Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die deutsche Weltpolitik

schaftliche Verhältnisse am eignen Leibe zu spüren. Staatspolitische Probleme
sind zu abstrakt und darum zu schwierig für den Durchschnittsmenschen; sie
spielen sich zudem in einem so kleinen Kreise ab, daß sie für die Massen nur
vorhanden sind, wenn das Schwert den Knoten losen muß. Die Jahre 1866
und 1870 brachten darum der Menge Überraschungen. Die Gewitterwolken,
die die dynastische und die nationale Staatspolitik am politischen Himmel auf¬
häuft, sieht die Masse nicht, und sie empfindet auch nicht ihre diplomatischen
Niederschlüge: Olnüitz regte die breite Masse nicht auf. Ganz anders ist es
mit wirtschaftlichen Dingen: die Beschlagnahme von deutschen Dampfern, der
Kampf um das deutsche Arbeitsfeld in Samoa waren von hohem erzieherischen
Werte, weil diese politischen Lehren einfach und darum auch für den gemeinen
Mann faßbar waren. Man sieht die Folgen: was die abstrakte Lehre von
der Notwendigkeit einer starken Flotte, die umfangreichste Flottenagitation nicht
erreicht hat, das haben die Thatsachen zuwege gebracht. Aus diesen Ereig¬
nissen sprach so deutlich, welche Vorteile für den materiellen Erwerb eine starke
Wehr bietet, daß sich nun auch in solchen Kreisen Stimmung für die Flotte
bemerkbar macht, die die Welt mit Aktien, nicht mit dem Schwert in Schach
halten möchte: die Flotte ist eben der Arnheim des Nationalvermögens.

Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt man: die Macht der Erfahrung
allein kann das deutsche Volk davon abbringen, mit dem Feuer der internatio¬
nalen Brüderei zu spielen. Man möge darum nicht verzweifeln, wenn das
deutsche Volk zum großen Teile noch nicht weltpolitisch denkt, im Gegenteil, man
kann sich freuen, wie schnell es in seiner Auffassung auswärtiger Dinge fort¬
schreitet. Man vergegenwärtige sich nur, mit welcher Ängstlichkeit von amt¬
licher Stelle das Wort "Weltpolitik" noch vor drei Jahren gemieden werden
mußte; heute spricht man SÄns darüber, und man wird sich auch den
ernsten Anforderungen einer Weltpolitik nicht verschließen, sobald man erst
einmal durch Schaden klug geworden ist. Der deutsche Außenhandel steigt
ruhig und gleichmäßig an, Arbeitsgelegenheit ist reichlich vorhanden, und das
Schicksal möge verhüten, daß es anders komme. Aber es kann anders kommen.
Das deutsche Volk kann in die Lage kommen, um die wirtschaftliche Blüte, die
ihm jetzt kampflos zufällt, ringen zu müssen. Dann werden die, die sich jetzt
am meisten der Weltpolitik verschließen, weil sie jetzt in den fetten Jahren
keine sinnfällige Veranlassung für eine staatliche Ausbreitungspolitik zu erkennen
vermögen, die ersten sein, die über die Negierung herfallen.

Man möge in den leitenden Kreisen auch nicht verzweifeln, wenn gerade
die scharf nationalen Kreise bei uns einen geringen Instinkt für diplomatische
Verhandlungen zeigen und darum nicht fähig sind, unsrer Diplomatie als Stütze
zu dienen. Es geht den deutschen Chauvinisten so, wie einem stallmutigen
Pferde, das hinten und vorn ausschlägt, weil es in der Stallpflege vergessen
hat, daß es Zügel und Sporen giebt. Unsre Chauvinisten haben sich einen
Phantasiediplomaten zurecht gemacht, einen diplomatischen Herkules -- und
thun dem Altreichskanzler die Schmach an, für diesen Popanz seinen Namen


