Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kontinentales und maritimes Gleichgewicht

die Ausrottung der Wnldenser sind nicht mehr weit. Mit dem Fanatismus
einer kirchlichen Sekte wird heute in England offen gepredigt, daß, wo das
Wohl Englands in Frage komme, kein Recht andrer Völker bestehn könnet)
Dieses englische Volk, das im privaten Leben die für die Kultur fundamentale
Heilighaltung des Rechts ebenso wie andre Kulturvölker anerkennt, duldet eine
Strömung, die sich wie ein Attila, Tamerlan oder Napoleon national über
alles fremde Recht hinwegsetzt. Dieses fromme Volk ertrüge eine Partei, die
von hervorragenden Engländern selbst für mit der Moral unversöhnbar erklärt
wird, und die heilte England regiert. Wenn sich dieser imperialistische Fanatis¬
mus in England weiter ausbreitet, dann steht zu befürchten, daß die Grund¬
lagen unsrer Kultur erschüttert werden. Wir sind schon weit genug abge¬
kommen von diesen Grundlagen, indem wir Humanität, nationales Recht, indem
wir Prinzip und Treue belächeln, indem wir der Kraft, auch wenn sie nur
rohe Gewalt ist, indem wir uns nur zu leicht dem Nutzen, dem Erfolge beugen.
Soll die Verleugnung von Moral und Recht, soll die rohe Macht nun unser
sittliches Ideal werden? Was haben wir denn hundert Jahre lang die Fran¬
zosen wegen ihrer Revolution geschmäht, in der Moral und Recht von einem
Volk gebrochen wurden, das doch immerhin eine Art von Naturrecht auf Rache
in einer lange vorhergehenden Mißhandlung für sich hatte? Damals zerbrach
die Leidenschaft des Unterdrückten alle sittlichen und rechtlichen Schranken:
heute will die Leidenschaft des Unterdrückers dasselbe thun; was die Jakobiner
zur Erkümpfnng der Freiheit für erlaubt hielten, das halten die englischen
Imperialisten für erlaubt zur Begründung der Knechtung. Wir haben genug
und übergenug an Nietzschischem Wahnsinn und an der Vergötterung der rohen
Macht! Mit dem imperialistischen England kann Europa keinen Frieden haben,
weder in Moral und Recht, noch in Volkswirtschaft und Politik. Und es ist
erfreulich, daß dieses Gefühl in fast allen Völkern des Kontinents wach ge¬
worden und zum Ausdruck gelangt ist. Wie es aus England zurückschallt,
könnte man fast meinen, daß dort nur ein Napoleon Bonaparte fehle, um die
Welt zu erobern. Inzwischen bliebe zu erwägen, in welcher Weise die Staaten,
die sich bedroht fühlen, durch eine Einigung größere Sicherheit erlangen
könnten.

Einer unsrer geistvollsten Publizisten^) hat vor mehr als vierzig Jahren
geschrieben: "Um es kurz zu sagen, es kommt auf eine große Koalition an,
deren kontinentale Basis das deutsche Staatensystem bildet, und welche ihre
maritime Ergänzung in England zu suchen hat. Und solange eine solche
Koalition nicht besteht, ist das europäische Gleichgewicht eine Phrase, wohinter
das Gegenteil von dein verborgen steckt, was sie sagen will." Und weiter
sagt er: "Unter solchen Umständen könnte von einem wirklichen Gleichgewicht




Vergl. den zitierten Artikel der Ksvus as" clsux monäsL.
Konstantin Frantz, Untersuchungen über das europäische Gleichgewicht (anonym er¬
schienen) I8SS, Seite ISO ff.
Kontinentales und maritimes Gleichgewicht

die Ausrottung der Wnldenser sind nicht mehr weit. Mit dem Fanatismus
einer kirchlichen Sekte wird heute in England offen gepredigt, daß, wo das
Wohl Englands in Frage komme, kein Recht andrer Völker bestehn könnet)
Dieses englische Volk, das im privaten Leben die für die Kultur fundamentale
Heilighaltung des Rechts ebenso wie andre Kulturvölker anerkennt, duldet eine
Strömung, die sich wie ein Attila, Tamerlan oder Napoleon national über
alles fremde Recht hinwegsetzt. Dieses fromme Volk ertrüge eine Partei, die
von hervorragenden Engländern selbst für mit der Moral unversöhnbar erklärt
wird, und die heilte England regiert. Wenn sich dieser imperialistische Fanatis¬
mus in England weiter ausbreitet, dann steht zu befürchten, daß die Grund¬
lagen unsrer Kultur erschüttert werden. Wir sind schon weit genug abge¬
kommen von diesen Grundlagen, indem wir Humanität, nationales Recht, indem
wir Prinzip und Treue belächeln, indem wir der Kraft, auch wenn sie nur
rohe Gewalt ist, indem wir uns nur zu leicht dem Nutzen, dem Erfolge beugen.
Soll die Verleugnung von Moral und Recht, soll die rohe Macht nun unser
sittliches Ideal werden? Was haben wir denn hundert Jahre lang die Fran¬
zosen wegen ihrer Revolution geschmäht, in der Moral und Recht von einem
Volk gebrochen wurden, das doch immerhin eine Art von Naturrecht auf Rache
in einer lange vorhergehenden Mißhandlung für sich hatte? Damals zerbrach
die Leidenschaft des Unterdrückten alle sittlichen und rechtlichen Schranken:
heute will die Leidenschaft des Unterdrückers dasselbe thun; was die Jakobiner
zur Erkümpfnng der Freiheit für erlaubt hielten, das halten die englischen
Imperialisten für erlaubt zur Begründung der Knechtung. Wir haben genug
und übergenug an Nietzschischem Wahnsinn und an der Vergötterung der rohen
Macht! Mit dem imperialistischen England kann Europa keinen Frieden haben,
weder in Moral und Recht, noch in Volkswirtschaft und Politik. Und es ist
erfreulich, daß dieses Gefühl in fast allen Völkern des Kontinents wach ge¬
worden und zum Ausdruck gelangt ist. Wie es aus England zurückschallt,
könnte man fast meinen, daß dort nur ein Napoleon Bonaparte fehle, um die
Welt zu erobern. Inzwischen bliebe zu erwägen, in welcher Weise die Staaten,
die sich bedroht fühlen, durch eine Einigung größere Sicherheit erlangen
könnten.

