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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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mit der Bedeutung und dem vorbildlichen Wert der römischen ein starkes
Minus. Daß die griechischen Gemeinwesen, die wir mit einer gewissen Hyperbel
Staaten zu nennen pflegen, Zwerggebilde waren -- kaum die größten hatten
den Umfang eines mittlern preußischen Regierungsbezirks --, soll nicht zu
ihren Ungunsten in die Wage gelegt werden, weil ja die Einfachheit für den
Unterrichtszweck ein Vorzug ist. Beträchtlich aber wird der Allsfall auf der
Seite der Griechen, wenn wir auf ihre politischen Fähigkeiten und Tugenden
sehen. Wie wenige unter den vielen Männern, die im öffentlichen Leben
Griechenlands hervortreten, widmen sich uneigennützig dem Dienst des Staats!
Der individuelle Trieb, der den Hellenen eigentümlich ist und auf andern Ge¬
bieten eine Quelle ihrer Größe wird, entartet im politischen Leben zur Un¬
fähigkeit, sich ein- und unterzuordnen; das persönliche Interesse und die Partei
gehn vor, und unter den Parteien selbst gewinnen hier schneller, dort lang¬
samer die den Sieg, die den Leidenschaften und Instinkten der Vielen schmeicheln.
Und wie im kleinen, so im großen! In der wichtigen, über die politische
Existenz des Volks entscheidenden Frage der nationalen Einigung kommt es
über einige Anläufe nicht hinaus, sogar in Augenblicken tödlicher Gefahr, als
die asiatischen Horden das Land überschwemmen, lassen ganze Städte und
Landschaften die gemeinsame Sache gleichgiltig oder verräterisch im Stich. Ja
zwei Generationen später ist man so weit heruntergekommen, daß die ehemaligen
Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit wetteifernd ihr Hcllenentnm schänden,
indem sie im Bruderkrieg um die Hilfe der Barbaren betteln.

Vorbildlich ist die politische Geschichte der Griechen in einzelnen Ereig¬
nissen und Männern, als Gesamtentwicklung dagegen nur im Sinne eines
warnenden Beispiels. Dabei treten die Ideen, von denen sie beherrscht war,
so einfach und deutlich hervor, daß sie von selbst zur Zerlegung in übersicht¬
liche Gruppen auffordern: die Entwicklung der bürgerlichen Freiheit in den
Städten, deren Verteidigung gegen die Perser, die Überwindung der athenischen
Einheitsbestrebungen durch den Dualismus, der Kampf um die Hegemonie bis
zur völligen Zersplitterung, die Unterwerfung unter Makedonien, endlich die
Ausbreitung der hellenischen Kultur im Reiche Alexanders des Großen. Mit
Ausnahme des letzten enthalten diese Vorgänge kein Problem, das nicht schon
auf der untern Stufe dem Verständnis nahe gebracht werden kann. Zudem
bringen die Schiller der griechischen Geschichte -- die darum in der Quarta
mit Recht den größer" Raum beansprucht -- wegen ihres starken Gehalts an
biographischen Elementen durchgehends ein größeres Interesse entgegen als
der römischen. Auch das ist von einigem Belang für die Frage, ob sie sich
auch auf der obern Stufe mit der römischen zu gleichen Hälften in die Unter¬
richtszeit zu teilen habe. Aber noch ein weiterer Grund kommt hinzu, das
Verhältnis noch mehr zu ihrem Vorteil zu verschieben: die überaus wirksame
Unterstützung durch die griechische Lektüre. Denn dieser stehn für die zwei
Jahrhunderte, in die sich die großen Ereignisse der griechischen Geschichte zu¬
sammendrängen, eine Anzahl der besten zeitgenössischen Autoren zur Verfügung:


mit der Bedeutung und dem vorbildlichen Wert der römischen ein starkes
Minus. Daß die griechischen Gemeinwesen, die wir mit einer gewissen Hyperbel
Staaten zu nennen pflegen, Zwerggebilde waren — kaum die größten hatten
den Umfang eines mittlern preußischen Regierungsbezirks —, soll nicht zu
ihren Ungunsten in die Wage gelegt werden, weil ja die Einfachheit für den
Unterrichtszweck ein Vorzug ist. Beträchtlich aber wird der Allsfall auf der
Seite der Griechen, wenn wir auf ihre politischen Fähigkeiten und Tugenden
sehen. Wie wenige unter den vielen Männern, die im öffentlichen Leben
Griechenlands hervortreten, widmen sich uneigennützig dem Dienst des Staats!
Der individuelle Trieb, der den Hellenen eigentümlich ist und auf andern Ge¬
bieten eine Quelle ihrer Größe wird, entartet im politischen Leben zur Un¬
fähigkeit, sich ein- und unterzuordnen; das persönliche Interesse und die Partei
gehn vor, und unter den Parteien selbst gewinnen hier schneller, dort lang¬
samer die den Sieg, die den Leidenschaften und Instinkten der Vielen schmeicheln.
Und wie im kleinen, so im großen! In der wichtigen, über die politische
Existenz des Volks entscheidenden Frage der nationalen Einigung kommt es
über einige Anläufe nicht hinaus, sogar in Augenblicken tödlicher Gefahr, als
die asiatischen Horden das Land überschwemmen, lassen ganze Städte und
Landschaften die gemeinsame Sache gleichgiltig oder verräterisch im Stich. Ja
zwei Generationen später ist man so weit heruntergekommen, daß die ehemaligen
Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit wetteifernd ihr Hcllenentnm schänden,
indem sie im Bruderkrieg um die Hilfe der Barbaren betteln.

