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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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die Vergangenheit lebendig bis in nlle Einzelheiten vergegenwärtigt hat! Und
das gehörte auch zu der Theorie, die er sich über die Aufgabe des Historikers
gemacht hatte: "Ich will freudig den Vorwurf hinnehmen, sagt er auf einer der
ersten Seiten seines großen Werkes, der Würde der Geschichte etwas vergeben
zu haben, wenn es mir dafür gelingt, den Engländern des neunzehnten Jahr¬
hunderts ein treues Bild von dein Leben ihrer Vorfahren vor Augen zu
führen." Über den Ausdruck "Würde der Geschichte" spottet er häufig. Die
Tragödie habe ihre Würde ebenso wie die Geschichte, und wieviel die tragische
Kunst der Würde verdankt habe, das könne jeder ermessen, der die majestä¬
tischen Alexandriner, in denen der Seigneur Oreste nud die Madame Andro-
maqne ihre Klagen äußerten, vergleichen wolle mit dem Plappern des Narren
im Lear oder dem der Amme in Romeo und Julia. An einer andern Stelle
sagt er: "Die Majestät der Geschichte scheint der Majestät des armen Königs
von Spanien zu gleichen, der als Märtyrer des Zeremoniells starb, weil die
geeigneten Würdenträger nicht zur Stelle waren, die ihm hätten Hilfe leisten
können." Macaulay will, daß die Dctailschilderungen als notwendiger Be¬
standteil der Geschichte aufgefaßt werden. So verlangt er von dem Historiker
der englischen Bürgerkriege, daß er von den Scharmützeln nur mit verständ¬
licher Kürze spreche, sie seien nur Bindeglieder. "Aber die großen charakte¬
ristischen Merkmale der Zeit, die königstreue Begeisterung des tapfern eng¬
lischen Landedelmanns, die trotzige Zügellosigkeit der fluchenden, spielenden,
betrunkneu Schelme, deren Ausschweifungen die Sache des Königs entehrten --
die strenge Beobachtung des presbyterianischer Sabbaths in der City, die
Überschwenglichkeit des unabhängigen Predigers im Lager, die gleichmäßig zu-
geschnittue Kleidung, der ernste Gesichtsausdruck, die kleinlichen Gewissensbisse,
der affektierte Tonfall, die abgeschmackten Namen und Sätze, die den Puritaner
kennzeichneten - der Mut, die Staatskunst, der Geist des Gemeinwohls, die
unter dieser wenig anmutigen Hülle versteckt lagen, die Träume derer, die das
tausendjährige Reich Christi einzusetzen suchten, und die kaum weniger aus¬
schweifende" Träume des philosophischen Republikaners -- alles dies müßte
in die Darstellung aufgenommen werden, die dadurch genauer und zugleich
interessanter gestaltet wird."

Von den feinen Detailschilderuugen Maeaulays, die sich jedem Leser ins
Gedächtnis eingraben, gebe ich keine Beispiele, weil ich hier nicht wüßte, wo
ich anfangen und wo ich enden sollte. Aber ans eine Besonderheit, die mit
diesen intimen Einzelheiten in Zusammenhang steht, möchte ich die Aufmerk¬
samkeit hinlenken. Macaulay kennt die Zeit, die er behandelt, so genau, daß
er gern charakteristische Redewendungen, die ihr angehören, gebraucht. Um
anzudeuten, daß Addison schon Aussicht gehabt hatte, seine Bewerbung um
eine Dame angenommen zu sehen, drückt er sich so aus: ^cläison Incl desn,
in M-!i8ö ok eh.6 romauoss -wiiioir wsrs eh.su ka8divin,dio, "permittsä to
Koxe." Auf derselben Linie steht auch ein Satz wie: In polities t.b.6 Inäs-
vsnZvnts vero, to usf los pdrasL cet tlivir time, rocck ->n6 wiinoli men, or,


