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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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mehr Berufsfreudigkeit gewähren, "Es wächst der Mensch mit seinen größern
Zwecken," Während der heutige Kassenarzt gar keine Möglichkeit sieht, seine
Erfahrungen und Ansichten wegen der gesundheitsschädlichen Zustünde geltend
zu machen, würden von einer wcitansschauenden Versicherungsanstalt die Arzte
gewiß zu Jahresberichten angehalten werden und so ihr Material im Dienste
der öffentlichen Gesundheitspflege verwertet wissen. Habe ich z, B. als
Distriktskassena.rzt für alle im Baugewerbe thätigen Arbeiter täglich, jahraus
jahrein Gelegenheit, den gerade bei Maurern, Zimmerleuten, besonders den
Bauarbeitern so verbreiteten Alkoholismus mit seinen furchtbaren Folgen zu
beobachten, muß ich immer und immer wieder Leberschwellung, chronische
Magen- und Darmleiden, Herzbeschwerden, Verhärtung der Blutgefäße bei
mitunter durch jahrzehntelangen Alkoholmißbrauch verblödeten Leuten feststellen,
sehe ich, wie alle jüngern Elemente immer wieder diesem Laster zum Opfer
fallen, anfangs mit Widerwillen, aber machtlos gegenüber der unglückseligen
Einrichtung, daß die Poliere auf den Bauten den Vertrieb alkoholischer Ge¬
tränke haben und am Umsatz mit Gewinnprozenten interessiert sind, so bin ich
heute dem gegenüber nur ein Nezcpthandwerker, bekämpfe nur die Symptome,
ohne den eigentlichen Ursachen zu Leibe gehn zu können. Daß öffentliche
Mißstände bei den Bauhandwerkern und -arbeitern, und nicht individuelle
Anlage zum Alkoholismus eine große Rolle spielen, kann ich als einzelner
Beobachter schon daraus entnehmen, daß ich z. B. von der gesundheitlichen
und sittlichen Qualität der auch von mir täglich ärztlich behandelte" Metall¬
arbeiter einen ganz andern Eindruck empfangen habe. Ich denke mir nun,
eine Versicherungsanstalt würde die einzelnen Berichte, die keinen absoluten
Wert haben, von allen Baugewerksürzten sammeln und sichten, und sobald sich
aus der Gesamtheit der Beobachtungen ein öffentlicher Mißstand ergiebt, z, B.
daß die Poliere, die Vorgesetzten der Arbeiter, direkt Schaukstütten auf den
Bauten haben, durch Einwirkung auf die Bau- oder Gesundheitspolizei ihn zu
bekämpfen genug Autorität haben und den Kampf gegen ein solches Übel
durch Belehrung in Wort und Schrift noch schärfer und erfolgreicher führen.
Wie naheliegend ist es z, B, auch, daß die Landesversicherungsanstalten als
Träger der Krankenversicherung mit Hilfe des großen Netzes geschulter Ärzte der
zur Zeit so viel erörterten Wohnungsfrage ihr Augenmerk widmen, Enqueten
veranstalten darüber usw.

Wie soll uun aber die Arztfrage geregelt werden? Es ist recht und
billig als Prinzip aufzustellen, daß jedem approbierten Arzte, der sich um diese
Thätigkeit bewirbt, nach der Anciennität ein seinen Wünschen möglichst an¬
gemessener Arbeitsbereich zugewiesen wird. Nehmen wir um, es würden sich
15000 Ärzte an der kassenärztlichen Thätigkeit beteiligen wollen, so hätte
jeder Arzt nach der geplanten Ausdehnung der krankenversichernngspflichtigen
Bevölkerung auf etwa 12 Millionen achthundert Versicherte in seinem Distrikt.
Dann Hütte jeder Arzt seinen gleichmäßigen, versicheruugsärztlichen Arbeits¬
bereich, den er gründlich beherrschen könnte, als Grundlage einer Existenz,


