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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Winterkleider fertig, so tritt wieder eine flaue Geschäftszeit ein (Ende Dezember),
die je nach den Verhältnissen von kürzerer oder längerer Dauer ist. Als der
Zar nach Frankreich kam, trat keine Arbeitslosigkeit ein, und auch dieses Jahr
waren die Arbeiterinnen mit Rücksicht auf die bevorstehende Weltausstellung
vollauf beschäftigt. Diese "glücklichen Ereignisse" sind aber selten, und wenn
der Winter einen traurigen Verlauf nimmt, so ist nnter den Näherinnen und
Konfektionsarbeiterinnen das Elend groß.

Graf d'Haussonville teilt folgendes Budget einer Näherin mit, die in
einem vornehmen Konfektionsgeschäft der rue dö 1a?aix beschäftigt ist, solange
die Saison dauert. Sie braucht monatlich für Nahrung mindestens 60 Franken,
für Miete 9 Franken, Wäsche, Toilette usw. 12 Franken, in Summa 81 Franken.
Dabei ist für Vergnügungen nichts mitgerechnet, und welche Entbehrung das
für ein junges Mädchen von zwanzig Jahren bedeutet, vermag nur der zu
beurteilen, der den lebenslustigen Charakter der Pariserin kennt. Der Lohn
beträgt 4 Franken täglich, also etwa 10V Franken monatlich. Da bleibt also
ein Überschuß vou 19 Mark monatlich, sodaß die Arbeiterin mit einer Er¬
sparnis von 152 Franken in die tote Saison eintreten kann. Wenn sie aber
in diesen vier Monaten nichts verdient und ihre Ausgaben nicht einschränkt,
so steht sie vor einem Defizit von mindestens 200 Franken. Die Lage ist
noch schwieriger für die vielen Arbeiterinnen, die nicht das Glück haben,
4 Franken täglich zu verdienen. Wohlwollende Prinzipale kommen ihren Ar¬
beiterinnen allerdings in der Weise entgegen, daß sie alle wenigstens während
halber Tage beschäftigen, um niemand .entlassen zu müssen, aber kleinen Ge¬
schäften ist das nicht einmal möglich. Die entlassenen Arbeiterinnen suchen
dann Beschäftigung bei Bekannten und Verwandten, und daher kommt es,
daß in Paris selbst die Frauen, die für ihre Toilette nur wenig Geld aus¬
geben können, so gut gekleidet sind. Aber ans jeden Fall müssen die Arbeite¬
rinnen ihre Ausgaben einschränken, und zwar die Ausgaben fürs Essen. In
der Milchhandlung und beim Bäcker finden sie zwar zuweilen auf kurze Zeit
Kredit, nicht aber beim Speisewirt lMiteur), und die Folge ist, daß viele
hungern müssen. Auch die Zeitung zu .einem Sou können sie nicht mehr
kaufen, und das bedeutet für sie oft eine ebenso schwere Entbehrung, wie
wenn sie auf das Frühstück verzichten müssen. Die Tapfern hungern vielleicht
wochenlang, bis sich wieder Arbeit findet, aber viele unterliegen bis dahin der
Versuchung, die von so vielen Seiten an sie herantritt, und wenn sie einmal
den Weg des Lasters betreten haben, verlassen sie ihn nur selten. Die un¬
genügende Nahrung hat eine körperliche Schwäche zur Folge, die diese armen
Geschöpfe für Krankheiten um so empfänglicher macht. Viele fallen der Schwind¬
sucht anheim.

Welches sind die Mittel zur Abhilfe? Arbeiterinnen, Prinzipale und
Publikum können zur Linderung der Not beitragen. Die Arbeiterinnen dadurch,
daß sie zur Zeit des Verdienstes sparen und sich für die Periode der Arbeits¬
losigkeit etwas zurücklegen. Aber leider thun das nur wenige. Die Ver-


Winterkleider fertig, so tritt wieder eine flaue Geschäftszeit ein (Ende Dezember),
die je nach den Verhältnissen von kürzerer oder längerer Dauer ist. Als der
Zar nach Frankreich kam, trat keine Arbeitslosigkeit ein, und auch dieses Jahr
waren die Arbeiterinnen mit Rücksicht auf die bevorstehende Weltausstellung
vollauf beschäftigt. Diese „glücklichen Ereignisse" sind aber selten, und wenn
der Winter einen traurigen Verlauf nimmt, so ist nnter den Näherinnen und
Konfektionsarbeiterinnen das Elend groß.

