Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.(Line Ergänzung zum allgemeinen Wahlrecht is vor einem halben Jahrhundert die preußischen Bürger zum Ganz anders lag von vornherein die Sache, als die Wähler berufen "Politische Reife des Volks," der Ausdruck geht uus uicht mehr so flott (Line Ergänzung zum allgemeinen Wahlrecht is vor einem halben Jahrhundert die preußischen Bürger zum Ganz anders lag von vornherein die Sache, als die Wähler berufen „Politische Reife des Volks," der Ausdruck geht uus uicht mehr so flott <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0220" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234100"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341873_233879/figures/grenzboten_341873_233879_234100_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> (Line Ergänzung zum allgemeinen Wahlrecht</head><lb/> <p xml:id="ID_720"> is vor einem halben Jahrhundert die preußischen Bürger zum<lb/> erstenmal Wahlmänner zu bestimmen hatten, trafen die Voraus<lb/> Setzung und die Absicht der indirekten Wahl jedenfalls in ziemlieh<lb/> ausgedehntem Maße zu: die UrWähler eines Bezirks kannten<lb/> einander und ernannten einen angesehenen Mann, zu dessen<lb/> Urteil sie auch sonst Vertrauen hatten, zum Wahlmann, Auch die Wahlmänner<lb/> mochten sich wieder in vielen Fällen für den Abgeordneten, der bei den ver¬<lb/> hältnismäßig kleinen Wahlkreisen den einzelnen Wohl meistens bekannt war,<lb/> nach persönlichem Vertrauen entscheiden, ohne daß eine genauere Darlegung<lb/> seines Urteils über bestimmte politische Fragen geleistet oder erwartet wurde.<lb/> Heutzutage mag ein solches Verhältnis zwischen UrWähler, Wahlmann in länd¬<lb/> lichen Kreisen und in kleinern Städten noch hier und dn vorkommen, aber<lb/> sicherlich nur vereinzelt und kaum so, daß es für die Wahl eines Abgeordneten<lb/> ausschlaggebend wird. Einmal zerstört, ist dieses, ich möchte sagen naive Ver¬<lb/> trauensverhältnis aber nicht wieder herzustellen; im Gegenteil werden auch<lb/> die Reste infolge der starken Bevölkerungsbewegung, durch die Wirksamkeit von<lb/> Agitatoren und Presse mehr und mehr verschwinden. Als Voraussetzung für<lb/> die Wahlen kommt es deshalb nicht mehr in Betracht.</p><lb/> <p xml:id="ID_721"> Ganz anders lag von vornherein die Sache, als die Wähler berufen<lb/> wurden, direkt einen Abgeordneten zum Reichstag zu bestimmen. Hier konnten<lb/> persönliche Beziehungen zwischen der Masse der Wähler und dem Kandidaten<lb/> viel weniger vorhanden sein, und ihre Wirkung wurde auch noch dadurch<lb/> geschwächt, daß die Abstimmung geheim war. Die Voraussetzung ist bei dieser<lb/> Wahl deshalb in viel höherm Grade als ursprünglich bei der indirekten Wahl<lb/> zum Landtag die politische Reife des Volks,</p><lb/> <p xml:id="ID_722" next="#ID_723"> „Politische Reife des Volks," der Ausdruck geht uus uicht mehr so flott<lb/> von der Zunge, wie das vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Die Er¬<lb/> fahrung hat gelehrt, daß mau die Ansprüche recht niedrig stellen muß. Ja,<lb/> würde man die bestimmte Frage aussprechen: Ist die Masse der Wähler im<lb/> stände, die Politik zu beurteile»? so würden die meisten Leser geneigt sein,<lb/> bei dieser Frage zu lächeln. Schon bei der Verwaltung eiuer kleinen politischen<lb/> Gemeinschaft, eines Landkreises, einer Kleinstadt, versagt manchem die Fähigkeit,<lb/> manchem die Zeit oder die Neigung, sich ein Urteil zu bilden: um wie viel<lb/> mehr, wenn es sich um die vielseitigen und verwickelten Verhältnisse eines</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0220]
[Abbildung]
(Line Ergänzung zum allgemeinen Wahlrecht
is vor einem halben Jahrhundert die preußischen Bürger zum
erstenmal Wahlmänner zu bestimmen hatten, trafen die Voraus
Setzung und die Absicht der indirekten Wahl jedenfalls in ziemlieh
ausgedehntem Maße zu: die UrWähler eines Bezirks kannten
einander und ernannten einen angesehenen Mann, zu dessen
Urteil sie auch sonst Vertrauen hatten, zum Wahlmann, Auch die Wahlmänner
mochten sich wieder in vielen Fällen für den Abgeordneten, der bei den ver¬
hältnismäßig kleinen Wahlkreisen den einzelnen Wohl meistens bekannt war,
nach persönlichem Vertrauen entscheiden, ohne daß eine genauere Darlegung
seines Urteils über bestimmte politische Fragen geleistet oder erwartet wurde.
Heutzutage mag ein solches Verhältnis zwischen UrWähler, Wahlmann in länd¬
lichen Kreisen und in kleinern Städten noch hier und dn vorkommen, aber
sicherlich nur vereinzelt und kaum so, daß es für die Wahl eines Abgeordneten
ausschlaggebend wird. Einmal zerstört, ist dieses, ich möchte sagen naive Ver¬
trauensverhältnis aber nicht wieder herzustellen; im Gegenteil werden auch
die Reste infolge der starken Bevölkerungsbewegung, durch die Wirksamkeit von
Agitatoren und Presse mehr und mehr verschwinden. Als Voraussetzung für
die Wahlen kommt es deshalb nicht mehr in Betracht.
Ganz anders lag von vornherein die Sache, als die Wähler berufen
wurden, direkt einen Abgeordneten zum Reichstag zu bestimmen. Hier konnten
persönliche Beziehungen zwischen der Masse der Wähler und dem Kandidaten
viel weniger vorhanden sein, und ihre Wirkung wurde auch noch dadurch
geschwächt, daß die Abstimmung geheim war. Die Voraussetzung ist bei dieser
Wahl deshalb in viel höherm Grade als ursprünglich bei der indirekten Wahl
zum Landtag die politische Reife des Volks,
„Politische Reife des Volks," der Ausdruck geht uus uicht mehr so flott
von der Zunge, wie das vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Die Er¬
fahrung hat gelehrt, daß mau die Ansprüche recht niedrig stellen muß. Ja,
würde man die bestimmte Frage aussprechen: Ist die Masse der Wähler im
stände, die Politik zu beurteile»? so würden die meisten Leser geneigt sein,
bei dieser Frage zu lächeln. Schon bei der Verwaltung eiuer kleinen politischen
Gemeinschaft, eines Landkreises, einer Kleinstadt, versagt manchem die Fähigkeit,
manchem die Zeit oder die Neigung, sich ein Urteil zu bilden: um wie viel
mehr, wenn es sich um die vielseitigen und verwickelten Verhältnisse eines
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