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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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In der That hat die landesübliche gedankenlose Dogmatisierung von
Ansprüchen und Maßregeln Bismarcks, die doch immer einer ganz besondern
Lage entsprangen und in ihr begründet waren, ihr sehr Bedenkliches; sie ver¬
dunkelt nur die wirklichen Verhältnisse und erschwert den Deutsche,, das Ver
Stambuls der Gegenwart. Seine ganze auswärtige Politik war beherrscht von
dem Streben, eine große europäische Koalition gegen das neue Deutschland
zu verhindern, also unsre Reibuugsflächeu möglichst zu verkleinern. Er hat
deshalb gelegentlich Deutschland ein "saturiertes" Land genannt, das nichts
mehr erobern wolle. Das war sehr klug zu eiuer Zeit, wo es galt, das an¬
fangs sehr lebhafte Mißtrauen gegen das junge Reich zu beschwichtigen. Aber
soll und kann uns das für die fernste Zukunft binden, uns, denen das Haus
immer enger wird? Er hat wiederholt gesagt, Deutschland habe im Mittel¬
meer und'im türkische" Orient keine "direkten Interessen"; trifft das heute
noch zu, wo auch für uus das Mittelmeer als der nächste Weg unes Ost¬
afrika, Judien, China und der Südsee wichtig geworden ist. und die deutschen
Ingenieure in Kleinasien und Mesopotamien an der Arbeit sind? Er war
ganz zufrieden, wem: sich Rußland im äußersten Osten engagierte und "die
Wetterecke Europas" in Ruhe ließ; kann noch heute auch nur entfernt davon die
Rede sein, daß wir dem Zarenreiche ganz China ohne weiteres überlassen
sollen? Auch hat Bismarck sich über dieselben Dinge ganz natürlich zu ver-
schiednen Zeiten sehr verschieden geäußert, und er hat sehr verschieden gehandelt.
Er hat ein gutes Verhältnis zu Rußland immer empfohlen und auf der weiten
Welt nichts gesehen, was beide Länder in Gegensatz bringen müßte; aber er
hat 1879 das Bündnis mit Osterreich gegen Rußland geschlossen, zum Kummer
Kaiser Wilhelms, der die Spitze wenigstens umbog, und zweimal hat Deutschland
unter ihm dicht vor dein Kriege mit Rußland gestanden. Er wollte von einem
Bündnis oder auch nur von einem Einverständnis mit England nichts wissen,
schon weil ein solches das Mißtrauen Rußlands erregen müsse, aber er hat
sich in kolonialen Dingen mit England immer ganz gut vertragen und jeden
Gedanken an einen Bruch mit Englaud weit von sich gewiesen. Er hat 1866
dem kleiustantlichen Partikularismus das Haupt zerschmettert, und als dieser
politisch unschädlich geworden war, besonders nach 1890 das Festhalten an
jeder landschaftlichen Eigenart warm gepriesen; er hat in dieser Zeit oft genug
die sorgsamste Berücksichtigung der "Imponderabilien der Volksseele" empfohlen,
und doch in seinen ersten, die Zukunft Deutschlands entscheidenden Jahren seine
Politik im Widerspruch mit allen Imponderabilien der deutschen Volksseele ge¬
macht. Er hat die Erzeugnisse der Tagespresse geringschätzig als "Drucker¬
schwärze" bezeichnet, und doch sich ihrer in so ausgiebiger und mannigfaltiger
Weise bedient, wie kaum ein zweiter Staatsmann. Er hat, wie er selbst sagte,
die Monarchie in Preußen und in Deutschland wieder in den Sattel gehoben,
und später durch seiue fortlaufende öffentliche Kritik an den Handlungen seiner
Nachfolger zwar auf diese schwerlich Einfluß gewonnen, wohl aber -- das muß
einmal ehrlich gesagt werden -- nicht wenig dazu beigetragen, in den guten'