Grenzboten II 1901 17

die Vergangenheit lebendig bis in nlle Einzelheiten vergegenwärtigt hat! Und
das gehörte auch zu der Theorie, die er sich über die Aufgabe des Historikers
gemacht hatte: „Ich will freudig den Vorwurf hinnehmen, sagt er auf einer der
ersten Seiten seines großen Werkes, der Würde der Geschichte etwas vergeben
zu haben, wenn es mir dafür gelingt, den Engländern des neunzehnten Jahr¬
hunderts ein treues Bild von dein Leben ihrer Vorfahren vor Augen zu
führen." Über den Ausdruck „Würde der Geschichte" spottet er häufig. Die
Tragödie habe ihre Würde ebenso wie die Geschichte, und wieviel die tragische
Kunst der Würde verdankt habe, das könne jeder ermessen, der die majestä¬
tischen Alexandriner, in denen der Seigneur Oreste nud die Madame Andro-
maqne ihre Klagen äußerten, vergleichen wolle mit dem Plappern des Narren
im Lear oder dem der Amme in Romeo und Julia. An einer andern Stelle
sagt er: „Die Majestät der Geschichte scheint der Majestät des armen Königs
von Spanien zu gleichen, der als Märtyrer des Zeremoniells starb, weil die
geeigneten Würdenträger nicht zur Stelle waren, die ihm hätten Hilfe leisten
können." Macaulay will, daß die Dctailschilderungen als notwendiger Be¬
standteil der Geschichte aufgefaßt werden. So verlangt er von dem Historiker
der englischen Bürgerkriege, daß er von den Scharmützeln nur mit verständ¬
licher Kürze spreche, sie seien nur Bindeglieder. „Aber die großen charakte¬
ristischen Merkmale der Zeit, die königstreue Begeisterung des tapfern eng¬
lischen Landedelmanns, die trotzige Zügellosigkeit der fluchenden, spielenden,
betrunkneu Schelme, deren Ausschweifungen die Sache des Königs entehrten —
die strenge Beobachtung des presbyterianischer Sabbaths in der City, die
Überschwenglichkeit des unabhängigen Predigers im Lager, die gleichmäßig zu-
geschnittue Kleidung, der ernste Gesichtsausdruck, die kleinlichen Gewissensbisse,
der affektierte Tonfall, die abgeschmackten Namen und Sätze, die den Puritaner
kennzeichneten - der Mut, die Staatskunst, der Geist des Gemeinwohls, die
unter dieser wenig anmutigen Hülle versteckt lagen, die Träume derer, die das
tausendjährige Reich Christi einzusetzen suchten, und die kaum weniger aus¬
schweifende» Träume des philosophischen Republikaners — alles dies müßte
in die Darstellung aufgenommen werden, die dadurch genauer und zugleich
interessanter gestaltet wird."

Von den feinen Detailschilderuugen Maeaulays, die sich jedem Leser ins
Gedächtnis eingraben, gebe ich keine Beispiele, weil ich hier nicht wüßte, wo
ich anfangen und wo ich enden sollte. Aber ans eine Besonderheit, die mit
diesen intimen Einzelheiten in Zusammenhang steht, möchte ich die Aufmerk¬
samkeit hinlenken. Macaulay kennt die Zeit, die er behandelt, so genau, daß
er gern charakteristische Redewendungen, die ihr angehören, gebraucht. Um
anzudeuten, daß Addison schon Aussicht gehabt hatte, seine Bewerbung um
eine Dame angenommen zu sehen, drückt er sich so aus: ^cläison Incl desn,
in M-!i8ö ok eh.6 romauoss -wiiioir wsrs eh.su ka8divin,dio, „permittsä to
Koxe." Auf derselben Linie steht auch ein Satz wie: In polities t.b.6 Inäs-
vsnZvnts vero, to usf los pdrasL cet tlivir time, rocck ->n6 wiinoli men, or,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/137>, abgerufen am 03.07.2024.