Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.Die Fürsorge für die Arbeiterjugend Verantwortlichkeit für sein Leben und Gedeihen, Herrschaft legt Pflichten auf, Liest man das und was er in dem kurzen Kapitel über die Nächstenliebe Erstaunlich ist meist die Gleichgiltigkeit der Eltern gegenüber den sittlichen Die Fürsorge für die Arbeiterjugend Verantwortlichkeit für sein Leben und Gedeihen, Herrschaft legt Pflichten auf, Liest man das und was er in dem kurzen Kapitel über die Nächstenliebe Erstaunlich ist meist die Gleichgiltigkeit der Eltern gegenüber den sittlichen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0609" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291686"/> <fw type="header" place="top"> Die Fürsorge für die Arbeiterjugend</fw><lb/> <p xml:id="ID_2259" prev="#ID_2258"> Verantwortlichkeit für sein Leben und Gedeihen, Herrschaft legt Pflichten auf,<lb/> das gilt auch von der des Arbeitgebers; wer bloß darauf sieht, daß er das<lb/> möglichste Maß von Leistungen herausbringt, der ist nicht Regierer, sondern<lb/> Ausbeuter. Schuldig aber ist die Herrschaft, sie sei so klein oder so groß, als<lb/> sie wolle, ihren Untergebnen nicht nur Lohn und Brot, sondern vor allem ein<lb/> gutes Regiment, das ist tüchtige Leitung, gutes Beispiel und ernste Zucht.<lb/> Bequem ist das freilich nicht, bequemer ist ausbeuten und gehn lassen. Vor<lb/> allem gilt diese Pflicht gegenüber den jugendlichen Gehilfen, Lehrlingen, Dienst¬<lb/> boten. Hier hat der Arbeitgeber wesentlich anch die Aufgabe des Erziehers<lb/> nach der wirtschaftlichen und menschlichen Seite. Eine Hausfrau, die ihrem<lb/> jungen Mädchen tüchtige Arbeit, Sauberkeit und Ordnung, häusliche Gewohn¬<lb/> heiten und Sparsamkeit beibringt, die hat auch ein Stück der sozialen Frage<lb/> gelöst, und nicht das kleinste; es gehört viel Einsicht und guter Wille, viel<lb/> Ernst und Geduld dazu; ein Buch über die soziale oder über die Frauenfrage<lb/> ist wohl leichter geschrieben."</p><lb/> <p xml:id="ID_2260"> Liest man das und was er in dem kurzen Kapitel über die Nächstenliebe<lb/> — es handelt eigentlich mehr von ihrer Einschränkung durch den berechtigten<lb/> Egoismus — sagt, und wie er auf der andern Seite die Sozialpolitik behandelt,<lb/> so drängt sich einem der Wunsch auf, der Ethiker möge weniger katheder¬<lb/> sozialistischer Politiker sein. Die Ethik wie die Sozialpolitik würden dabei viel<lb/> gewinnen. Heute gilts doch nicht mehr wie vor dreißig Jahren die Ethik in der<lb/> Sozialpolitik zur Geltung zu bringen; dn herrscht sie jetzt wenigstens dem Grund¬<lb/> satz nach zur Genüge. Heute gilts ihr Hauptgebiet, das persönliche Verhalten des<lb/> Einzelnen gegen den Einzelnen, wo Gewerbeinspektor und Schutzmann nichts zu<lb/> sagen haben, ihr wieder unterthänig zu machen; da ist sie heute außer Dienst<lb/> gestellt. Die „Tugend- und Pflichtenlehre" der systematischen Ethik hat darin<lb/> ihr Hauptstück zu erkennen, nicht eine nur beiläufig abzuthuende Nebensache.</p><lb/> <p xml:id="ID_2261" next="#ID_2262"> Erstaunlich ist meist die Gleichgiltigkeit der Eltern gegenüber den sittlichen<lb/> Gefahren, die dem in die Fremde gehenden Kinde drohen. Sie verzichten in<lb/> der Regel von vornherein auf jeden Versuch, Einfluß darauf zu nehmen, obgleich<lb/> das die Elternliebe doch so nahe legt. Auch hier aber zeigt sich, was eine auf<lb/> sittlicher Lebensauffassung beruhende Fürsorge noch immer zu wirken vermag.<lb/> Nicht nur am Ort, sondern über Hunderte von Kilometern reicht die Wirkung<lb/> dieser heiligsten und herrlichsten Nächstenliebe. Ein Appell an sie ist Gott<lb/> sei Dank in sehr vielen Fällen noch schönen Erfolgs sicher. Die Arbeitgeber,<lb/> die Herrschaften, namentlich alle Gebildeten sollten nie unterlassen, wo immer<lb/> es ihnen möglich ist, ihre Beziehungen zu jungen Arbeitern und Dienstboten<lb/> auf die Eltern auszudehnen. Man setze das wünschenswerte sittliche Ver¬<lb/> hältnis dabei dreist voraus, nicht das Gegenteil. Man erzieht so Eltern und<lb/> Kinder. Das'vom Herzen kommende wohlwollende Interesse für die Eltern in<lb/> der Heimat und für die Heimat selbst, das man den jungen Leuten beweist,<lb/> und das Interesse für die auswärts arbeitenden Kinder, nach denen man die<lb/> Eltern fragt, wird selten mit Undank gelohnt werden. Freilich Klugheit und<lb/> Berechnung, um Anhänglichkeit und größere Ausnutzbarkeit der Dienenden</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0609]
Die Fürsorge für die Arbeiterjugend
Verantwortlichkeit für sein Leben und Gedeihen, Herrschaft legt Pflichten auf,
das gilt auch von der des Arbeitgebers; wer bloß darauf sieht, daß er das
möglichste Maß von Leistungen herausbringt, der ist nicht Regierer, sondern
Ausbeuter. Schuldig aber ist die Herrschaft, sie sei so klein oder so groß, als
sie wolle, ihren Untergebnen nicht nur Lohn und Brot, sondern vor allem ein
gutes Regiment, das ist tüchtige Leitung, gutes Beispiel und ernste Zucht.
