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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Acmtinenwles und maritimes Gleichgewicht

Die Thatkraft dieses Volkes ist erstaunlich. Aber ist denn dieses Welt¬
reich noch ein europäischer Staat? Gehört England noch zu dem enropäischen
Staatensystem? Welche Interessen hätte es noch in Europa, die, in dem Tiegel
stantsmännischer Skepsis aufgelöst, nicht als einzigen realen Bestandteil das
Bedürfnis zurückließen, Enropn in der Blockade zu erhalten und keine großen
Flotten aufkommen zu lassen? Im übrigen behält es sich vor, Nebenbuhler
in Industrie und Handel, die gefährlich werden, beiseite zu dränge". Zwar
nicht in Europa, sondern dn, wo es Herr ist, draußen zur See und in andern
Weltteilen. Denn das Geschäftsprinzip in dieser Aktiengesellschaft, die Eng¬
land heißt, blieb bisher zwar der Freihandel, aber doch mir deshalb, weil
immer und überall für deu Stärksten die Freiheit am vorteilhafteste" ist.
Käme eilt Stärkerer, so würde die Firma England ihr Geschäftsprinzip keinen
Augenblick länger beibehalten, und die Herren des (Zroa-Wr Lritmn und des
KrikiLli l^inpii'ö haben das Prinzip prinzipiell ja mich schon aufgegeben. Des¬
halb, weil Englands Politik längst ebensowenig europäisch ist, wie die der
Vereinigten Staaten von Nordamerika; deshalb, weil jede zwischen zweien der
Kontinentalstnnten auftauchende Frage, auch jeder nnsbrechende Krieg, von
England, auch wenn es daran thätige" Anteil nimmt, niemals im Interesse
der Wohlfahrt Europas, im Interesse eines der streitenden Teile, sondern
immer im Interesse seines außereuropäischen Weltreichs wird beurteilt werden:
deshalb wird keine Rechnung stimmen, die ein europäischer Kongreß nnter Mit¬
wirkung Englands in enropäischen internationalen Geschäften-aufstellt. Eng¬
land wird immer bereit sein, i" diese" Geschäften eiuen Einfluß zu üben, aber
es wird keinem Kongreß einen gleichen Einfluß ans sich selbst erlauben. Wer
mit England aus einer Schüssel essen will, der muß eilten längern Löffel
haben, als wie er in Enropa wenigstens bis heute aufzutretben ist.

Vor anderthalb Jahrhunderten schon schien es dem englischen Gelehrten
Hume, daß England "gänzlich gleichgiltig und sorglos in Rücksicht auf das
Schicksal Europas" werden konnte. Das ist um in dem Sinne eingetreten,
daß es für England bellte zweifelhaft erscheine" kann, ob ihm die Existenz
Europas nützlich oder hinderlich ist. Es braucht Europa kaum mehr, um sich
ans seiner materiellen und staatlichen Höhe zu erhalten. Aber schwerlich wird
eilt englischer Staatsmann den Rückhalt missen wollen, den die englische Kultur-
kraft in Europa findet. Das alte Europa der klassischen Kultur macht immer
eine Familie eigentümlichen Geistes aus, dessen belebender Kraft keines der
Familienglieder ohne Schaden entbehren kann. Und ein Weltreich wie das
Größere Britannien besteht nicht ewig, so wenig wie Rom ewig bestanden hat,
dem es doch ähnlich ist an werdender Kraft und staatlichem Charakter. So
gut wie Nordamerika sich loslöste, so gut kau" das auch mit andern Kolonien
geschehn, und Leute wie Gladstone siud ja geneigt, freiwillig die britische Herr¬
schaft aufzugeben. Herrscht heute der Imperialismus, so ist vielleicht morgen
die entgegengesetzte Meinung zur Leitung der Geschäfte berufen. Und Leute
wie Dilke gestehn, daß, soweit es sich um eine Zentralisatio" durch eine alle


