Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.mit geschwollnen Beinen zwischen offnen Gräbern. Die Hunde, die sonst jedem Eine Hungersnot ist ein Unglück für die betroffne Gegend, aber an sich mit geschwollnen Beinen zwischen offnen Gräbern. Die Hunde, die sonst jedem Eine Hungersnot ist ein Unglück für die betroffne Gegend, aber an sich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0501" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291578"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1726" prev="#ID_1725"> mit geschwollnen Beinen zwischen offnen Gräbern. Die Hunde, die sonst jedem<lb/> Geführt entgegensprangen, sind verschwunden. Wir beiden keinen einzigen ge¬<lb/> sehen. Wir sahen auch keine Schweine. Sonst bevölkerten sie zusammen mit<lb/> den Kindern und Hunden die Dorfstraße. Wir sahen jetzt auch sehr wenig<lb/> kleine Kinder."</p><lb/> <p xml:id="ID_1727" next="#ID_1728"> Eine Hungersnot ist ein Unglück für die betroffne Gegend, aber an sich<lb/> noch keins für den ganzen Staat, wenn er ein Großstaat ist, und ihre Folgen<lb/> Pflegen rasch und vollständig überwunden zu werden. Anders liegt die Sache,<lb/> wenn mehrere Hungersnöte aufeinander folgen und sich als akute Ausbrüche<lb/> eines chronischen Leidens charakterisieren, wie das in Rußland der Fall ist.<lb/> Seit den siebziger Jahren haben die russischen Zeitungen, soweit es ihnen der<lb/> Preßmaulkorb erlaubte, die russischen Agrarschriftsteller und die Semstwos<lb/> nicht aufgehört, der tauben Regierung in die Ohren zu schreien, daß die Ernte¬<lb/> ertrüge der Schwarzerde stetig zurückgehn, und daß bald in diesem bald in<lb/> jenem Gouvernement eine Hungersnot ausbrüht. Die Ursachen des Übels sind<lb/> nicht schwer zu erkennen, schon vor der großen Hungersnot von 1891 sind sie<lb/> von andern ungefähr ebenso angegeben worden wie von Lehmann und Parvus,<lb/> deren Darstellung jedoch durch Vollstündigkeit und durch die Verbindung amt¬<lb/> licher Berichte mit zahlreichen Aussagen von Privatpersonen besonders be¬<lb/> friedigt. Das russische Klima ist an sich, auch auf gutem Boden, dem Ackerbau<lb/> darum nicht günstig, weil der Winter sehr lang, die Zeit für die landwirt¬<lb/> schaftlichen Arbeiten und die Reife der Früchte sehr kurz ist; sie betrügt im<lb/> Norden vier Monate, in der Mitte, wo das jetzige Hungergebiet liegt, nicht<lb/> dick mehr; nur die südlichen Gouvernements erfreuen sich eines lungern<lb/> Sommers. Ungünstiges Wetter wirkt deshalb viel verderblicher als dort, wo<lb/> eine längere Sommerzeit Erholung und Ausgleichung ermöglicht. Dann ist<lb/> der russische Bauer ein ganz unwissender Mensch, betreibt seine Landwirtschaft<lb/> ohne Vorbilder und Anleitung nach Urvüterweise mit wenigen und elenden<lb/> Werkzeugen, und wenn ihn jemand mit bessern Werkzeugen und mit Düng-<lb/> uüttelu bekannt machte, Hütte er, blutarm wie er ist, kein Geld, welche zu<lb/> kaufen. Gebürge wird so gut wie gar nicht. Trotzdem hat die fette Schwarz¬<lb/> erde jahrhundertelang ihre Bewohner ernührt und auch noch einen Überschuß<lb/> für die Ausfuhr erzeugt. Da kam die Bauernbefreiung von 1861 und 1866,<lb/> machte den Bauer zum Staatsbürger, raubte ihm durch die Ablösungslosten<lb/> und die Steuern seine letzten Hilfsmittel, und was die Hauptsache ist, schnitt<lb/> ihm seinen Lnndantcil zu klein zu. Früher hatte trotz elenden Betriebs der<lb/> Ertrag hingereicht, weil sowohl die Feldgras- oder Steppenwirtschaft wie die<lb/> Dreifelderwirtschaft dem Boden Zeit zum Ausruhen ließ und ihm Pflanzen-<lb/> düuguug, durch Abweiden auch Tierdünger zuführte. Jetzt ist der Bauer ge¬<lb/> nötigt, den größten Teil, bis 90 Prozent, seiner Parzelle unter den Pflug<lb/> zu nehmen und jahraus jahrein dieselbe Frucht darauf zu bauen. Bräche<lb/> und Weide verschwinden, der Boden wird ausgesogen, der Ertrag vermindert<lb/> sich nicht allein der Menge, sondern auch der Beschaffenheit mich, das Getreide</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0501]
mit geschwollnen Beinen zwischen offnen Gräbern. Die Hunde, die sonst jedem
Geführt entgegensprangen, sind verschwunden. Wir beiden keinen einzigen ge¬
sehen. Wir sahen auch keine Schweine. Sonst bevölkerten sie zusammen mit
den Kindern und Hunden die Dorfstraße. Wir sahen jetzt auch sehr wenig
kleine Kinder."
