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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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der Wohnungsnot könne wohl vorübergehend den Erfolg haben, daß Woh¬
nungen in größerer Anzahl und zu billigern Preisen hergestellt lind angeboten
würden; auf die Dauer aber nützte sie nur der Terrainspeknlation. Nur
dann werde die Veräußerung von Gemeindegrundstückeu zur Herstellung kleiner
Wohnungen zugelassen werden können, wenn der Gemeinde ein dingliches Vor¬
kaufsrecht vorbehalten werde, oder wenn sonst hinreichende Sicherheit dafür
gegeben sei, daß die Grundstücke der Privatspekulation entzogen blieben.

Der Erlaß an die Regierungspräsidenten hat, wie man sieht, mit dem
Wohnungswesen der landwirtschaftlichen Bevölkerung nichts zu thun. Auch
der zugleich an die Oberpräsidenten unter Mitzeichnung des Landwirtschafts¬
ministers gerichtete Erlaß berührt die landwirtschaftlichen Verhältnisse nur
insoweit, als er die Ausarbeitung vou Polizeiverordnungen über die Unter¬
bringung der Arbeiter verlangt, die in Gewerbe- oder Landwirtschaftsbetrieben,
beim Bergball oder bei Bauten beschäftigt sind, wobei an sogenannte Arbeiter¬
kasernen, Schlafhänser usw, gedacht ist, wie sie in der Landwirtschaft haupt¬
sächlich mir für die sogenannten Sachsengänger und andre vorübergehend
herangezogne ortsfremde Arbeiter gebraucht werden. Die dauernden Wohn¬
verhältnisse der landivirtschaftlichen Arbeiterbevölkerung werden dadurch nicht
berührt. Es truü danach so scheine", als ob die ganze Aktion, auch die um¬
fassende gesetzgeberische, die vorbereitet wird, wesentlich auf die Wohnnngs-
und Bodenpolitik in Industrieorten, namentlich aber in den Großstädten ab¬
zielte, und nicht zugleich auf die des sogenannten platten Landes. Es würde
das dem entsprechen, was die moderne nationalökonomische und soziologische
Schule zunächst als die Wohn- lind Bodenreform behandelt, indem sie dringend
verlangt, daß von Staats und Gemeinde wegen den arbeitenden Klassen in
den Industriezentren billigere und sehr viel bessere Wohngelegenheit verschafft
werde, wozu eine die bisherige Grundeigentumsverfassuug mehr oder weniger
radikal umgestaltende Bodenpolitik unerläßlich sei.

Bei aller Anerkennung der Berechtigung dieser Bestrebungen im all¬
gemeinen kann ich mich doch der Befürchtung nicht verschließen, daß eine
durchgreifende gesetzliche Neugestaltung der großstädtischen Wohnnngs- und
Bodenpolitik allein ° im Sinne dieser Sozialreformer ohne unausgesetzte, ein¬
gehendste Berücksichtigung der Verhältnisse des platten Landes und der är.nem
landwirtschaftlichen Bevölkerung, ja ohne daß zugleich eine fast ebenso um-
fassende Sozial-, Wohnnngs- und Bodenreform in den landunrtschaftlrchen Ge¬
meinden und Kreisen in Angriff genommen würde, leicht zum Schaden deo
Gesamtwohls ausschlagen könnte. Je mehr man den Judustriearbeckeru das
Wohnen in der Großstadt, oder was ihr gleichkommt, verbessert, verschont ver¬
billigt, um so mehr wird wahrscheinlich nicht uur das Zuströmen der land¬
wirtschaftlichen Arbeiterschaft zur Industrie, sondern auch dre örtliche Konzen¬
tration der Industrie selbst befördert werden, was beides doch wohl sehr un¬
erwünscht ist vollends jetzt, wo die rapide Zunahme der Jnduswebevölkernug
und der Großstädte schon in weiten Bezirken des Reichs zu akuten Arbeitcr-