Vorbildlich ist die politische Geschichte der Griechen in einzelnen Ereig¬
nissen und Männern, als Gesamtentwicklung dagegen nur im Sinne eines
warnenden Beispiels. Dabei treten die Ideen, von denen sie beherrscht war,
so einfach und deutlich hervor, daß sie von selbst zur Zerlegung in übersicht¬
liche Gruppen auffordern: die Entwicklung der bürgerlichen Freiheit in den
Städten, deren Verteidigung gegen die Perser, die Überwindung der athenischen
Einheitsbestrebungen durch den Dualismus, der Kampf um die Hegemonie bis
zur völligen Zersplitterung, die Unterwerfung unter Makedonien, endlich die
Ausbreitung der hellenischen Kultur im Reiche Alexanders des Großen. Mit
Ausnahme des letzten enthalten diese Vorgänge kein Problem, das nicht schon
auf der untern Stufe dem Verständnis nahe gebracht werden kann. Zudem
bringen die Schiller der griechischen Geschichte — die darum in der Quarta
mit Recht den größer» Raum beansprucht — wegen ihres starken Gehalts an
biographischen Elementen durchgehends ein größeres Interesse entgegen als
der römischen. Auch das ist von einigem Belang für die Frage, ob sie sich
auch auf der obern Stufe mit der römischen zu gleichen Hälften in die Unter¬
richtszeit zu teilen habe. Aber noch ein weiterer Grund kommt hinzu, das
Verhältnis noch mehr zu ihrem Vorteil zu verschieben: die überaus wirksame
Unterstützung durch die griechische Lektüre. Denn dieser stehn für die zwei
Jahrhunderte, in die sich die großen Ereignisse der griechischen Geschichte zu¬
sammendrängen, eine Anzahl der besten zeitgenössischen Autoren zur Verfügung:


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[0271] mit der Bedeutung und dem vorbildlichen Wert der römischen ein starkes Minus. Daß die griechischen Gemeinwesen, die wir mit einer gewissen Hyperbel Staaten zu nennen pflegen, Zwerggebilde waren — kaum die größten hatten den Umfang eines mittlern preußischen Regierungsbezirks —, soll nicht zu ihren Ungunsten in die Wage gelegt werden, weil ja die Einfachheit für den Unterrichtszweck ein Vorzug ist. Beträchtlich aber wird der Allsfall auf der Seite der Griechen, wenn wir auf ihre politischen Fähigkeiten und Tugenden sehen. Wie wenige unter den vielen Männern, die im öffentlichen Leben Griechenlands hervortreten, widmen sich uneigennützig dem Dienst des Staats! Der individuelle Trieb, der den Hellenen eigentümlich ist und auf andern Ge¬ bieten eine Quelle ihrer Größe wird, entartet im politischen Leben zur Un¬ fähigkeit, sich ein- und unterzuordnen; das persönliche Interesse und die Partei gehn vor, und unter den Parteien selbst gewinnen hier schneller, dort lang¬ samer die den Sieg, die den Leidenschaften und Instinkten der Vielen schmeicheln. Und wie im kleinen, so im großen! In der wichtigen, über die politische Existenz des Volks entscheidenden Frage der nationalen Einigung kommt es über einige Anläufe nicht hinaus, sogar in Augenblicken tödlicher Gefahr, als die asiatischen Horden das Land überschwemmen, lassen ganze Städte und Landschaften die gemeinsame Sache gleichgiltig oder verräterisch im Stich. Ja zwei Generationen später ist man so weit heruntergekommen, daß die ehemaligen Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit wetteifernd ihr Hcllenentnm schänden, indem sie im Bruderkrieg um die Hilfe der Barbaren betteln. Vorbildlich ist die politische Geschichte der Griechen in einzelnen Ereig¬ nissen und Männern, als Gesamtentwicklung dagegen nur im Sinne eines warnenden Beispiels. Dabei treten die Ideen, von denen sie beherrscht war, so einfach und deutlich hervor, daß sie von selbst zur Zerlegung in übersicht¬ liche Gruppen auffordern: die Entwicklung der bürgerlichen Freiheit in den Städten, deren Verteidigung gegen die Perser, die Überwindung der athenischen Einheitsbestrebungen durch den Dualismus, der Kampf um die Hegemonie bis zur völligen Zersplitterung, die Unterwerfung unter Makedonien, endlich die Ausbreitung der hellenischen Kultur im Reiche Alexanders des Großen. Mit Ausnahme des letzten enthalten diese Vorgänge kein Problem, das nicht schon auf der untern Stufe dem Verständnis nahe gebracht werden kann. Zudem bringen die Schiller der griechischen Geschichte — die darum in der Quarta mit Recht den größer» Raum beansprucht — wegen ihres starken Gehalts an biographischen Elementen durchgehends ein größeres Interesse entgegen als der römischen. Auch das ist von einigem Belang für die Frage, ob sie sich auch auf der obern Stufe mit der römischen zu gleichen Hälften in die Unter¬ richtszeit zu teilen habe. Aber noch ein weiterer Grund kommt hinzu, das Verhältnis noch mehr zu ihrem Vorteil zu verschieben: die überaus wirksame Unterstützung durch die griechische Lektüre. Denn dieser stehn für die zwei Jahrhunderte, in die sich die großen Ereignisse der griechischen Geschichte zu¬ sammendrängen, eine Anzahl der besten zeitgenössischen Autoren zur Verfügung:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/271>, abgerufen am 22.07.2024.