Die deutsche Weltpolitik

schaftliche Verhältnisse am eignen Leibe zu spüren. Staatspolitische Probleme
sind zu abstrakt und darum zu schwierig für den Durchschnittsmenschen; sie
spielen sich zudem in einem so kleinen Kreise ab, daß sie für die Massen nur
vorhanden sind, wenn das Schwert den Knoten losen muß. Die Jahre 1866
und 1870 brachten darum der Menge Überraschungen. Die Gewitterwolken,
die die dynastische und die nationale Staatspolitik am politischen Himmel auf¬
häuft, sieht die Masse nicht, und sie empfindet auch nicht ihre diplomatischen
Niederschlüge: Olnüitz regte die breite Masse nicht auf. Ganz anders ist es
mit wirtschaftlichen Dingen: die Beschlagnahme von deutschen Dampfern, der
Kampf um das deutsche Arbeitsfeld in Samoa waren von hohem erzieherischen
Werte, weil diese politischen Lehren einfach und darum auch für den gemeinen
Mann faßbar waren. Man sieht die Folgen: was die abstrakte Lehre von
der Notwendigkeit einer starken Flotte, die umfangreichste Flottenagitation nicht
erreicht hat, das haben die Thatsachen zuwege gebracht. Aus diesen Ereig¬
nissen sprach so deutlich, welche Vorteile für den materiellen Erwerb eine starke
Wehr bietet, daß sich nun auch in solchen Kreisen Stimmung für die Flotte
bemerkbar macht, die die Welt mit Aktien, nicht mit dem Schwert in Schach
halten möchte: die Flotte ist eben der Arnheim des Nationalvermögens.

Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt man: die Macht der Erfahrung
allein kann das deutsche Volk davon abbringen, mit dem Feuer der internatio¬
nalen Brüderei zu spielen. Man möge darum nicht verzweifeln, wenn das
deutsche Volk zum großen Teile noch nicht weltpolitisch denkt, im Gegenteil, man
kann sich freuen, wie schnell es in seiner Auffassung auswärtiger Dinge fort¬
schreitet. Man vergegenwärtige sich nur, mit welcher Ängstlichkeit von amt¬
licher Stelle das Wort „Weltpolitik" noch vor drei Jahren gemieden werden
mußte; heute spricht man SÄns darüber, und man wird sich auch den
ernsten Anforderungen einer Weltpolitik nicht verschließen, sobald man erst
einmal durch Schaden klug geworden ist. Der deutsche Außenhandel steigt
ruhig und gleichmäßig an, Arbeitsgelegenheit ist reichlich vorhanden, und das
Schicksal möge verhüten, daß es anders komme. Aber es kann anders kommen.
Das deutsche Volk kann in die Lage kommen, um die wirtschaftliche Blüte, die
ihm jetzt kampflos zufällt, ringen zu müssen. Dann werden die, die sich jetzt
am meisten der Weltpolitik verschließen, weil sie jetzt in den fetten Jahren
keine sinnfällige Veranlassung für eine staatliche Ausbreitungspolitik zu erkennen
vermögen, die ersten sein, die über die Negierung herfallen.