Einer unsrer geistvollsten Publizisten^) hat vor mehr als vierzig Jahren
geschrieben: „Um es kurz zu sagen, es kommt auf eine große Koalition an,
deren kontinentale Basis das deutsche Staatensystem bildet, und welche ihre
maritime Ergänzung in England zu suchen hat. Und solange eine solche
Koalition nicht besteht, ist das europäische Gleichgewicht eine Phrase, wohinter
das Gegenteil von dein verborgen steckt, was sie sagen will." Und weiter
sagt er: „Unter solchen Umständen könnte von einem wirklichen Gleichgewicht




Vergl. den zitierten Artikel der Ksvus as« clsux monäsL.
Konstantin Frantz, Untersuchungen über das europäische Gleichgewicht (anonym er¬
schienen) I8SS, Seite ISO ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0611" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291022"/>
          <fw type="header" place="top"> Kontinentales und maritimes Gleichgewicht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2089" prev="#ID_2088"> die Ausrottung der Wnldenser sind nicht mehr weit. Mit dem Fanatismus<lb/>
einer kirchlichen Sekte wird heute in England offen gepredigt, daß, wo das<lb/>
Wohl Englands in Frage komme, kein Recht andrer Völker bestehn könnet)<lb/>
Dieses englische Volk, das im privaten Leben die für die Kultur fundamentale<lb/>
Heilighaltung des Rechts ebenso wie andre Kulturvölker anerkennt, duldet eine<lb/>
Strömung, die sich wie ein Attila, Tamerlan oder Napoleon national über<lb/>
alles fremde Recht hinwegsetzt. Dieses fromme Volk ertrüge eine Partei, die<lb/>
von hervorragenden Engländern selbst für mit der Moral unversöhnbar erklärt<lb/>
wird, und die heilte England regiert. Wenn sich dieser imperialistische Fanatis¬<lb/>
mus in England weiter ausbreitet, dann steht zu befürchten, daß die Grund¬<lb/>
lagen unsrer Kultur erschüttert werden. Wir sind schon weit genug abge¬<lb/>
kommen von diesen Grundlagen, indem wir Humanität, nationales Recht, indem<lb/>
wir Prinzip und Treue belächeln, indem wir der Kraft, auch wenn sie nur<lb/>
rohe Gewalt ist, indem wir uns nur zu leicht dem Nutzen, dem Erfolge beugen.<lb/>
Soll die Verleugnung von Moral und Recht, soll die rohe Macht nun unser<lb/>
sittliches Ideal werden? Was haben wir denn hundert Jahre lang die Fran¬<lb/>
zosen wegen ihrer Revolution geschmäht, in der Moral und Recht von einem<lb/>
Volk gebrochen wurden, das doch immerhin eine Art von Naturrecht auf Rache<lb/>
in einer lange vorhergehenden Mißhandlung für sich hatte? Damals zerbrach<lb/>
die Leidenschaft des Unterdrückten alle sittlichen und rechtlichen Schranken:<lb/>
heute will die Leidenschaft des Unterdrückers dasselbe thun; was die Jakobiner<lb/>
zur Erkümpfnng der Freiheit für erlaubt hielten, das halten die englischen<lb/>
Imperialisten für erlaubt zur Begründung der Knechtung. Wir haben genug<lb/>
und übergenug an Nietzschischem Wahnsinn und an der Vergötterung der rohen<lb/>
Macht! Mit dem imperialistischen England kann Europa keinen Frieden haben,<lb/>
weder in Moral und Recht, noch in Volkswirtschaft und Politik. Und es ist<lb/>
erfreulich, daß dieses Gefühl in fast allen Völkern des Kontinents wach ge¬<lb/>
worden und zum Ausdruck gelangt ist. Wie es aus England zurückschallt,<lb/>
könnte man fast meinen, daß dort nur ein Napoleon Bonaparte fehle, um die<lb/>
Welt zu erobern. Inzwischen bliebe zu erwägen, in welcher Weise die Staaten,<lb/>
die sich bedroht fühlen, durch eine Einigung größere Sicherheit erlangen<lb/>
könnten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2090" next="#ID_2091"> Einer unsrer geistvollsten Publizisten^) hat vor mehr als vierzig Jahren<lb/>
geschrieben: &#x201E;Um es kurz zu sagen, es kommt auf eine große Koalition an,<lb/>
deren kontinentale Basis das deutsche Staatensystem bildet, und welche ihre<lb/>
maritime Ergänzung in England zu suchen hat. Und solange eine solche<lb/>