Ärenzboten II 1901

der Wohnungsnot könne wohl vorübergehend den Erfolg haben, daß Woh¬
nungen in größerer Anzahl und zu billigern Preisen hergestellt lind angeboten
würden; auf die Dauer aber nützte sie nur der Terrainspeknlation. Nur
dann werde die Veräußerung von Gemeindegrundstückeu zur Herstellung kleiner
Wohnungen zugelassen werden können, wenn der Gemeinde ein dingliches Vor¬
kaufsrecht vorbehalten werde, oder wenn sonst hinreichende Sicherheit dafür
gegeben sei, daß die Grundstücke der Privatspekulation entzogen blieben.

Der Erlaß an die Regierungspräsidenten hat, wie man sieht, mit dem
Wohnungswesen der landwirtschaftlichen Bevölkerung nichts zu thun. Auch
der zugleich an die Oberpräsidenten unter Mitzeichnung des Landwirtschafts¬
ministers gerichtete Erlaß berührt die landwirtschaftlichen Verhältnisse nur
insoweit, als er die Ausarbeitung vou Polizeiverordnungen über die Unter¬
bringung der Arbeiter verlangt, die in Gewerbe- oder Landwirtschaftsbetrieben,
beim Bergball oder bei Bauten beschäftigt sind, wobei an sogenannte Arbeiter¬
kasernen, Schlafhänser usw, gedacht ist, wie sie in der Landwirtschaft haupt¬
sächlich mir für die sogenannten Sachsengänger und andre vorübergehend
herangezogne ortsfremde Arbeiter gebraucht werden. Die dauernden Wohn¬
verhältnisse der landivirtschaftlichen Arbeiterbevölkerung werden dadurch nicht
berührt. Es truü danach so scheine», als ob die ganze Aktion, auch die um¬
fassende gesetzgeberische, die vorbereitet wird, wesentlich auf die Wohnnngs-
und Bodenpolitik in Industrieorten, namentlich aber in den Großstädten ab¬
zielte, und nicht zugleich auf die des sogenannten platten Landes. Es würde
das dem entsprechen, was die moderne nationalökonomische und soziologische
Schule zunächst als die Wohn- lind Bodenreform behandelt, indem sie dringend
verlangt, daß von Staats und Gemeinde wegen den arbeitenden Klassen in
den Industriezentren billigere und sehr viel bessere Wohngelegenheit verschafft
werde, wozu eine die bisherige Grundeigentumsverfassuug mehr oder weniger
radikal umgestaltende Bodenpolitik unerläßlich sei.

Bei aller Anerkennung der Berechtigung dieser Bestrebungen im all¬
gemeinen kann ich mich doch der Befürchtung nicht verschließen, daß eine
durchgreifende gesetzliche Neugestaltung der großstädtischen Wohnnngs- und
Bodenpolitik allein ° im Sinne dieser Sozialreformer ohne unausgesetzte, ein¬
gehendste Berücksichtigung der Verhältnisse des platten Landes und der är.nem
landwirtschaftlichen Bevölkerung, ja ohne daß zugleich eine fast ebenso um-
fassende Sozial-, Wohnnngs- und Bodenreform in den landunrtschaftlrchen Ge¬
meinden und Kreisen in Angriff genommen würde, leicht zum Schaden deo
Gesamtwohls ausschlagen könnte. Je mehr man den Judustriearbeckeru das
Wohnen in der Großstadt, oder was ihr gleichkommt, verbessert, verschont ver¬
billigt, um so mehr wird wahrscheinlich nicht uur das Zuströmen der land¬
wirtschaftlichen Arbeiterschaft zur Industrie, sondern auch dre örtliche Konzen¬
tration der Industrie selbst befördert werden, was beides doch wohl sehr un¬
erwünscht ist vollends jetzt, wo die rapide Zunahme der Jnduswebevölkernug
und der Großstädte schon in weiten Bezirken des Reichs zu akuten Arbeitcr-