Man möge in den leitenden Kreisen auch nicht verzweifeln, wenn gerade
die scharf nationalen Kreise bei uns einen geringen Instinkt für diplomatische
Verhandlungen zeigen und darum nicht fähig sind, unsrer Diplomatie als Stütze
zu dienen. Es geht den deutschen Chauvinisten so, wie einem stallmutigen
Pferde, das hinten und vorn ausschlägt, weil es in der Stallpflege vergessen
hat, daß es Zügel und Sporen giebt. Unsre Chauvinisten haben sich einen
Phantasiediplomaten zurecht gemacht, einen diplomatischen Herkules — und
thun dem Altreichskanzler die Schmach an, für diesen Popanz seinen Namen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290481"/>
          <fw type="header" place="top"> Die deutsche Weltpolitik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_250" prev="#ID_249"> schaftliche Verhältnisse am eignen Leibe zu spüren. Staatspolitische Probleme<lb/>
sind zu abstrakt und darum zu schwierig für den Durchschnittsmenschen; sie<lb/>
spielen sich zudem in einem so kleinen Kreise ab, daß sie für die Massen nur<lb/>
vorhanden sind, wenn das Schwert den Knoten losen muß. Die Jahre 1866<lb/>
und 1870 brachten darum der Menge Überraschungen. Die Gewitterwolken,<lb/>
die die dynastische und die nationale Staatspolitik am politischen Himmel auf¬<lb/>
häuft, sieht die Masse nicht, und sie empfindet auch nicht ihre diplomatischen<lb/>
Niederschlüge: Olnüitz regte die breite Masse nicht auf. Ganz anders ist es<lb/>
mit wirtschaftlichen Dingen: die Beschlagnahme von deutschen Dampfern, der<lb/>
Kampf um das deutsche Arbeitsfeld in Samoa waren von hohem erzieherischen<lb/>
Werte, weil diese politischen Lehren einfach und darum auch für den gemeinen<lb/>
Mann faßbar waren. Man sieht die Folgen: was die abstrakte Lehre von<lb/>
der Notwendigkeit einer starken Flotte, die umfangreichste Flottenagitation nicht<lb/>
erreicht hat, das haben die Thatsachen zuwege gebracht. Aus diesen Ereig¬<lb/>
nissen sprach so deutlich, welche Vorteile für den materiellen Erwerb eine starke<lb/>
Wehr bietet, daß sich nun auch in solchen Kreisen Stimmung für die Flotte<lb/>
bemerkbar macht, die die Welt mit Aktien, nicht mit dem Schwert in Schach<lb/>
halten möchte: die Flotte ist eben der Arnheim des Nationalvermögens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_251"> Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt man: die Macht der Erfahrung<lb/>
allein kann das deutsche Volk davon abbringen, mit dem Feuer der internatio¬<lb/>
nalen Brüderei zu spielen. Man möge darum nicht verzweifeln, wenn das<lb/>
deutsche Volk zum großen Teile noch nicht weltpolitisch denkt, im Gegenteil, man<lb/>
kann sich freuen, wie schnell es in seiner Auffassung auswärtiger Dinge fort¬<lb/>
schreitet. Man vergegenwärtige sich nur, mit welcher Ängstlichkeit von amt¬<lb/>
licher Stelle das Wort &#x201E;Weltpolitik" noch vor drei Jahren gemieden werden<lb/>
mußte; heute spricht man SÄns darüber, und man wird sich auch den<lb/>
ernsten Anforderungen einer Weltpolitik nicht verschließen, sobald man erst<lb/>
einmal durch Schaden klug geworden ist. Der deutsche Außenhandel steigt<lb/>
ruhig und gleichmäßig an, Arbeitsgelegenheit ist reichlich vorhanden, und das<lb/>
Schicksal möge verhüten, daß es anders komme. Aber es kann anders kommen.<lb/>
Das deutsche Volk kann in die Lage kommen, um die wirtschaftliche Blüte, die<lb/>
ihm jetzt kampflos zufällt, ringen zu müssen. Dann werden die, die sich jetzt<lb/>
am meisten der Weltpolitik verschließen, weil sie jetzt in den fetten Jahren<lb/>
keine sinnfällige Veranlassung für eine staatliche Ausbreitungspolitik zu erkennen<lb/>
vermögen, die ersten sein, die über die Negierung herfallen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_252" next="#ID_253"> Man möge in den leitenden Kreisen auch nicht verzweifeln, wenn gerade<lb/>
die scharf nationalen Kreise bei uns einen geringen Instinkt für diplomatische<lb/>
