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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue wcltxolitik

Geiste nur das wieder in Anspruch, was jahrhundertelang der Ruhm und Stolz
unsers Volks war. Denn schon einmal, auf seiner mittelalterlichen Höhe, ist
Deutschland als Weltmacht aufgetreten. Und so mag es heute, am Geburts¬
tage des Kaisers, am Platze sein, die alte und die neue Weltpolitik zu ver¬
gleichen.

Auf die Streitfrage über die Bedeutung der mittelalterlichen Kaiserpolitik
für die politische Entwicklung Deutschlands einzugehn, ist hier nicht der Ort.
Aber das muß hier wenigstens ausgesprochen werden, daß das abfällige Urteil,
das Heinrich von Shbel über die Kaiserpolitik gefällt hat, kein objektiv histo¬
risches ist, sondern das Ergebnis einer über das Scheitern der nationalen
Hoffnungen von 1848/49 tief verbitterten, pessimistisch gestimmten Zeit, die
den politischen Niedergang der Nation aufs schmerzlichste empfand und nach
seineu Ursachen suchte. Heute, wo diese Hoffnungen glänzend erfüllt sind, wo
wir also den Stachel, der in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
in uns bohrte, nicht mehr empfinden, heute können wir unbefangner über
unsre Vergangenheit urteilen, und wir haben uns zugleich an einen weitern
Gesichtskreis gewöhnt. Wenn unsre mittelalterlichen Kaiser nicht vermocht
haben, ihr großes europäisches Zentralreich festzuhalten, so haben sie dasselbe
Schicksal gehabt wie die Kreuzfahrerstaaten in Syrien und die Herrschaft der
englischen Könige in Frankreich, Staatenbildungen, von denen schon am Ende
des Mittelalters kaum eine Spur mehr übrig war. Die Gründe liegen in der
lockern Struktur aller mittelalterlichen Staaten, für die Kaiserpolitik besonders
noch an dem Grundfehler der deutschen Verfassung, an dem Mangel eines
erblichen Königtums gegenüber erblich gewordnen Beamten und Vasallen, der
wieder der Hauptsache nach auf der Kurzlebigkeit unsrer Königsgeschlechter und
in der Wurzelhaftigkeit unsers hohen Adels beruht. So ist denn auch die
Wendung zum Verderben nicht von der Herrschaft über Italien ausgegangen,
sondern von den Thronkriegen nach dem Tode Heinrichs VI. 1197, die in
Deutschland ihren Ausgang nahmen und Italien überhaupt wenig berührten.
Die verhängnisvollsten Zugeständnisse an deutsche Landesherren hat in diesem
Gedränge schon der Welfe Otto IV. gemacht; der vielgescholtne Hohenstaufe
Friedrich II. hat sie später nur bestätigt und erweitert.

War die mittelalterliche Kaiserpolitik uach deu Verhältnissen der Zeit
ebenso berechtigt wie irgend eine andre Politik, die über die Grenzen der
Heimat und des eignen Volkstums hinausführte, so walten doch zwischen ihr
und der modernen deutschen Weltpolitik tiefe Gegensätze ob. Zunächst in den
Zielen. Die deutsch-römischen Kaiser erstrebten durchaus keinen Nationalstaat,
denn dieser Begriff war damals noch gar nicht vorhanden, weil es noch keine
scharfgcschlossenen Nationalitäten gab; sie wollten die Wiederherstellung des
karolingischen Reichs, das ihnen wieder als eine Erneuerung des weströmischen
erschien, die politische Vereinigung der christlichen Kultur des ganzen Abend¬
landes, also praktisch die Vereinigung Mitteleuropas unter dem Kaisertum
und damit zwar nicht gerade die Unterwerfung dieser Völker unter die


Alte und neue wcltxolitik

Geiste nur das wieder in Anspruch, was jahrhundertelang der Ruhm und Stolz
unsers Volks war. Denn schon einmal, auf seiner mittelalterlichen Höhe, ist
Deutschland als Weltmacht aufgetreten. Und so mag es heute, am Geburts¬
tage des Kaisers, am Platze sein, die alte und die neue Weltpolitik zu ver¬
gleichen.

Auf die Streitfrage über die Bedeutung der mittelalterlichen Kaiserpolitik
für die politische Entwicklung Deutschlands einzugehn, ist hier nicht der Ort.
Aber das muß hier wenigstens ausgesprochen werden, daß das abfällige Urteil,
das Heinrich von Shbel über die Kaiserpolitik gefällt hat, kein objektiv histo¬
risches ist, sondern das Ergebnis einer über das Scheitern der nationalen
Hoffnungen von 1848/49 tief verbitterten, pessimistisch gestimmten Zeit, die
den politischen Niedergang der Nation aufs schmerzlichste empfand und nach
seineu Ursachen suchte. Heute, wo diese Hoffnungen glänzend erfüllt sind, wo
wir also den Stachel, der in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
in uns bohrte, nicht mehr empfinden, heute können wir unbefangner über
unsre Vergangenheit urteilen, und wir haben uns zugleich an einen weitern
Gesichtskreis gewöhnt. Wenn unsre mittelalterlichen Kaiser nicht vermocht
haben, ihr großes europäisches Zentralreich festzuhalten, so haben sie dasselbe
Schicksal gehabt wie die Kreuzfahrerstaaten in Syrien und die Herrschaft der
englischen Könige in Frankreich, Staatenbildungen, von denen schon am Ende
des Mittelalters kaum eine Spur mehr übrig war. Die Gründe liegen in der
lockern Struktur aller mittelalterlichen Staaten, für die Kaiserpolitik besonders
noch an dem Grundfehler der deutschen Verfassung, an dem Mangel eines
erblichen Königtums gegenüber erblich gewordnen Beamten und Vasallen, der
wieder der Hauptsache nach auf der Kurzlebigkeit unsrer Königsgeschlechter und
in der Wurzelhaftigkeit unsers hohen Adels beruht. So ist denn auch die
Wendung zum Verderben nicht von der Herrschaft über Italien ausgegangen,
sondern von den Thronkriegen nach dem Tode Heinrichs VI. 1197, die in
Deutschland ihren Ausgang nahmen und Italien überhaupt wenig berührten.
Die verhängnisvollsten Zugeständnisse an deutsche Landesherren hat in diesem
Gedränge schon der Welfe Otto IV. gemacht; der vielgescholtne Hohenstaufe
Friedrich II. hat sie später nur bestätigt und erweitert.