mehr Berufsfreudigkeit gewähren, „Es wächst der Mensch mit seinen größern
Zwecken," Während der heutige Kassenarzt gar keine Möglichkeit sieht, seine
Erfahrungen und Ansichten wegen der gesundheitsschädlichen Zustünde geltend
zu machen, würden von einer wcitansschauenden Versicherungsanstalt die Arzte
gewiß zu Jahresberichten angehalten werden und so ihr Material im Dienste
der öffentlichen Gesundheitspflege verwertet wissen. Habe ich z, B. als
Distriktskassena.rzt für alle im Baugewerbe thätigen Arbeiter täglich, jahraus
jahrein Gelegenheit, den gerade bei Maurern, Zimmerleuten, besonders den
Bauarbeitern so verbreiteten Alkoholismus mit seinen furchtbaren Folgen zu
beobachten, muß ich immer und immer wieder Leberschwellung, chronische
Magen- und Darmleiden, Herzbeschwerden, Verhärtung der Blutgefäße bei
mitunter durch jahrzehntelangen Alkoholmißbrauch verblödeten Leuten feststellen,
sehe ich, wie alle jüngern Elemente immer wieder diesem Laster zum Opfer
fallen, anfangs mit Widerwillen, aber machtlos gegenüber der unglückseligen
Einrichtung, daß die Poliere auf den Bauten den Vertrieb alkoholischer Ge¬
tränke haben und am Umsatz mit Gewinnprozenten interessiert sind, so bin ich
heute dem gegenüber nur ein Nezcpthandwerker, bekämpfe nur die Symptome,
ohne den eigentlichen Ursachen zu Leibe gehn zu können. Daß öffentliche
Mißstände bei den Bauhandwerkern und -arbeitern, und nicht individuelle
Anlage zum Alkoholismus eine große Rolle spielen, kann ich als einzelner
Beobachter schon daraus entnehmen, daß ich z. B. von der gesundheitlichen
und sittlichen Qualität der auch von mir täglich ärztlich behandelte» Metall¬
arbeiter einen ganz andern Eindruck empfangen habe. Ich denke mir nun,
eine Versicherungsanstalt würde die einzelnen Berichte, die keinen absoluten
Wert haben, von allen Baugewerksürzten sammeln und sichten, und sobald sich
aus der Gesamtheit der Beobachtungen ein öffentlicher Mißstand ergiebt, z, B.
daß die Poliere, die Vorgesetzten der Arbeiter, direkt Schaukstütten auf den
Bauten haben, durch Einwirkung auf die Bau- oder Gesundheitspolizei ihn zu
bekämpfen genug Autorität haben und den Kampf gegen ein solches Übel
durch Belehrung in Wort und Schrift noch schärfer und erfolgreicher führen.
Wie naheliegend ist es z, B, auch, daß die Landesversicherungsanstalten als
Träger der Krankenversicherung mit Hilfe des großen Netzes geschulter Ärzte der
zur Zeit so viel erörterten Wohnungsfrage ihr Augenmerk widmen, Enqueten
veranstalten darüber usw.

Wie soll uun aber die Arztfrage geregelt werden? Es ist recht und
billig als Prinzip aufzustellen, daß jedem approbierten Arzte, der sich um diese
Thätigkeit bewirbt, nach der Anciennität ein seinen Wünschen möglichst an¬
gemessener Arbeitsbereich zugewiesen wird. Nehmen wir um, es würden sich
15000 Ärzte an der kassenärztlichen Thätigkeit beteiligen wollen, so hätte
jeder Arzt nach der geplanten Ausdehnung der krankenversichernngspflichtigen
Bevölkerung auf etwa 12 Millionen achthundert Versicherte in seinem Distrikt.
Dann Hütte jeder Arzt seinen gleichmäßigen, versicheruugsärztlichen Arbeits¬
bereich, den er gründlich beherrschen könnte, als Grundlage einer Existenz,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/316>, abgerufen am 22.07.2024.