Bequem ist das freilich nicht, bequemer ist ausbeuten und gehn lassen. Vor
allem gilt diese Pflicht gegenüber den jugendlichen Gehilfen, Lehrlingen, Dienst¬
boten. Hier hat der Arbeitgeber wesentlich anch die Aufgabe des Erziehers
nach der wirtschaftlichen und menschlichen Seite. Eine Hausfrau, die ihrem
jungen Mädchen tüchtige Arbeit, Sauberkeit und Ordnung, häusliche Gewohn¬
heiten und Sparsamkeit beibringt, die hat auch ein Stück der sozialen Frage
gelöst, und nicht das kleinste; es gehört viel Einsicht und guter Wille, viel
Ernst und Geduld dazu; ein Buch über die soziale oder über die Frauenfrage
ist wohl leichter geschrieben."
Liest man das und was er in dem kurzen Kapitel über die Nächstenliebe
— es handelt eigentlich mehr von ihrer Einschränkung durch den berechtigten
Egoismus — sagt, und wie er auf der andern Seite die Sozialpolitik behandelt,
so drängt sich einem der Wunsch auf, der Ethiker möge weniger katheder¬
sozialistischer Politiker sein. Die Ethik wie die Sozialpolitik würden dabei viel
gewinnen. Heute gilts doch nicht mehr wie vor dreißig Jahren die Ethik in der
Sozialpolitik zur Geltung zu bringen; dn herrscht sie jetzt wenigstens dem Grund¬
satz nach zur Genüge. Heute gilts ihr Hauptgebiet, das persönliche Verhalten des
Einzelnen gegen den Einzelnen, wo Gewerbeinspektor und Schutzmann nichts zu
sagen haben, ihr wieder unterthänig zu machen; da ist sie heute außer Dienst
gestellt. Die „Tugend- und Pflichtenlehre" der systematischen Ethik hat darin
ihr Hauptstück zu erkennen, nicht eine nur beiläufig abzuthuende Nebensache.
Erstaunlich ist meist die Gleichgiltigkeit der Eltern gegenüber den sittlichen
Gefahren, die dem in die Fremde gehenden Kinde drohen. Sie verzichten in
der Regel von vornherein auf jeden Versuch, Einfluß darauf zu nehmen, obgleich
das die Elternliebe doch so nahe legt. Auch hier aber zeigt sich, was eine auf
sittlicher Lebensauffassung beruhende Fürsorge noch immer zu wirken vermag.
Nicht nur am Ort, sondern über Hunderte von Kilometern reicht die Wirkung
dieser heiligsten und herrlichsten Nächstenliebe. Ein Appell an sie ist Gott
sei Dank in sehr vielen Fällen noch schönen Erfolgs sicher. Die Arbeitgeber,
die Herrschaften, namentlich alle Gebildeten sollten nie unterlassen, wo immer
es ihnen möglich ist, ihre Beziehungen zu jungen Arbeitern und Dienstboten
auf die Eltern auszudehnen. Man setze das wünschenswerte sittliche Ver¬
hältnis dabei dreist voraus, nicht das Gegenteil. Man erzieht so Eltern und
Kinder. Das'vom Herzen kommende wohlwollende Interesse für die Eltern in
der Heimat und für die Heimat selbst, das man den jungen Leuten beweist,
und das Interesse für die auswärts arbeitenden Kinder, nach denen man die
Eltern fragt, wird selten mit Undank gelohnt werden. Freilich Klugheit und
Berechnung, um Anhänglichkeit und größere Ausnutzbarkeit der Dienenden
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