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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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den Grund geht, um so mehr wird man sich überzeugen müssen, daß seiue
Lösung ebenso auf dem Lande liegt wie in der Stadt. Man soll sich hüten, durch
fortgesetzte einseitige Fürsorge für die städtische Arbeiterschaft die "Spannung"
zwischen Stadt und Land fortgesetzt zu verschärfen. Es ist z. B. ganz berechtigt,
daß den Straßenbahnen die Verpflichtung auferlegt werden sollte, die Kinder
großstädtischer Arbeiter schnell, bequem und sicher zur Schule zu befördern,
aber vergessen sollte man dabei nicht, wie es damit auf dem Lande im Osten
noch sehr vielfach bestellt ist, wo in Sturm, Regen und Schnee die Kinder oft
stundenlang über Feld und Wald auf grundlosen Wegen zur Schule gehn
müssen. Das ist ein kleines Beispiel für viele und große.

Ganz besonders ist es für die meines Erachtens einseitige Auffassung uicht
allein Ranchbergs, sondern des ganzen nicht in einseitig agrarischer Richtung
segelnden, sozusagen linken Flügels der modernen Nationalökonomen bezeichnend,
wenn er sich schließlich bei der in der Hauptsache berechtigten Zurückweisung
der Behauptung, die industrielle Entwicklung vermindre die Wehrhaftigkeit der
Nation, folgendermaßen äußert. Die Veränderungen der Berufsgliederung
beruhten zumeist auf Verhältnisse", die durch die staatliche Wirtschafts- und
Sozialpolitik kaum geändert werden könnten: auf dem von dem Stande der
Technik abhängenden Grad der Produktivität, auf der Beschränktheit des Grund
und Bodens, auf der Grnndbesitzverteilung und Arbeitsverfasfung, ans den
freiern und reichern Entwicklungsmöglichkeiten der Industrie und der durch
Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen geregelte" Ausgleichung der Bevölkernngs-
spaunuugen. Wir hätten dabei keine freie Wahl. Wohl aber sei es möglich,
in die äußern Lebensverhältnisse der industriellen und der städtischen Bevölke¬
rung einzugreifen: den Akklimatisationsprozeß der nen eintretenden Elemente
zu fördern und planmüßig die Bedingungen herzustellen, nnter denen die volle
körperliche Rüstigkeit auch auf dem Boden der städtischen und der industriellen
Kultur gewahrt bleibe. Je weiter die praktische Sozialpolitik auf diesem Wege
fortschreite, desto mehr werde sich die physische Leistungsfähigkeit der industriellen
und der städtischen Bevölkerung heben, und es scheine ihm höchst zweifelhaft
zu sein, ob die Landwirtschaft ihre Überlegenheit in dieser Richtung auch
fernerhin werde behaupten können. Jedenfalls werde dieser Weg eher zum
Ziele führen als "die phantastischen Projekte innerer Kolonisation im größten
Maßstabe," so sympathisch er auch "für seine Person" allen Bestrebungen
gegenüberstehe, die eine weitere Verstärkung des Bauernstandes zum Zweck
hätten.

Also eine Sozinlreform auf dem Lande, soweit man darunter die Hebung
der Arbeiterklasse versteht, gilt ihm gar nichts. All sein praktisches Interesse
konzentriert sich auf die industrielle, städtische Arbeiterschaft, für das Land
bleibt nur die platonische Sympathie für die "Bauern," die doch seit ihrer
Emanzipation nicht mehr mit der Landarbeiterschcist zusammenfallen. Das
heißt doch die Sache von einem doktrinären einseitigen, die Wirklichkeit igno¬
rierenden Standpunkt beurteile", der in der Praxis zu schlimmen Konsequenzen


den Grund geht, um so mehr wird man sich überzeugen müssen, daß seiue
Lösung ebenso auf dem Lande liegt wie in der Stadt. Man soll sich hüten, durch
fortgesetzte einseitige Fürsorge für die städtische Arbeiterschaft die „Spannung"
zwischen Stadt und Land fortgesetzt zu verschärfen. Es ist z. B. ganz berechtigt,
daß den Straßenbahnen die Verpflichtung auferlegt werden sollte, die Kinder
großstädtischer Arbeiter schnell, bequem und sicher zur Schule zu befördern,
aber vergessen sollte man dabei nicht, wie es damit auf dem Lande im Osten
noch sehr vielfach bestellt ist, wo in Sturm, Regen und Schnee die Kinder oft
stundenlang über Feld und Wald auf grundlosen Wegen zur Schule gehn
müssen. Das ist ein kleines Beispiel für viele und große.

Ganz besonders ist es für die meines Erachtens einseitige Auffassung uicht
allein Ranchbergs, sondern des ganzen nicht in einseitig agrarischer Richtung
segelnden, sozusagen linken Flügels der modernen Nationalökonomen bezeichnend,
wenn er sich schließlich bei der in der Hauptsache berechtigten Zurückweisung
der Behauptung, die industrielle Entwicklung vermindre die Wehrhaftigkeit der
Nation, folgendermaßen äußert. Die Veränderungen der Berufsgliederung
beruhten zumeist auf Verhältnisse», die durch die staatliche Wirtschafts- und
Sozialpolitik kaum geändert werden könnten: auf dem von dem Stande der
Technik abhängenden Grad der Produktivität, auf der Beschränktheit des Grund
und Bodens, auf der Grnndbesitzverteilung und Arbeitsverfasfung, ans den
freiern und reichern Entwicklungsmöglichkeiten der Industrie und der durch
Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen geregelte» Ausgleichung der Bevölkernngs-
spaunuugen. Wir hätten dabei keine freie Wahl. Wohl aber sei es möglich,
in die äußern Lebensverhältnisse der industriellen und der städtischen Bevölke¬
rung einzugreifen: den Akklimatisationsprozeß der nen eintretenden Elemente
zu fördern und planmüßig die Bedingungen herzustellen, nnter denen die volle
körperliche Rüstigkeit auch auf dem Boden der städtischen und der industriellen
Kultur gewahrt bleibe. Je weiter die praktische Sozialpolitik auf diesem Wege
fortschreite, desto mehr werde sich die physische Leistungsfähigkeit der industriellen
und der städtischen Bevölkerung heben, und es scheine ihm höchst zweifelhaft
zu sein, ob die Landwirtschaft ihre Überlegenheit in dieser Richtung auch
fernerhin werde behaupten können. Jedenfalls werde dieser Weg eher zum
Ziele führen als „die phantastischen Projekte innerer Kolonisation im größten
Maßstabe," so sympathisch er auch „für seine Person" allen Bestrebungen
gegenüberstehe, die eine weitere Verstärkung des Bauernstandes zum Zweck
hätten.

Also eine Sozinlreform auf dem Lande, soweit man darunter die Hebung
der Arbeiterklasse versteht, gilt ihm gar nichts. All sein praktisches Interesse
konzentriert sich auf die industrielle, städtische Arbeiterschaft, für das Land
bleibt nur die platonische Sympathie für die „Bauern," die doch seit ihrer
Emanzipation nicht mehr mit der Landarbeiterschcist zusammenfallen. Das
heißt doch die Sache von einem doktrinären einseitigen, die Wirklichkeit igno¬
rierenden Standpunkt beurteile», der in der Praxis zu schlimmen Konsequenzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/262>, abgerufen am 03.07.2024.