Koalition nicht besteht, ist das europäische Gleichgewicht eine Phrase, wohinter<lb/>
das Gegenteil von dein verborgen steckt, was sie sagen will." Und weiter<lb/>
sagt er: &#x201E;Unter solchen Umständen könnte von einem wirklichen Gleichgewicht</p><lb/>
          <note xml:id="FID_80" place="foot"> Vergl. den zitierten Artikel der Ksvus as« clsux monäsL.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_81" place="foot"> Konstantin Frantz, Untersuchungen über das europäische Gleichgewicht (anonym er¬<lb/>
schienen) I8SS, Seite ISO ff.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0611] Kontinentales und maritimes Gleichgewicht die Ausrottung der Wnldenser sind nicht mehr weit. Mit dem Fanatismus einer kirchlichen Sekte wird heute in England offen gepredigt, daß, wo das Wohl Englands in Frage komme, kein Recht andrer Völker bestehn könnet) Dieses englische Volk, das im privaten Leben die für die Kultur fundamentale Heilighaltung des Rechts ebenso wie andre Kulturvölker anerkennt, duldet eine Strömung, die sich wie ein Attila, Tamerlan oder Napoleon national über alles fremde Recht hinwegsetzt. Dieses fromme Volk ertrüge eine Partei, die von hervorragenden Engländern selbst für mit der Moral unversöhnbar erklärt wird, und die heilte England regiert. Wenn sich dieser imperialistische Fanatis¬ mus in England weiter ausbreitet, dann steht zu befürchten, daß die Grund¬ lagen unsrer Kultur erschüttert werden. Wir sind schon weit genug abge¬ kommen von diesen Grundlagen, indem wir Humanität, nationales Recht, indem wir Prinzip und Treue belächeln, indem wir der Kraft, auch wenn sie nur rohe Gewalt ist, indem wir uns nur zu leicht dem Nutzen, dem Erfolge beugen. Soll die Verleugnung von Moral und Recht, soll die rohe Macht nun unser sittliches Ideal werden? Was haben wir denn hundert Jahre lang die Fran¬ zosen wegen ihrer Revolution geschmäht, in der Moral und Recht von einem Volk gebrochen wurden, das doch immerhin eine Art von Naturrecht auf Rache in einer lange vorhergehenden Mißhandlung für sich hatte? Damals zerbrach die Leidenschaft des Unterdrückten alle sittlichen und rechtlichen Schranken: heute will die Leidenschaft des Unterdrückers dasselbe thun; was die Jakobiner zur Erkümpfnng der Freiheit für erlaubt hielten, das halten die englischen Imperialisten für erlaubt zur Begründung der Knechtung. Wir haben genug und übergenug an Nietzschischem Wahnsinn und an der Vergötterung der rohen Macht! Mit dem imperialistischen England kann Europa keinen Frieden haben, weder in Moral und Recht, noch in Volkswirtschaft und Politik. Und es ist erfreulich, daß dieses Gefühl in fast allen Völkern des Kontinents wach ge¬ worden und zum Ausdruck gelangt ist. Wie es aus England zurückschallt, könnte man fast meinen, daß dort nur ein Napoleon Bonaparte fehle, um die Welt zu erobern. Inzwischen bliebe zu erwägen, in welcher Weise die Staaten, die sich bedroht fühlen, durch eine Einigung größere Sicherheit erlangen könnten. Einer unsrer geistvollsten Publizisten^) hat vor mehr als vierzig Jahren geschrieben: „Um es kurz zu sagen, es kommt auf eine große Koalition an, deren kontinentale Basis das deutsche Staatensystem bildet, und welche ihre maritime Ergänzung in England zu suchen hat. Und solange eine solche Koalition nicht besteht, ist das europäische Gleichgewicht eine Phrase, wohinter das Gegenteil von dein verborgen steckt, was sie sagen will." Und weiter sagt er: „Unter solchen Umständen könnte von einem wirklichen Gleichgewicht Vergl. den zitierten Artikel der Ksvus as« clsux monäsL. Konstantin Frantz, Untersuchungen über das europäische Gleichgewicht (anonym er¬ schienen) I8SS, Seite ISO ff.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/611
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/611>, abgerufen am 22.07.2024.