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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

äußert seine Ansicht in öffentlichen Schnlreden mit einem Nachdruck und einer
Unbefangenheit, die bei uns als Naseweisheit oder Frechheit bestraft werden
würde.

Als eine andre hervorstechende Eigentümlichkeit der englischen Erziehung
hebt Nostitz hervor, daß die Söhne der Vornehmen alle mit derselben geistigen
Nahrung gespeist und getränkt werden. Nicht Vorbereitung auf einen Beruf
ist der Zweck der Stiftsschulen und Universitäten -- Arzt und Jurist brauchen
die Universität nicht zu besuchen und erlernen ihr Handwerk bei Meistern --,
sondern "den werdenden Murr mit einer durch das Ideal des christlichen,
englischen Gentleman bestimmten Lebens- und Weltanschauung zu erfüllen.
Dem entspricht die Erfahrung, welche der Fremde bei lungern Aufenthalt in Eng¬
land macht, daß ein Angehöriger der höhern Stande dem andern nicht bloß
nach seinein äußern Benehmen, sondern auch nach seinem innerlichen Wesen
öfter gleicht als anderwärts. Mag sein, daß die Entwicklung des Einzelnen
zuweilen dadurch zurückgehalten und ungünstig beeinflußt wird. Aber die große
Mehrzahl wird um so glücklicher und, was mehr ist, um so lebenskräftiger
sein, je fester sie von Jugend ans in einer bestimmten sittlichen Lebens¬
anschauung gewurzelt wird. Wenn auch unsre Zeit dies nicht hören mag, es
ist dennoch wahr, daß nur die wenigsten überhaupt fähig sind, sich eine eigne
Welt- und Lebensanschmiung selbständig zu bilden." Diese Einheit des Geistes
der höhern Stunde droht nun freilich unter der Einwirkung des demokratischen
Geistes und der Herrschaft der Realien zu zerbröckeln. Neben den nlteu rein
humanistischen -- humanistisch-athletischen könnte man sagen oder humanistisch¬
gymnastischen -- entstehn in Menge Fach- und Berufschulen,in denen die
Realien gepflegt und die auch von Söhnen vornehmer Eltern besucht werden,
und in die alten Universitäten dringen die Realien und der Bürgerstand ein.

Aber diese geistige Spaltung oder Zerstreuung der Aristokratie bedeutet
doch zugleich eine Wiedervereinigung aller Gesellschaftsklassen, und diese wird
vollendet durch die Universitätsausdehnung. Diese ist, wie aus Nostitz Dar¬
stellung hervorgeht, keineswegs eine aus Popularitätshascherei entsprnngne
Spielerei. Vier große Körperschaften: Cambridge, Oxford, die Viktoriauniver¬
sität und die 1876 gegründete Londoner Gesellschaft für Universitätsansdeh¬
nung wirken als die Träger und Organisatoren des Unternehmens. Die Vor-
träge sind zusammenhängende Reihen, auf deu Vortrag folgt die "Klasse,"
w der das Vorgetragne besprochen wird, und die schriftliche Ausarbeitung,
zum Schluß eine Prüfung; ein gedrucktes Heft, das den Hauptinhalt des Vor¬
tags und den Litteraturnachweis enthält, wird den Hörern in die Hand ge¬
geben. Englischer Gewohnheit entsprechend bleibt es jedem Hörer freigestellt,



*) Von unsern, Berechtigungswesen bleibt man trotzdem himmelweit entfernt, und es ent¬
stehn freilich auch mancherlei Mängel des höhern Bildungswesens daraus, "daß die höhern
Schulen nicht im notwendigen Zusammenhange mit den höhern Berufen stehn, und daß die
Berufsvorbildung der höhern Stände zum größten Teil von der schulmäßigen Bildung unab¬
hängig ist."
Grenzboten IV 1900 46
Wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

äußert seine Ansicht in öffentlichen Schnlreden mit einem Nachdruck und einer
Unbefangenheit, die bei uns als Naseweisheit oder Frechheit bestraft werden
würde.

Als eine andre hervorstechende Eigentümlichkeit der englischen Erziehung
hebt Nostitz hervor, daß die Söhne der Vornehmen alle mit derselben geistigen
Nahrung gespeist und getränkt werden. Nicht Vorbereitung auf einen Beruf
ist der Zweck der Stiftsschulen und Universitäten — Arzt und Jurist brauchen
die Universität nicht zu besuchen und erlernen ihr Handwerk bei Meistern —,
sondern „den werdenden Murr mit einer durch das Ideal des christlichen,
englischen Gentleman bestimmten Lebens- und Weltanschauung zu erfüllen.
Dem entspricht die Erfahrung, welche der Fremde bei lungern Aufenthalt in Eng¬
land macht, daß ein Angehöriger der höhern Stande dem andern nicht bloß
nach seinein äußern Benehmen, sondern auch nach seinem innerlichen Wesen
öfter gleicht als anderwärts. Mag sein, daß die Entwicklung des Einzelnen
zuweilen dadurch zurückgehalten und ungünstig beeinflußt wird. Aber die große
Mehrzahl wird um so glücklicher und, was mehr ist, um so lebenskräftiger
sein, je fester sie von Jugend ans in einer bestimmten sittlichen Lebens¬
anschauung gewurzelt wird. Wenn auch unsre Zeit dies nicht hören mag, es
ist dennoch wahr, daß nur die wenigsten überhaupt fähig sind, sich eine eigne
Welt- und Lebensanschmiung selbständig zu bilden." Diese Einheit des Geistes
der höhern Stunde droht nun freilich unter der Einwirkung des demokratischen
Geistes und der Herrschaft der Realien zu zerbröckeln. Neben den nlteu rein
humanistischen — humanistisch-athletischen könnte man sagen oder humanistisch¬
gymnastischen — entstehn in Menge Fach- und Berufschulen,in denen die
Realien gepflegt und die auch von Söhnen vornehmer Eltern besucht werden,
und in die alten Universitäten dringen die Realien und der Bürgerstand ein.

Aber diese geistige Spaltung oder Zerstreuung der Aristokratie bedeutet
doch zugleich eine Wiedervereinigung aller Gesellschaftsklassen, und diese wird
vollendet durch die Universitätsausdehnung. Diese ist, wie aus Nostitz Dar¬
stellung hervorgeht, keineswegs eine aus Popularitätshascherei entsprnngne
Spielerei. Vier große Körperschaften: Cambridge, Oxford, die Viktoriauniver¬
sität und die 1876 gegründete Londoner Gesellschaft für Universitätsansdeh¬
nung wirken als die Träger und Organisatoren des Unternehmens. Die Vor-
träge sind zusammenhängende Reihen, auf deu Vortrag folgt die „Klasse,"
w der das Vorgetragne besprochen wird, und die schriftliche Ausarbeitung,
zum Schluß eine Prüfung; ein gedrucktes Heft, das den Hauptinhalt des Vor¬
tags und den Litteraturnachweis enthält, wird den Hörern in die Hand ge¬
geben. Englischer Gewohnheit entsprechend bleibt es jedem Hörer freigestellt,



*) Von unsern, Berechtigungswesen bleibt man trotzdem himmelweit entfernt, und es ent¬
stehn freilich auch mancherlei Mängel des höhern Bildungswesens daraus, „daß die höhern
Schulen nicht im notwendigen Zusammenhange mit den höhern Berufen stehn, und daß die
Berufsvorbildung der höhern Stände zum größten Teil von der schulmäßigen Bildung unab¬
hängig ist."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/399>, abgerufen am 28.09.2024.