Acmtinenwles und maritimes Gleichgewicht

Die Thatkraft dieses Volkes ist erstaunlich. Aber ist denn dieses Welt¬
reich noch ein europäischer Staat? Gehört England noch zu dem enropäischen
Staatensystem? Welche Interessen hätte es noch in Europa, die, in dem Tiegel
stantsmännischer Skepsis aufgelöst, nicht als einzigen realen Bestandteil das
Bedürfnis zurückließen, Enropn in der Blockade zu erhalten und keine großen
Flotten aufkommen zu lassen? Im übrigen behält es sich vor, Nebenbuhler
in Industrie und Handel, die gefährlich werden, beiseite zu dränge». Zwar
nicht in Europa, sondern dn, wo es Herr ist, draußen zur See und in andern
Weltteilen. Denn das Geschäftsprinzip in dieser Aktiengesellschaft, die Eng¬
land heißt, blieb bisher zwar der Freihandel, aber doch mir deshalb, weil
immer und überall für deu Stärksten die Freiheit am vorteilhafteste» ist.
Käme eilt Stärkerer, so würde die Firma England ihr Geschäftsprinzip keinen
Augenblick länger beibehalten, und die Herren des (Zroa-Wr Lritmn und des
KrikiLli l^inpii'ö haben das Prinzip prinzipiell ja mich schon aufgegeben. Des¬
halb, weil Englands Politik längst ebensowenig europäisch ist, wie die der
Vereinigten Staaten von Nordamerika; deshalb, weil jede zwischen zweien der
Kontinentalstnnten auftauchende Frage, auch jeder nnsbrechende Krieg, von
England, auch wenn es daran thätige» Anteil nimmt, niemals im Interesse
der Wohlfahrt Europas, im Interesse eines der streitenden Teile, sondern
immer im Interesse seines außereuropäischen Weltreichs wird beurteilt werden:
deshalb wird keine Rechnung stimmen, die ein europäischer Kongreß nnter Mit¬
wirkung Englands in enropäischen internationalen Geschäften-aufstellt. Eng¬
land wird immer bereit sein, i» diese» Geschäften eiuen Einfluß zu üben, aber
es wird keinem Kongreß einen gleichen Einfluß ans sich selbst erlauben. Wer
mit England aus einer Schüssel essen will, der muß eilten längern Löffel
haben, als wie er in Enropa wenigstens bis heute aufzutretben ist.

Vor anderthalb Jahrhunderten schon schien es dem englischen Gelehrten
Hume, daß England „gänzlich gleichgiltig und sorglos in Rücksicht auf das
Schicksal Europas" werden konnte. Das ist um in dem Sinne eingetreten,
daß es für England bellte zweifelhaft erscheine» kann, ob ihm die Existenz
Europas nützlich oder hinderlich ist. Es braucht Europa kaum mehr, um sich
ans seiner materiellen und staatlichen Höhe zu erhalten. Aber schwerlich wird
eilt englischer Staatsmann den Rückhalt missen wollen, den die englische Kultur-
kraft in Europa findet. Das alte Europa der klassischen Kultur macht immer
eine Familie eigentümlichen Geistes aus, dessen belebender Kraft keines der
Familienglieder ohne Schaden entbehren kann. Und ein Weltreich wie das
Größere Britannien besteht nicht ewig, so wenig wie Rom ewig bestanden hat,
dem es doch ähnlich ist an werdender Kraft und staatlichem Charakter. So
gut wie Nordamerika sich loslöste, so gut kau» das auch mit andern Kolonien
geschehn, und Leute wie Gladstone siud ja geneigt, freiwillig die britische Herr¬
schaft aufzugeben. Herrscht heute der Imperialismus, so ist vielleicht morgen
die entgegengesetzte Meinung zur Leitung der Geschäfte berufen. Und Leute
wie Dilke gestehn, daß, soweit es sich um eine Zentralisatio» durch eine alle


