und ohne alle Ausnahme einzelner Glieder werde." Nun
weiß aber jedermann, daß die Volksschule noch nicht die Bildung mitteilt,
sondern nur den Zugang zu ihr öffnet, und daß sie selbst erst später durch
Lesen erworben wird. Daß höhere Geistesbildung die Lust und die Fähigkeit
zu körperlicher Arbeit raube, bestreitet Schultze mit Recht. Er meint ganz
richtig, die Scheu vor einem nützlichen Gebrauch der eignen Hände und Arme,
die manche Kreise beherrscht, komme nicht von der Bildung, sondern von der
Mode, und er Hütte noch anführen können, daß in dieser Beziehung ein Um¬
schwung eingetreten ist, seitdem sich die Söhne der höhern Stände in großer
Zahl den technischen Fächern widmen und nach bestandner Abiturientenprüfung
Schlössern oder in einer Grube arbeiten. In dieser Beziehung muß man es
als einen Segen betrachten, daß die ausschließliche Herrschaft des Humanismus
gebrochen ist; in den heute maßgebenden Kreisen entscheiden die mehr oder
weniger "soignierten" Hände nicht mehr über die Gesellschaftsfähigkeit. Aller¬
dings giebt es auch Gegenströmungen, die aber nicht aus der humanistischen,
auch nicht aus der höfisch-aristokratischen, sondern aus der plutokratischen Ecke


volksbibliothoken und Lesehallen

Teil ihrer Zeit in den Museen und Lesehallen zubringen, wenn auch nur zum
Zeitvertreib oder — im Winter — um sich zu erwärmen. Nun ist eine
Bibliothek jedenfalls ein vorteilhafterer Aufenthalt für junge Menschen als
eine Penne oder Klappe, und für einzelne mag eine unfreiwillige Feierzeit,
die sie großenteils auf ein Lesen verwenden, das durch Umfang und Dauer
zum Studium wird, die Grundlage für das spätere Lebensglück abgeben. Das
gilt natürlich nur für die Talentvollen und Strebsamen, aber solche giebt es
doch überall, und darunter so manches Genie. Bringt die Bibliothek an jedem
Ort in jeder Generation auch mir ein Talent zur Entfaltung, so hat sie schon
dadurch ihren Zweck erfüllt und der Gesamtheit genützt; die Natur verschwendet
ja Millionen Samen, um nur einem einzigen Individuum das Dasein zu
sichern. Schnitze erinnert um den großen Carnegie, der eine freie Bibliothek
für das beste Geschenk erklärt, das man einem Gemeinwesen machen könne,
und der aus seiner Jugendzeit, wo er Arbeitsbursche war, erzählt, ein Oberst
Anderson habe den armen Burschen des Orts seine kleine Bibliothek von vier¬
hundert Bänden geöffnet und ihnen jeden Sonnabend Bücher ausgegeben.
Mit unaussprechlicher Sehnsucht hätten sie jede Woche den Sonnabend herbei¬
gewünscht, und er fühle sich dem edeln Manne zeitlebens verpflichtet. Damals
habe er sich gelobt, wenn er jemals zu Reichtum gelange, öffentliche Biblio¬
theken zu stiften. Übrigens bleibt denen, die sich zu dem Geiste des preußischen
Staats bekennen, dem Geiste, der zwischen 1806 und 1813 das neue Preußen
geschaffen und damit das neue Reich vorbereitet hat, keine Wahl: dieser Geist
ist nun einmal dem von stiehts Regulativen entgegengesetzt. Schultze zitiert
ans Fichtes Reden an die deutsche Nation die berühmte Stelle, die mit den
Worten schließt: „Es bleibt uns sonach nichts übrig, als schlechthin an alles
ohne Ausnahme, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, sodaß diese
nicht Bildung eines besondern Standes, sondern daß sie Bildung der Nation
schlechthin als solcher und ohne alle Ausnahme einzelner Glieder werde." Nun
weiß aber jedermann, daß die Volksschule noch nicht die Bildung mitteilt,
sondern nur den Zugang zu ihr öffnet, und daß sie selbst erst später durch
Lesen erworben wird. Daß höhere Geistesbildung die Lust und die Fähigkeit
zu körperlicher Arbeit raube, bestreitet Schultze mit Recht. Er meint ganz
richtig, die Scheu vor einem nützlichen Gebrauch der eignen Hände und Arme,
die manche Kreise beherrscht, komme nicht von der Bildung, sondern von der
Mode, und er Hütte noch anführen können, daß in dieser Beziehung ein Um¬
schwung eingetreten ist, seitdem sich die Söhne der höhern Stände in großer
Zahl den technischen Fächern widmen und nach bestandner Abiturientenprüfung
Schlössern oder in einer Grube arbeiten. In dieser Beziehung muß man es
als einen Segen betrachten, daß die ausschließliche Herrschaft des Humanismus
gebrochen ist; in den heute maßgebenden Kreisen entscheiden die mehr oder
weniger „soignierten" Hände nicht mehr über die Gesellschaftsfähigkeit. Aller¬
dings giebt es auch Gegenströmungen, die aber nicht aus der humanistischen,
auch nicht aus der höfisch-aristokratischen, sondern aus der plutokratischen Ecke


