Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lthik und Politik

der Form von Kriegen geradezu das Wort reden und vernünftige Bemühungen,
den Frieden zu wahren, wohl gar verspotten wollten. Weder die Krenzzugs-
idee noch die Nichtsalsmachttheorie, die auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß
vertreten wurden, könnten ihnen irgendwie zur Entschuldigung dienen.

Professor Deißmann bemerkte übrigens mit Recht, das Problem Ethik
und Politik sei von den "zünftigen" Ethikern bis jetzt so gut wie ignoriert
worden, wenn man mehr als Kasuistik verlange. Aber erinnern darf man
immerhin daran, daß einer seiner Vorgänger an der alas, maisr liupsrto-
(üarola, der Heidelberger Professor der Theologie Dr. Richard Rothe in
seiner "Theologischen Ethik" schon vor fünfzig Jahren zu dem Hauptpunkt
des Problems, d. h. zu der Frage Ethik und Krieg, ganz Vortreffliches gesagt
hat, wenn auch nur in kasuistischer Form. Die Ansichten dieses "liberalen"
Theologen und Maunes sind viel mehr berufen, auch heute noch den Volks¬
kreisen, die unsrer Weltpolitik um ihrer im Notfall kriegerischen Konsequenzen
willen noch ablehnend gegenüberstehn, die Gewissen zu beruhigen, als alle
Sophistereien der säbelrasselnden "politischen Pastoren" neuster Mode.

Rothe war der letzte, der in der internationalen Politik die Ethik außer
Dienst gestellt wissen wollte. Er ging soweit, vom sittlichen Standpunkt
schlechterdings zu fordern, daß die Wahrung und die Pflege des Volkstums
und der Nationalität doch zugleich "allen Nationalegoismus, namentlich schon
allen Nationalstolz und alle Nationaleitelkeit" von sich fern halte und wesent¬
lich verbunden sei "mit der ausdrücklichen und rücksichtslosen Unterordnung
des einzelnen besondern Volkstums und seiner Interessen unter die allgemeine
Idee und den allgemeinen Zweck der Menschheit als solcher -- daß der einzelne
Staat, indem er sich in seiner eigentümlichen Nationalität erfaßt, zugleich sich
und seine nationalen Zwecke aufrichtig der Totalität des menschlichen Geschlechts
und ihrem Interesse subordiniere." Er zitiert dabei Schleiermacher (Christliche
Sitte), der Jahrzehnte vorher geschrieben hat, es sei lange die herrschende
Ansicht gewesen, und sei sie vielleicht noch, daß keine Unterordnung des Staats
unter die Gesamtheit des Menschengeschlechts gefordert werden könne, sondern
des Staats Sittlichkeit allein darin bestehe, "seinen eignen Vorteil zu suchen
"ut als letzten Zielpunkt des von ihm ausgehenden Bildungsprozesses sich
selbst in seiner besondern Persönlichkeit aufzustellen." Das wäre aber "gänz¬
liche Trennung der Politik von der Moral, also ein Widerspruch gegen das
Christentum." Praktisch führte diese Auffassung Rothe zur Hochhaltung des
Völkerrechts als sittlichem Postulat und bewahrte ihn vor der oberflächlichen
Verspottung des Ideals vom sogenannten "ewigen Frieden," die jetzt Mode
ist, so wenig er wie Schleiermacher das Abenteuerliche verkannte, das in der
Art liege, wie man ihn realisieren wolle, denn in der Form eines buch¬
stäblichen Vertrags und einer materiellen Garantie werde er nie zustande
kommen.

"Unser dermaliger völkerrechtlicher Zustand ist übrigens -- führt dann
Rothe wörtlich aus -- noch weit davon entfernt, die Möglichkeit nicht nur, sondern


Lthik und Politik

der Form von Kriegen geradezu das Wort reden und vernünftige Bemühungen,
den Frieden zu wahren, wohl gar verspotten wollten. Weder die Krenzzugs-
idee noch die Nichtsalsmachttheorie, die auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß
vertreten wurden, könnten ihnen irgendwie zur Entschuldigung dienen.