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[0257] der Wohnungsnot könne wohl vorübergehend den Erfolg haben, daß Woh¬ nungen in größerer Anzahl und zu billigern Preisen hergestellt lind angeboten würden; auf die Dauer aber nützte sie nur der Terrainspeknlation. Nur dann werde die Veräußerung von Gemeindegrundstückeu zur Herstellung kleiner Wohnungen zugelassen werden können, wenn der Gemeinde ein dingliches Vor¬ kaufsrecht vorbehalten werde, oder wenn sonst hinreichende Sicherheit dafür gegeben sei, daß die Grundstücke der Privatspekulation entzogen blieben. Der Erlaß an die Regierungspräsidenten hat, wie man sieht, mit dem Wohnungswesen der landwirtschaftlichen Bevölkerung nichts zu thun. Auch der zugleich an die Oberpräsidenten unter Mitzeichnung des Landwirtschafts¬ ministers gerichtete Erlaß berührt die landwirtschaftlichen Verhältnisse nur insoweit, als er die Ausarbeitung vou Polizeiverordnungen über die Unter¬ bringung der Arbeiter verlangt, die in Gewerbe- oder Landwirtschaftsbetrieben, beim Bergball oder bei Bauten beschäftigt sind, wobei an sogenannte Arbeiter¬ kasernen, Schlafhänser usw, gedacht ist, wie sie in der Landwirtschaft haupt¬ sächlich mir für die sogenannten Sachsengänger und andre vorübergehend herangezogne ortsfremde Arbeiter gebraucht werden. Die dauernden Wohn¬ verhältnisse der landivirtschaftlichen Arbeiterbevölkerung werden dadurch nicht berührt. Es truü danach so scheine», als ob die ganze Aktion, auch die um¬ fassende gesetzgeberische, die vorbereitet wird, wesentlich auf die Wohnnngs- und Bodenpolitik in Industrieorten, namentlich aber in den Großstädten ab¬ zielte, und nicht zugleich auf die des sogenannten platten Landes. Es würde das dem entsprechen, was die moderne nationalökonomische und soziologische Schule zunächst als die Wohn- lind Bodenreform behandelt, indem sie dringend verlangt, daß von Staats und Gemeinde wegen den arbeitenden Klassen in den Industriezentren billigere und sehr viel bessere Wohngelegenheit verschafft werde, wozu eine die bisherige Grundeigentumsverfassuug mehr oder weniger radikal umgestaltende Bodenpolitik unerläßlich sei. Bei aller Anerkennung der Berechtigung dieser Bestrebungen im all¬ gemeinen kann ich mich doch der Befürchtung nicht verschließen, daß eine durchgreifende gesetzliche Neugestaltung der großstädtischen Wohnnngs- und Bodenpolitik allein ° im Sinne dieser Sozialreformer ohne unausgesetzte, ein¬ gehendste Berücksichtigung der Verhältnisse des platten Landes und der är.nem landwirtschaftlichen Bevölkerung, ja ohne daß zugleich eine fast ebenso um- fassende Sozial-, Wohnnngs- und Bodenreform in den landunrtschaftlrchen Ge¬ meinden und Kreisen in Angriff genommen würde, leicht zum Schaden deo Gesamtwohls ausschlagen könnte. Je mehr man den Judustriearbeckeru das Wohnen in der Großstadt, oder was ihr gleichkommt, verbessert, verschont ver¬ billigt, um so mehr wird wahrscheinlich nicht uur das Zuströmen der land¬ wirtschaftlichen Arbeiterschaft zur Industrie, sondern auch dre örtliche Konzen¬ tration der Industrie selbst befördert werden, was beides doch wohl sehr un¬ erwünscht ist vollends jetzt, wo die rapide Zunahme der Jnduswebevölkernug und der Großstädte schon in weiten Bezirken des Reichs zu akuten Arbeitcr- Ärenzboten II 1901

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/257>, abgerufen am 22.07.2024.