War die mittelalterliche Kaiserpolitik uach deu Verhältnissen der Zeit
ebenso berechtigt wie irgend eine andre Politik, die über die Grenzen der
Heimat und des eignen Volkstums hinausführte, so walten doch zwischen ihr
und der modernen deutschen Weltpolitik tiefe Gegensätze ob. Zunächst in den
Zielen. Die deutsch-römischen Kaiser erstrebten durchaus keinen Nationalstaat,
denn dieser Begriff war damals noch gar nicht vorhanden, weil es noch keine
scharfgcschlossenen Nationalitäten gab; sie wollten die Wiederherstellung des
karolingischen Reichs, das ihnen wieder als eine Erneuerung des weströmischen
erschien, die politische Vereinigung der christlichen Kultur des ganzen Abend¬
landes, also praktisch die Vereinigung Mitteleuropas unter dem Kaisertum
und damit zwar nicht gerade die Unterwerfung dieser Völker unter die


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[0308] Alte und neue wcltxolitik Geiste nur das wieder in Anspruch, was jahrhundertelang der Ruhm und Stolz unsers Volks war. Denn schon einmal, auf seiner mittelalterlichen Höhe, ist Deutschland als Weltmacht aufgetreten. Und so mag es heute, am Geburts¬ tage des Kaisers, am Platze sein, die alte und die neue Weltpolitik zu ver¬ gleichen. Auf die Streitfrage über die Bedeutung der mittelalterlichen Kaiserpolitik für die politische Entwicklung Deutschlands einzugehn, ist hier nicht der Ort. Aber das muß hier wenigstens ausgesprochen werden, daß das abfällige Urteil, das Heinrich von Shbel über die Kaiserpolitik gefällt hat, kein objektiv histo¬ risches ist, sondern das Ergebnis einer über das Scheitern der nationalen Hoffnungen von 1848/49 tief verbitterten, pessimistisch gestimmten Zeit, die den politischen Niedergang der Nation aufs schmerzlichste empfand und nach seineu Ursachen suchte. Heute, wo diese Hoffnungen glänzend erfüllt sind, wo wir also den Stachel, der in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in uns bohrte, nicht mehr empfinden, heute können wir unbefangner über unsre Vergangenheit urteilen, und wir haben uns zugleich an einen weitern Gesichtskreis gewöhnt. Wenn unsre mittelalterlichen Kaiser nicht vermocht haben, ihr großes europäisches Zentralreich festzuhalten, so haben sie dasselbe Schicksal gehabt wie die Kreuzfahrerstaaten in Syrien und die Herrschaft der englischen Könige in Frankreich, Staatenbildungen, von denen schon am Ende des Mittelalters kaum eine Spur mehr übrig war. Die Gründe liegen in der lockern Struktur aller mittelalterlichen Staaten, für die Kaiserpolitik besonders noch an dem Grundfehler der deutschen Verfassung, an dem Mangel eines erblichen Königtums gegenüber erblich gewordnen Beamten und Vasallen, der wieder der Hauptsache nach auf der Kurzlebigkeit unsrer Königsgeschlechter und in der Wurzelhaftigkeit unsers hohen Adels beruht. So ist denn auch die Wendung zum Verderben nicht von der Herrschaft über Italien ausgegangen, sondern von den Thronkriegen nach dem Tode Heinrichs VI. 1197, die in Deutschland ihren Ausgang nahmen und Italien überhaupt wenig berührten. Die verhängnisvollsten Zugeständnisse an deutsche Landesherren hat in diesem Gedränge schon der Welfe Otto IV. gemacht; der vielgescholtne Hohenstaufe Friedrich II. hat sie später nur bestätigt und erweitert. War die mittelalterliche Kaiserpolitik uach deu Verhältnissen der Zeit ebenso berechtigt wie irgend eine andre Politik, die über die Grenzen der Heimat und des eignen Volkstums hinausführte, so walten doch zwischen ihr und der modernen deutschen Weltpolitik tiefe Gegensätze ob. Zunächst in den Zielen. Die deutsch-römischen Kaiser erstrebten durchaus keinen Nationalstaat, denn dieser Begriff war damals noch gar nicht vorhanden, weil es noch keine scharfgcschlossenen Nationalitäten gab; sie wollten die Wiederherstellung des karolingischen Reichs, das ihnen wieder als eine Erneuerung des weströmischen erschien, die politische Vereinigung der christlichen Kultur des ganzen Abend¬ landes, also praktisch die Vereinigung Mitteleuropas unter dem Kaisertum und damit zwar nicht gerade die Unterwerfung dieser Völker unter die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/308>, abgerufen am 24.07.2024.