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In der That hat die landesübliche gedankenlose Dogmatisierung von
Ansprüchen und Maßregeln Bismarcks, die doch immer einer ganz besondern
Lage entsprangen und in ihr begründet waren, ihr sehr Bedenkliches; sie ver¬
dunkelt nur die wirklichen Verhältnisse und erschwert den Deutsche,, das Ver
Stambuls der Gegenwart. Seine ganze auswärtige Politik war beherrscht von
dem Streben, eine große europäische Koalition gegen das neue Deutschland
zu verhindern, also unsre Reibuugsflächeu möglichst zu verkleinern. Er hat
deshalb gelegentlich Deutschland ein „saturiertes" Land genannt, das nichts
mehr erobern wolle. Das war sehr klug zu eiuer Zeit, wo es galt, das an¬
fangs sehr lebhafte Mißtrauen gegen das junge Reich zu beschwichtigen. Aber
soll und kann uns das für die fernste Zukunft binden, uns, denen das Haus
immer enger wird? Er hat wiederholt gesagt, Deutschland habe im Mittel¬
meer und'im türkische» Orient keine „direkten Interessen"; trifft das heute
noch zu, wo auch für uus das Mittelmeer als der nächste Weg unes Ost¬
afrika, Judien, China und der Südsee wichtig geworden ist. und die deutschen
Ingenieure in Kleinasien und Mesopotamien an der Arbeit sind? Er war
ganz zufrieden, wem: sich Rußland im äußersten Osten engagierte und „die
Wetterecke Europas" in Ruhe ließ; kann noch heute auch nur entfernt davon die
Rede sein, daß wir dem Zarenreiche ganz China ohne weiteres überlassen
sollen? Auch hat Bismarck sich über dieselben Dinge ganz natürlich zu ver-
schiednen Zeiten sehr verschieden geäußert, und er hat sehr verschieden gehandelt.
Er hat ein gutes Verhältnis zu Rußland immer empfohlen und auf der weiten
Welt nichts gesehen, was beide Länder in Gegensatz bringen müßte; aber er
hat 1879 das Bündnis mit Osterreich gegen Rußland geschlossen, zum Kummer
Kaiser Wilhelms, der die Spitze wenigstens umbog, und zweimal hat Deutschland
unter ihm dicht vor dein Kriege mit Rußland gestanden. Er wollte von einem
Bündnis oder auch nur von einem Einverständnis mit England nichts wissen,
schon weil ein solches das Mißtrauen Rußlands erregen müsse, aber er hat
sich in kolonialen Dingen mit England immer ganz gut vertragen und jeden
Gedanken an einen Bruch mit Englaud weit von sich gewiesen. Er hat 1866
dem kleiustantlichen Partikularismus das Haupt zerschmettert, und als dieser
politisch unschädlich geworden war, besonders nach 1890 das Festhalten an
jeder landschaftlichen Eigenart warm gepriesen; er hat in dieser Zeit oft genug
die sorgsamste Berücksichtigung der „Imponderabilien der Volksseele" empfohlen,
und doch in seinen ersten, die Zukunft Deutschlands entscheidenden Jahren seine
Politik im Widerspruch mit allen Imponderabilien der deutschen Volksseele ge¬
macht. Er hat die Erzeugnisse der Tagespresse geringschätzig als „Drucker¬
schwärze" bezeichnet, und doch sich ihrer in so ausgiebiger und mannigfaltiger
Weise bedient, wie kaum ein zweiter Staatsmann. Er hat, wie er selbst sagte,
die Monarchie in Preußen und in Deutschland wieder in den Sattel gehoben,
und später durch seiue fortlaufende öffentliche Kritik an den Handlungen seiner
Nachfolger zwar auf diese schwerlich Einfluß gewonnen, wohl aber — das muß
einmal ehrlich gesagt werden — nicht wenig dazu beigetragen, in den guten'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/305>, abgerufen am 22.07.2024.