Professor Deißmann bemerkte übrigens mit Recht, das Problem Ethik
und Politik sei von den „zünftigen" Ethikern bis jetzt so gut wie ignoriert
worden, wenn man mehr als Kasuistik verlange. Aber erinnern darf man
immerhin daran, daß einer seiner Vorgänger an der alas, maisr liupsrto-
(üarola, der Heidelberger Professor der Theologie Dr. Richard Rothe in
seiner „Theologischen Ethik" schon vor fünfzig Jahren zu dem Hauptpunkt
des Problems, d. h. zu der Frage Ethik und Krieg, ganz Vortreffliches gesagt
hat, wenn auch nur in kasuistischer Form. Die Ansichten dieses „liberalen"
Theologen und Maunes sind viel mehr berufen, auch heute noch den Volks¬
kreisen, die unsrer Weltpolitik um ihrer im Notfall kriegerischen Konsequenzen
willen noch ablehnend gegenüberstehn, die Gewissen zu beruhigen, als alle
Sophistereien der säbelrasselnden „politischen Pastoren" neuster Mode.

Rothe war der letzte, der in der internationalen Politik die Ethik außer
Dienst gestellt wissen wollte. Er ging soweit, vom sittlichen Standpunkt
schlechterdings zu fordern, daß die Wahrung und die Pflege des Volkstums
und der Nationalität doch zugleich „allen Nationalegoismus, namentlich schon
allen Nationalstolz und alle Nationaleitelkeit" von sich fern halte und wesent¬
lich verbunden sei „mit der ausdrücklichen und rücksichtslosen Unterordnung
des einzelnen besondern Volkstums und seiner Interessen unter die allgemeine
Idee und den allgemeinen Zweck der Menschheit als solcher — daß der einzelne
Staat, indem er sich in seiner eigentümlichen Nationalität erfaßt, zugleich sich
und seine nationalen Zwecke aufrichtig der Totalität des menschlichen Geschlechts
und ihrem Interesse subordiniere." Er zitiert dabei Schleiermacher (Christliche
Sitte), der Jahrzehnte vorher geschrieben hat, es sei lange die herrschende
Ansicht gewesen, und sei sie vielleicht noch, daß keine Unterordnung des Staats
unter die Gesamtheit des Menschengeschlechts gefordert werden könne, sondern
des Staats Sittlichkeit allein darin bestehe, „seinen eignen Vorteil zu suchen
»ut als letzten Zielpunkt des von ihm ausgehenden Bildungsprozesses sich
selbst in seiner besondern Persönlichkeit aufzustellen." Das wäre aber „gänz¬
liche Trennung der Politik von der Moral, also ein Widerspruch gegen das
Christentum." Praktisch führte diese Auffassung Rothe zur Hochhaltung des
Völkerrechts als sittlichem Postulat und bewahrte ihn vor der oberflächlichen
Verspottung des Ideals vom sogenannten „ewigen Frieden," die jetzt Mode
ist, so wenig er wie Schleiermacher das Abenteuerliche verkannte, das in der
Art liege, wie man ihn realisieren wolle, denn in der Form eines buch¬
stäblichen Vertrags und einer materiellen Garantie werde er nie zustande
kommen.