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[0363] volksbibliothoken und Lesehallen Teil ihrer Zeit in den Museen und Lesehallen zubringen, wenn auch nur zum Zeitvertreib oder — im Winter — um sich zu erwärmen. Nun ist eine Bibliothek jedenfalls ein vorteilhafterer Aufenthalt für junge Menschen als eine Penne oder Klappe, und für einzelne mag eine unfreiwillige Feierzeit, die sie großenteils auf ein Lesen verwenden, das durch Umfang und Dauer zum Studium wird, die Grundlage für das spätere Lebensglück abgeben. Das gilt natürlich nur für die Talentvollen und Strebsamen, aber solche giebt es doch überall, und darunter so manches Genie. Bringt die Bibliothek an jedem Ort in jeder Generation auch mir ein Talent zur Entfaltung, so hat sie schon dadurch ihren Zweck erfüllt und der Gesamtheit genützt; die Natur verschwendet ja Millionen Samen, um nur einem einzigen Individuum das Dasein zu sichern. Schnitze erinnert um den großen Carnegie, der eine freie Bibliothek für das beste Geschenk erklärt, das man einem Gemeinwesen machen könne, und der aus seiner Jugendzeit, wo er Arbeitsbursche war, erzählt, ein Oberst Anderson habe den armen Burschen des Orts seine kleine Bibliothek von vier¬ hundert Bänden geöffnet und ihnen jeden Sonnabend Bücher ausgegeben. Mit unaussprechlicher Sehnsucht hätten sie jede Woche den Sonnabend herbei¬ gewünscht, und er fühle sich dem edeln Manne zeitlebens verpflichtet. Damals habe er sich gelobt, wenn er jemals zu Reichtum gelange, öffentliche Biblio¬ theken zu stiften. Übrigens bleibt denen, die sich zu dem Geiste des preußischen Staats bekennen, dem Geiste, der zwischen 1806 und 1813 das neue Preußen geschaffen und damit das neue Reich vorbereitet hat, keine Wahl: dieser Geist ist nun einmal dem von stiehts Regulativen entgegengesetzt. Schultze zitiert ans Fichtes Reden an die deutsche Nation die berühmte Stelle, die mit den Worten schließt: „Es bleibt uns sonach nichts übrig, als schlechthin an alles ohne Ausnahme, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, sodaß diese nicht Bildung eines besondern Standes, sondern daß sie Bildung der Nation schlechthin als solcher und ohne alle Ausnahme einzelner Glieder werde." Nun weiß aber jedermann, daß die Volksschule noch nicht die Bildung mitteilt, sondern nur den Zugang zu ihr öffnet, und daß sie selbst erst später durch Lesen erworben wird. Daß höhere Geistesbildung die Lust und die Fähigkeit zu körperlicher Arbeit raube, bestreitet Schultze mit Recht. Er meint ganz richtig, die Scheu vor einem nützlichen Gebrauch der eignen Hände und Arme, die manche Kreise beherrscht, komme nicht von der Bildung, sondern von der Mode, und er Hütte noch anführen können, daß in dieser Beziehung ein Um¬ schwung eingetreten ist, seitdem sich die Söhne der höhern Stände in großer Zahl den technischen Fächern widmen und nach bestandner Abiturientenprüfung Schlössern oder in einer Grube arbeiten. In dieser Beziehung muß man es als einen Segen betrachten, daß die ausschließliche Herrschaft des Humanismus gebrochen ist; in den heute maßgebenden Kreisen entscheiden die mehr oder weniger „soignierten" Hände nicht mehr über die Gesellschaftsfähigkeit. Aller¬ dings giebt es auch Gegenströmungen, die aber nicht aus der humanistischen, auch nicht aus der höfisch-aristokratischen, sondern aus der plutokratischen Ecke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/363>, abgerufen am 22.07.2024.