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[0566] Acmtinenwles und maritimes Gleichgewicht Die Thatkraft dieses Volkes ist erstaunlich. Aber ist denn dieses Welt¬ reich noch ein europäischer Staat? Gehört England noch zu dem enropäischen Staatensystem? Welche Interessen hätte es noch in Europa, die, in dem Tiegel stantsmännischer Skepsis aufgelöst, nicht als einzigen realen Bestandteil das Bedürfnis zurückließen, Enropn in der Blockade zu erhalten und keine großen Flotten aufkommen zu lassen? Im übrigen behält es sich vor, Nebenbuhler in Industrie und Handel, die gefährlich werden, beiseite zu dränge». Zwar nicht in Europa, sondern dn, wo es Herr ist, draußen zur See und in andern Weltteilen. Denn das Geschäftsprinzip in dieser Aktiengesellschaft, die Eng¬ land heißt, blieb bisher zwar der Freihandel, aber doch mir deshalb, weil immer und überall für deu Stärksten die Freiheit am vorteilhafteste» ist. Käme eilt Stärkerer, so würde die Firma England ihr Geschäftsprinzip keinen Augenblick länger beibehalten, und die Herren des (Zroa-Wr Lritmn und des KrikiLli l^inpii'ö haben das Prinzip prinzipiell ja mich schon aufgegeben. Des¬ halb, weil Englands Politik längst ebensowenig europäisch ist, wie die der Vereinigten Staaten von Nordamerika; deshalb, weil jede zwischen zweien der Kontinentalstnnten auftauchende Frage, auch jeder nnsbrechende Krieg, von England, auch wenn es daran thätige» Anteil nimmt, niemals im Interesse der Wohlfahrt Europas, im Interesse eines der streitenden Teile, sondern immer im Interesse seines außereuropäischen Weltreichs wird beurteilt werden: deshalb wird keine Rechnung stimmen, die ein europäischer Kongreß nnter Mit¬ wirkung Englands in enropäischen internationalen Geschäften-aufstellt. Eng¬ land wird immer bereit sein, i» diese» Geschäften eiuen Einfluß zu üben, aber es wird keinem Kongreß einen gleichen Einfluß ans sich selbst erlauben. Wer mit England aus einer Schüssel essen will, der muß eilten längern Löffel haben, als wie er in Enropa wenigstens bis heute aufzutretben ist. Vor anderthalb Jahrhunderten schon schien es dem englischen Gelehrten Hume, daß England „gänzlich gleichgiltig und sorglos in Rücksicht auf das Schicksal Europas" werden konnte. Das ist um in dem Sinne eingetreten, daß es für England bellte zweifelhaft erscheine» kann, ob ihm die Existenz Europas nützlich oder hinderlich ist. Es braucht Europa kaum mehr, um sich ans seiner materiellen und staatlichen Höhe zu erhalten. Aber schwerlich wird eilt englischer Staatsmann den Rückhalt missen wollen, den die englische Kultur- kraft in Europa findet. Das alte Europa der klassischen Kultur macht immer eine Familie eigentümlichen Geistes aus, dessen belebender Kraft keines der Familienglieder ohne Schaden entbehren kann. Und ein Weltreich wie das Größere Britannien besteht nicht ewig, so wenig wie Rom ewig bestanden hat, dem es doch ähnlich ist an werdender Kraft und staatlichem Charakter. So gut wie Nordamerika sich loslöste, so gut kau» das auch mit andern Kolonien geschehn, und Leute wie Gladstone siud ja geneigt, freiwillig die britische Herr¬ schaft aufzugeben. Herrscht heute der Imperialismus, so ist vielleicht morgen die entgegengesetzte Meinung zur Leitung der Geschäfte berufen. Und Leute wie Dilke gestehn, daß, soweit es sich um eine Zentralisatio» durch eine alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/566>, abgerufen am 22.07.2024.