„Unser dermaliger völkerrechtlicher Zustand ist übrigens — führt dann
Rothe wörtlich aus — noch weit davon entfernt, die Möglichkeit nicht nur, sondern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0284" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291361"/>
          <fw type="header" place="top"> Lthik und Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_956" prev="#ID_955"> der Form von Kriegen geradezu das Wort reden und vernünftige Bemühungen,<lb/>
den Frieden zu wahren, wohl gar verspotten wollten. Weder die Krenzzugs-<lb/>
idee noch die Nichtsalsmachttheorie, die auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß<lb/>
vertreten wurden, könnten ihnen irgendwie zur Entschuldigung dienen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_957"> Professor Deißmann bemerkte übrigens mit Recht, das Problem Ethik<lb/>
und Politik sei von den &#x201E;zünftigen" Ethikern bis jetzt so gut wie ignoriert<lb/>
worden, wenn man mehr als Kasuistik verlange. Aber erinnern darf man<lb/>
immerhin daran, daß einer seiner Vorgänger an der alas, maisr liupsrto-<lb/>
(üarola, der Heidelberger Professor der Theologie Dr. Richard Rothe in<lb/>
seiner &#x201E;Theologischen Ethik" schon vor fünfzig Jahren zu dem Hauptpunkt<lb/>
des Problems, d. h. zu der Frage Ethik und Krieg, ganz Vortreffliches gesagt<lb/>
hat, wenn auch nur in kasuistischer Form. Die Ansichten dieses &#x201E;liberalen"<lb/>
Theologen und Maunes sind viel mehr berufen, auch heute noch den Volks¬<lb/>
kreisen, die unsrer Weltpolitik um ihrer im Notfall kriegerischen Konsequenzen<lb/>
willen noch ablehnend gegenüberstehn, die Gewissen zu beruhigen, als alle<lb/>
Sophistereien der säbelrasselnden &#x201E;politischen Pastoren" neuster Mode.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_958"> Rothe war der letzte, der in der internationalen Politik die Ethik außer<lb/>
Dienst gestellt wissen wollte. Er ging soweit, vom sittlichen Standpunkt<lb/>
schlechterdings zu fordern, daß die Wahrung und die Pflege des Volkstums<lb/>
und der Nationalität doch zugleich &#x201E;allen Nationalegoismus, namentlich schon<lb/>
allen Nationalstolz und alle Nationaleitelkeit" von sich fern halte und wesent¬<lb/>
lich verbunden sei &#x201E;mit der ausdrücklichen und rücksichtslosen Unterordnung<lb/>
des einzelnen besondern Volkstums und seiner Interessen unter die allgemeine<lb/>
Idee und den allgemeinen Zweck der Menschheit als solcher &#x2014; daß der einzelne<lb/>
Staat, indem er sich in seiner eigentümlichen Nationalität erfaßt, zugleich sich<lb/>
und seine nationalen Zwecke aufrichtig der Totalität des menschlichen Geschlechts<lb/>
und ihrem Interesse subordiniere." Er zitiert dabei Schleiermacher (Christliche<lb/>
Sitte), der Jahrzehnte vorher geschrieben hat, es sei lange die herrschende<lb/>
Ansicht gewesen, und sei sie vielleicht noch, daß keine Unterordnung des Staats<lb/>
unter die Gesamtheit des Menschengeschlechts gefordert werden könne, sondern<lb/>
des Staats Sittlichkeit allein darin bestehe, &#x201E;seinen eignen Vorteil zu suchen<lb/>
»ut als letzten Zielpunkt des von ihm ausgehenden Bildungsprozesses sich<lb/>
selbst in seiner besondern Persönlichkeit aufzustellen." Das wäre aber &#x201E;gänz¬<lb/>
liche Trennung der Politik von der Moral, also ein Widerspruch gegen das<lb/>
Christentum." Praktisch führte diese Auffassung Rothe zur Hochhaltung des<lb/>
Völkerrechts als sittlichem Postulat und bewahrte ihn vor der oberflächlichen<lb/>
Verspottung des Ideals vom sogenannten &#x201E;ewigen Frieden," die jetzt Mode<lb/>
ist, so wenig er wie Schleiermacher das Abenteuerliche verkannte, das in der<lb/>
Art liege, wie man ihn realisieren wolle, denn in der Form eines buch¬<lb/>