Verhandlungen zeigen und darum nicht fähig sind, unsrer Diplomatie als Stütze<lb/>
zu dienen. Es geht den deutschen Chauvinisten so, wie einem stallmutigen<lb/>
Pferde, das hinten und vorn ausschlägt, weil es in der Stallpflege vergessen<lb/>
hat, daß es Zügel und Sporen giebt. Unsre Chauvinisten haben sich einen<lb/>
Phantasiediplomaten zurecht gemacht, einen diplomatischen Herkules &#x2014; und<lb/>
thun dem Altreichskanzler die Schmach an, für diesen Popanz seinen Namen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] Die deutsche Weltpolitik schaftliche Verhältnisse am eignen Leibe zu spüren. Staatspolitische Probleme sind zu abstrakt und darum zu schwierig für den Durchschnittsmenschen; sie spielen sich zudem in einem so kleinen Kreise ab, daß sie für die Massen nur vorhanden sind, wenn das Schwert den Knoten losen muß. Die Jahre 1866 und 1870 brachten darum der Menge Überraschungen. Die Gewitterwolken, die die dynastische und die nationale Staatspolitik am politischen Himmel auf¬ häuft, sieht die Masse nicht, und sie empfindet auch nicht ihre diplomatischen Niederschlüge: Olnüitz regte die breite Masse nicht auf. Ganz anders ist es mit wirtschaftlichen Dingen: die Beschlagnahme von deutschen Dampfern, der Kampf um das deutsche Arbeitsfeld in Samoa waren von hohem erzieherischen Werte, weil diese politischen Lehren einfach und darum auch für den gemeinen Mann faßbar waren. Man sieht die Folgen: was die abstrakte Lehre von der Notwendigkeit einer starken Flotte, die umfangreichste Flottenagitation nicht erreicht hat, das haben die Thatsachen zuwege gebracht. Aus diesen Ereig¬ nissen sprach so deutlich, welche Vorteile für den materiellen Erwerb eine starke Wehr bietet, daß sich nun auch in solchen Kreisen Stimmung für die Flotte bemerkbar macht, die die Welt mit Aktien, nicht mit dem Schwert in Schach halten möchte: die Flotte ist eben der Arnheim des Nationalvermögens. Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt man: die Macht der Erfahrung allein kann das deutsche Volk davon abbringen, mit dem Feuer der internatio¬ nalen Brüderei zu spielen. Man möge darum nicht verzweifeln, wenn das deutsche Volk zum großen Teile noch nicht weltpolitisch denkt, im Gegenteil, man kann sich freuen, wie schnell es in seiner Auffassung auswärtiger Dinge fort¬ schreitet. Man vergegenwärtige sich nur, mit welcher Ängstlichkeit von amt¬ licher Stelle das Wort „Weltpolitik" noch vor drei Jahren gemieden werden mußte; heute spricht man SÄns darüber, und man wird sich auch den ernsten Anforderungen einer Weltpolitik nicht verschließen, sobald man erst einmal durch Schaden klug geworden ist. Der deutsche Außenhandel steigt ruhig und gleichmäßig an, Arbeitsgelegenheit ist reichlich vorhanden, und das Schicksal möge verhüten, daß es anders komme. Aber es kann anders kommen. Das deutsche Volk kann in die Lage kommen, um die wirtschaftliche Blüte, die ihm jetzt kampflos zufällt, ringen zu müssen. Dann werden die, die sich jetzt am meisten der Weltpolitik verschließen, weil sie jetzt in den fetten Jahren keine sinnfällige Veranlassung für eine staatliche Ausbreitungspolitik zu erkennen vermögen, die ersten sein, die über die Negierung herfallen. Man möge in den leitenden Kreisen auch nicht verzweifeln, wenn gerade die scharf nationalen Kreise bei uns einen geringen Instinkt für diplomatische Verhandlungen zeigen und darum nicht fähig sind, unsrer Diplomatie als Stütze zu dienen. Es geht den deutschen Chauvinisten so, wie einem stallmutigen Pferde, das hinten und vorn ausschlägt, weil es in der Stallpflege vergessen hat, daß es Zügel und Sporen giebt. Unsre Chauvinisten haben sich einen Phantasiediplomaten zurecht gemacht, einen diplomatischen Herkules — und thun dem Altreichskanzler die Schmach an, für diesen Popanz seinen Namen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/70>, abgerufen am 01.10.2024.