Graf d'Haussonville teilt folgendes Budget einer Näherin mit, die in
einem vornehmen Konfektionsgeschäft der rue dö 1a?aix beschäftigt ist, solange
die Saison dauert. Sie braucht monatlich für Nahrung mindestens 60 Franken,
für Miete 9 Franken, Wäsche, Toilette usw. 12 Franken, in Summa 81 Franken.
Dabei ist für Vergnügungen nichts mitgerechnet, und welche Entbehrung das
für ein junges Mädchen von zwanzig Jahren bedeutet, vermag nur der zu
beurteilen, der den lebenslustigen Charakter der Pariserin kennt. Der Lohn
beträgt 4 Franken täglich, also etwa 10V Franken monatlich. Da bleibt also
ein Überschuß vou 19 Mark monatlich, sodaß die Arbeiterin mit einer Er¬
sparnis von 152 Franken in die tote Saison eintreten kann. Wenn sie aber
in diesen vier Monaten nichts verdient und ihre Ausgaben nicht einschränkt,
so steht sie vor einem Defizit von mindestens 200 Franken. Die Lage ist
noch schwieriger für die vielen Arbeiterinnen, die nicht das Glück haben,
4 Franken täglich zu verdienen. Wohlwollende Prinzipale kommen ihren Ar¬
beiterinnen allerdings in der Weise entgegen, daß sie alle wenigstens während
halber Tage beschäftigen, um niemand .entlassen zu müssen, aber kleinen Ge¬
schäften ist das nicht einmal möglich. Die entlassenen Arbeiterinnen suchen
dann Beschäftigung bei Bekannten und Verwandten, und daher kommt es,
daß in Paris selbst die Frauen, die für ihre Toilette nur wenig Geld aus¬
geben können, so gut gekleidet sind. Aber ans jeden Fall müssen die Arbeite¬
rinnen ihre Ausgaben einschränken, und zwar die Ausgaben fürs Essen. In
der Milchhandlung und beim Bäcker finden sie zwar zuweilen auf kurze Zeit
Kredit, nicht aber beim Speisewirt lMiteur), und die Folge ist, daß viele
hungern müssen. Auch die Zeitung zu .einem Sou können sie nicht mehr
kaufen, und das bedeutet für sie oft eine ebenso schwere Entbehrung, wie
wenn sie auf das Frühstück verzichten müssen. Die Tapfern hungern vielleicht
wochenlang, bis sich wieder Arbeit findet, aber viele unterliegen bis dahin der
Versuchung, die von so vielen Seiten an sie herantritt, und wenn sie einmal
den Weg des Lasters betreten haben, verlassen sie ihn nur selten. Die un¬
genügende Nahrung hat eine körperliche Schwäche zur Folge, die diese armen
Geschöpfe für Krankheiten um so empfänglicher macht. Viele fallen der Schwind¬
sucht anheim.

Welches sind die Mittel zur Abhilfe? Arbeiterinnen, Prinzipale und
Publikum können zur Linderung der Not beitragen. Die Arbeiterinnen dadurch,
daß sie zur Zeit des Verdienstes sparen und sich für die Periode der Arbeits¬
losigkeit etwas zurücklegen. Aber leider thun das nur wenige. Die Ver-


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[0621] Winterkleider fertig, so tritt wieder eine flaue Geschäftszeit ein (Ende Dezember), die je nach den Verhältnissen von kürzerer oder längerer Dauer ist. Als der Zar nach Frankreich kam, trat keine Arbeitslosigkeit ein, und auch dieses Jahr waren die Arbeiterinnen mit Rücksicht auf die bevorstehende Weltausstellung vollauf beschäftigt. Diese „glücklichen Ereignisse" sind aber selten, und wenn der Winter einen traurigen Verlauf nimmt, so ist nnter den Näherinnen und Konfektionsarbeiterinnen das Elend groß. Graf d'Haussonville teilt folgendes Budget einer Näherin mit, die in einem vornehmen Konfektionsgeschäft der rue dö 1a?aix beschäftigt ist, solange die Saison dauert. Sie braucht monatlich für Nahrung mindestens 60 Franken, für Miete 9 Franken, Wäsche, Toilette usw. 12 Franken, in Summa 81 Franken. Dabei ist für Vergnügungen nichts mitgerechnet, und welche Entbehrung das für ein junges Mädchen von zwanzig Jahren bedeutet, vermag nur der zu beurteilen, der den lebenslustigen Charakter der Pariserin kennt. Der Lohn beträgt 4 Franken täglich, also etwa 10V Franken monatlich. Da bleibt also ein Überschuß vou 19 Mark monatlich, sodaß die Arbeiterin mit einer Er¬ sparnis von 152 Franken in die tote Saison eintreten kann. Wenn sie aber in diesen vier Monaten nichts verdient und ihre Ausgaben nicht einschränkt, so steht sie vor einem Defizit von mindestens 200 Franken. Die Lage ist noch schwieriger für die vielen Arbeiterinnen, die nicht das Glück haben, 4 Franken täglich zu verdienen. Wohlwollende Prinzipale kommen ihren Ar¬ beiterinnen allerdings in der Weise entgegen, daß sie alle wenigstens während halber Tage beschäftigen, um niemand .entlassen zu müssen, aber kleinen Ge¬ schäften ist das nicht einmal möglich. Die entlassenen Arbeiterinnen suchen dann Beschäftigung bei Bekannten und Verwandten, und daher kommt es, daß in Paris selbst die Frauen, die für ihre Toilette nur wenig Geld aus¬ geben können, so gut gekleidet sind. Aber ans jeden Fall müssen die Arbeite¬ rinnen ihre Ausgaben einschränken, und zwar die Ausgaben fürs Essen. In der Milchhandlung und beim Bäcker finden sie zwar zuweilen auf kurze Zeit Kredit, nicht aber beim Speisewirt lMiteur), und die Folge ist, daß viele hungern müssen. Auch die Zeitung zu .einem Sou können sie nicht mehr kaufen, und das bedeutet für sie oft eine ebenso schwere Entbehrung, wie wenn sie auf das Frühstück verzichten müssen. Die Tapfern hungern vielleicht wochenlang, bis sich wieder Arbeit findet, aber viele unterliegen bis dahin der Versuchung, die von so vielen Seiten an sie herantritt, und wenn sie einmal den Weg des Lasters betreten haben, verlassen sie ihn nur selten. Die un¬ genügende Nahrung hat eine körperliche Schwäche zur Folge, die diese armen Geschöpfe für Krankheiten um so empfänglicher macht. Viele fallen der Schwind¬ sucht anheim. Welches sind die Mittel zur Abhilfe? Arbeiterinnen, Prinzipale und Publikum können zur Linderung der Not beitragen. Die Arbeiterinnen dadurch, daß sie zur Zeit des Verdienstes sparen und sich für die Periode der Arbeits¬ losigkeit etwas zurücklegen. Aber leider thun das nur wenige. Die Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/621>, abgerufen am 24.08.2024.