stäblichen Vertrags und einer materiellen Garantie werde er nie zustande<lb/>
kommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_959" next="#ID_960"> &#x201E;Unser dermaliger völkerrechtlicher Zustand ist übrigens &#x2014; führt dann<lb/>
Rothe wörtlich aus &#x2014; noch weit davon entfernt, die Möglichkeit nicht nur, sondern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0284] Lthik und Politik der Form von Kriegen geradezu das Wort reden und vernünftige Bemühungen, den Frieden zu wahren, wohl gar verspotten wollten. Weder die Krenzzugs- idee noch die Nichtsalsmachttheorie, die auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß vertreten wurden, könnten ihnen irgendwie zur Entschuldigung dienen. Professor Deißmann bemerkte übrigens mit Recht, das Problem Ethik und Politik sei von den „zünftigen" Ethikern bis jetzt so gut wie ignoriert worden, wenn man mehr als Kasuistik verlange. Aber erinnern darf man immerhin daran, daß einer seiner Vorgänger an der alas, maisr liupsrto- (üarola, der Heidelberger Professor der Theologie Dr. Richard Rothe in seiner „Theologischen Ethik" schon vor fünfzig Jahren zu dem Hauptpunkt des Problems, d. h. zu der Frage Ethik und Krieg, ganz Vortreffliches gesagt hat, wenn auch nur in kasuistischer Form. Die Ansichten dieses „liberalen" Theologen und Maunes sind viel mehr berufen, auch heute noch den Volks¬ kreisen, die unsrer Weltpolitik um ihrer im Notfall kriegerischen Konsequenzen willen noch ablehnend gegenüberstehn, die Gewissen zu beruhigen, als alle Sophistereien der säbelrasselnden „politischen Pastoren" neuster Mode. Rothe war der letzte, der in der internationalen Politik die Ethik außer Dienst gestellt wissen wollte. Er ging soweit, vom sittlichen Standpunkt schlechterdings zu fordern, daß die Wahrung und die Pflege des Volkstums und der Nationalität doch zugleich „allen Nationalegoismus, namentlich schon allen Nationalstolz und alle Nationaleitelkeit" von sich fern halte und wesent¬ lich verbunden sei „mit der ausdrücklichen und rücksichtslosen Unterordnung des einzelnen besondern Volkstums und seiner Interessen unter die allgemeine Idee und den allgemeinen Zweck der Menschheit als solcher — daß der einzelne Staat, indem er sich in seiner eigentümlichen Nationalität erfaßt, zugleich sich und seine nationalen Zwecke aufrichtig der Totalität des menschlichen Geschlechts und ihrem Interesse subordiniere." Er zitiert dabei Schleiermacher (Christliche Sitte), der Jahrzehnte vorher geschrieben hat, es sei lange die herrschende Ansicht gewesen, und sei sie vielleicht noch, daß keine Unterordnung des Staats unter die Gesamtheit des Menschengeschlechts gefordert werden könne, sondern des Staats Sittlichkeit allein darin bestehe, „seinen eignen Vorteil zu suchen »ut als letzten Zielpunkt des von ihm ausgehenden Bildungsprozesses sich selbst in seiner besondern Persönlichkeit aufzustellen." Das wäre aber „gänz¬ liche Trennung der Politik von der Moral, also ein Widerspruch gegen das Christentum." Praktisch führte diese Auffassung Rothe zur Hochhaltung des Völkerrechts als sittlichem Postulat und bewahrte ihn vor der oberflächlichen Verspottung des Ideals vom sogenannten „ewigen Frieden," die jetzt Mode ist, so wenig er wie Schleiermacher das Abenteuerliche verkannte, das in der Art liege, wie man ihn realisieren wolle, denn in der Form eines buch¬ stäblichen Vertrags und einer materiellen Garantie werde er nie zustande kommen. „Unser dermaliger völkerrechtlicher Zustand ist übrigens — führt dann Rothe wörtlich aus — noch weit davon entfernt, die Möglichkeit nicht nur, sondern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/284
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/284>, abgerufen am 22.07.2024.