Eine Hungersnot ist ein Unglück für die betroffne Gegend, aber an sich
noch keins für den ganzen Staat, wenn er ein Großstaat ist, und ihre Folgen
Pflegen rasch und vollständig überwunden zu werden. Anders liegt die Sache,
wenn mehrere Hungersnöte aufeinander folgen und sich als akute Ausbrüche
eines chronischen Leidens charakterisieren, wie das in Rußland der Fall ist.
Seit den siebziger Jahren haben die russischen Zeitungen, soweit es ihnen der
Preßmaulkorb erlaubte, die russischen Agrarschriftsteller und die Semstwos
nicht aufgehört, der tauben Regierung in die Ohren zu schreien, daß die Ernte¬
ertrüge der Schwarzerde stetig zurückgehn, und daß bald in diesem bald in
jenem Gouvernement eine Hungersnot ausbrüht. Die Ursachen des Übels sind
nicht schwer zu erkennen, schon vor der großen Hungersnot von 1891 sind sie
von andern ungefähr ebenso angegeben worden wie von Lehmann und Parvus,
deren Darstellung jedoch durch Vollstündigkeit und durch die Verbindung amt¬
licher Berichte mit zahlreichen Aussagen von Privatpersonen besonders be¬
friedigt. Das russische Klima ist an sich, auch auf gutem Boden, dem Ackerbau
darum nicht günstig, weil der Winter sehr lang, die Zeit für die landwirt¬
schaftlichen Arbeiten und die Reife der Früchte sehr kurz ist; sie betrügt im
Norden vier Monate, in der Mitte, wo das jetzige Hungergebiet liegt, nicht
dick mehr; nur die südlichen Gouvernements erfreuen sich eines lungern
Sommers. Ungünstiges Wetter wirkt deshalb viel verderblicher als dort, wo
eine längere Sommerzeit Erholung und Ausgleichung ermöglicht. Dann ist
der russische Bauer ein ganz unwissender Mensch, betreibt seine Landwirtschaft
ohne Vorbilder und Anleitung nach Urvüterweise mit wenigen und elenden
Werkzeugen, und wenn ihn jemand mit bessern Werkzeugen und mit Düng-
uüttelu bekannt machte, Hütte er, blutarm wie er ist, kein Geld, welche zu
kaufen. Gebürge wird so gut wie gar nicht. Trotzdem hat die fette Schwarz¬
erde jahrhundertelang ihre Bewohner ernührt und auch noch einen Überschuß
für die Ausfuhr erzeugt. Da kam die Bauernbefreiung von 1861 und 1866,
machte den Bauer zum Staatsbürger, raubte ihm durch die Ablösungslosten
und die Steuern seine letzten Hilfsmittel, und was die Hauptsache ist, schnitt
ihm seinen Lnndantcil zu klein zu. Früher hatte trotz elenden Betriebs der
Ertrag hingereicht, weil sowohl die Feldgras- oder Steppenwirtschaft wie die
Dreifelderwirtschaft dem Boden Zeit zum Ausruhen ließ und ihm Pflanzen-
düuguug, durch Abweiden auch Tierdünger zuführte. Jetzt ist der Bauer ge¬
nötigt, den größten Teil, bis 90 Prozent, seiner Parzelle unter den Pflug
zu nehmen und jahraus jahrein dieselbe Frucht darauf zu bauen. Bräche
und Weide verschwinden, der Boden wird ausgesogen, der Ertrag vermindert
sich nicht allein der Menge, sondern auch der Beschaffenheit mich, das Getreide
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