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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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und bleibt die natürliche und unentbehrliche Grundlage aller Musikpflege;
wird sie für den unbekannten, oder unverstandnen Teil der Bachschen Kunst
gewonnen, so ist viel gewonnen. Die deutschen Familien, in denen noch, sei
es auch nnr an Sonntagabenden, einige geistliche Lieder gesungen werden,
sind ja in jedem Ort leicht zu zählen, aber erloschen ist die schöne Sitte noch
nicht. Kann sie überhaupt wieder erstarke", so wird das am ersten durch eine
Musik ermöglicht, wie die hier gebotne, Musik läßt sich bekanntlich nicht er¬
schöpfend beschreiben - - sonst brauchten wir sie nicht , aber wenn sie über¬
haupt Gehalt und Wert hat, läßt sich ein Begriff davon geben. Der bietet
sich hier um einfachsten durch einen Verweis auf die bekannten geistlichen Lieder
Wolfgang Francks, des ersten Klassikers der Gattung, von. dem wir glücklicher¬
weise jetzt ab und zu das "Sei uur still" oder ein andres seiner innigen und
reichen Stücke wieder in deu Kirchenkonzerten hören. Von dieser Franckschen
Art sind auch die Bachschen Lieder - einfach, volkstümlich, aber durch und
durch voll Leben, mit Empfindung und Phantasie bis in die kleinsten Spitzen
getränkt. Mit dem, Vergleich ist schon gesagt, daß sie keine eigentlichen
Kirchenlieder sind, obwohl sie zum ganz überwiegenden Teil zuerst in einem
Gesangbuch herausgekommen sind, und obwohl einzelne die Choralfermaten
haben. Wie das Frehliugshallseusche und andre Gesangbücher des achtzehnten
Jahrhunderts, so rechnete auch das Schemellische mehr als ans den Gottes¬
dienst auf die häuslichen Andachten, Das spricht sich in den Melodien selbst
ans, die viel freier gebant, flüssiger und rhhthmisch frischer siud als die zu
jener Zeit schon in Erstarrung geratnen Weisen des eigentlichen Gemeinde¬
gesangs,

Georg Christian Schemelli, Schloßlanlor in Zeitz, scheint dnrch seinen,
Sohn und Amtsnachfolger Christian Friedrich Schemelli, der im Jahre 1735
in Leipzig immatrikuliert wurde, mit Bach in Verbindung gekommen zu sein
und benutzte das, als er im Jahre 1736 ein Gesangbuch für das Stift Naum-
burg-Zeitz herausgab, das dem pietistischen Frehlinghnnsen Konkurrenz machen
und wie dieses zu deu Texte" auch Melodien bringen sollte. In demselben
Jahre war dnrch die berühmte "Singende Muse" des Sperontes die Komposi¬
tion einstimmiger Lieder mit Begleitung überhaupt in Deutschland wieder in
Fluß gekommen; den Sammlern und Herausgebern war für den Wettstreit an
berühmten Namen gelegen, und deu bot Bach wenigstens für den Sprengel,
um den es sich handelte. So macht denn auch die Vorrede des Scheinellischen
Gesangbuchs besonders darauf aufmerksam, "daß die in diesen, Mnsicalischen
Gesangbuch befindlichen Melodien von Sr, Hochedlen Herrn Johann Sebastian
Bach, Hochfürstlich-sächsischem Kapellmeister und Dirootoro oliori Nusioi in
Leipzig theils ganz neu eomponiret, theils auch von Ihm, im Generalbaß ver¬
bessert worden sind." Man hätte - heißt es dann weiter -- noch mehrere
beifügen können, und es lägen bei gutem Absatz der erstem Auflage noch andre
zweihundert zum Stiche bereit. Das ergiebt also mit den gedruckten eine
Summe von mehr als zweihundertsechzig von Bach komponierter oder be-


und bleibt die natürliche und unentbehrliche Grundlage aller Musikpflege;
wird sie für den unbekannten, oder unverstandnen Teil der Bachschen Kunst
gewonnen, so ist viel gewonnen. Die deutschen Familien, in denen noch, sei
es auch nnr an Sonntagabenden, einige geistliche Lieder gesungen werden,
sind ja in jedem Ort leicht zu zählen, aber erloschen ist die schöne Sitte noch
nicht. Kann sie überhaupt wieder erstarke», so wird das am ersten durch eine
Musik ermöglicht, wie die hier gebotne, Musik läßt sich bekanntlich nicht er¬
schöpfend beschreiben - - sonst brauchten wir sie nicht , aber wenn sie über¬
haupt Gehalt und Wert hat, läßt sich ein Begriff davon geben. Der bietet
sich hier um einfachsten durch einen Verweis auf die bekannten geistlichen Lieder
Wolfgang Francks, des ersten Klassikers der Gattung, von. dem wir glücklicher¬
weise jetzt ab und zu das „Sei uur still" oder ein andres seiner innigen und
reichen Stücke wieder in deu Kirchenkonzerten hören. Von dieser Franckschen
Art sind auch die Bachschen Lieder - einfach, volkstümlich, aber durch und
durch voll Leben, mit Empfindung und Phantasie bis in die kleinsten Spitzen
getränkt. Mit dem, Vergleich ist schon gesagt, daß sie keine eigentlichen
Kirchenlieder sind, obwohl sie zum ganz überwiegenden Teil zuerst in einem
Gesangbuch herausgekommen sind, und obwohl einzelne die Choralfermaten
haben. Wie das Frehliugshallseusche und andre Gesangbücher des achtzehnten
Jahrhunderts, so rechnete auch das Schemellische mehr als ans den Gottes¬
dienst auf die häuslichen Andachten, Das spricht sich in den Melodien selbst
ans, die viel freier gebant, flüssiger und rhhthmisch frischer siud als die zu
jener Zeit schon in Erstarrung geratnen Weisen des eigentlichen Gemeinde¬
gesangs,

Georg Christian Schemelli, Schloßlanlor in Zeitz, scheint dnrch seinen,
Sohn und Amtsnachfolger Christian Friedrich Schemelli, der im Jahre 1735
in Leipzig immatrikuliert wurde, mit Bach in Verbindung gekommen zu sein
und benutzte das, als er im Jahre 1736 ein Gesangbuch für das Stift Naum-
burg-Zeitz herausgab, das dem pietistischen Frehlinghnnsen Konkurrenz machen
und wie dieses zu deu Texte» auch Melodien bringen sollte. In demselben
Jahre war dnrch die berühmte „Singende Muse" des Sperontes die Komposi¬
tion einstimmiger Lieder mit Begleitung überhaupt in Deutschland wieder in
Fluß gekommen; den Sammlern und Herausgebern war für den Wettstreit an
berühmten Namen gelegen, und deu bot Bach wenigstens für den Sprengel,
um den es sich handelte. So macht denn auch die Vorrede des Scheinellischen
Gesangbuchs besonders darauf aufmerksam, „daß die in diesen, Mnsicalischen
Gesangbuch befindlichen Melodien von Sr, Hochedlen Herrn Johann Sebastian
Bach, Hochfürstlich-sächsischem Kapellmeister und Dirootoro oliori Nusioi in
Leipzig theils ganz neu eomponiret, theils auch von Ihm, im Generalbaß ver¬
bessert worden sind." Man hätte - heißt es dann weiter — noch mehrere
beifügen können, und es lägen bei gutem Absatz der erstem Auflage noch andre
zweihundert zum Stiche bereit. Das ergiebt also mit den gedruckten eine
Summe von mehr als zweihundertsechzig von Bach komponierter oder be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/324>, abgerufen am 22.07.2024.