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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die alte und die neue Dachgesellschaft

Bachscher Formen in der modernen Musik, namentlich in der Form der Suite
sind hübsche, lebensfähige Schöpfungen entstanden.

Unmittelbar der Gesamtausgabe zuzuschreiben sind natürlich die Erfolge,
die Bachs Werke in neuerer Zeit im Konzertsaal erzielt haben. Man braucht
nur an die vielen Aufführungen der beiden großen Passionen oder die eifrige
Pflege der Orgel- und Klavierwerke zu erinnern, und jedermann wird die
Wirkung der Gesamtausgabe klar. Trotz dieser Erfolge ist aber nach Kretzschmar
das Erreichte an vielen Punkten hinter dem Erreichbaren zurückgeblieben.
Er erinnert namentlich an die vielen Kantaten, die noch brach liegen, an die
wenig benutzten Konzerte usw.

Der Gründe, weshalb vieles noch nicht die verdiente Würdigung gefunden,
sind mancherlei. Die Kirchcnkcmtnten z. B. gehören in den Gottesdienst und
können im Konzertsaal, wo man es mit ihnen versucht hat, unmöglich volle
Wirkung üben. Auch die mangelhafte Aufnahme und Wirkung der Bachaus¬
gabe fällt zum Teil der Thätigkeit der Gesellschaft zu Lasten. "Wenn von
den Erfahrungen der Bnchgesellschaft -- heißt es Seite 45 des Berichts --
überhaupt eine allgemeine Wichtigkeit hat, so ist es die: daß es nicht genügt,
die Werke alter Meister in kritischen Nennusgabcn vorzulegen, sondern daß
Mittel und Wege gefunden werden müssen, diese Neuansgaben in die prak¬
tische Musik überzuleiten. An dieser Verbindung mit der Musikpflege mangelt
es allen unsern heutigen Bestrebungen zur Wiederbelebung alter Tonkunst,
und hier gilt es für die nächste Zukunft einzusetzen. Unsre Neunusgaben er¬
leichtern die allgemeine Zugänglichkeit zur Kunst früherer Zeiten, sie schirmen
und bergen die Schütze der Vergangenheit vor Vergessen und Verderben besser
als Handschriften und Stimmendrucke; aber sie schützen nicht absolut. Wie die
alten Drucke, so werden in absehbarer Zeit auch die Neudrucke wieder in
Bibliotheken begraben sein, wenn ihr Inhalt nicht klingend aufersteht. Auch
die Gesamtausgabe der Bachgesellschaft hat nur als Vorarbeit und Grundlage
für die vollständige praktische Einbürgerung seiner Werke Wert, und die Freunde
des Meisters haben dafür zu sorgen, daß wir dieses Ziel von allen Linien aus
erreichen."

Damit sind wir bei der neuen Bachgesellschaft angelangt. Diese wurde
am 27. Januar d. I., an dem Tage, wo sich die alte Bnchgesellschaft auflöste,
auf Anregung des Berichts gegründet und soll eben das, was zum Schluß
der eben mitgeteilten Worte gefordert wird, zur That werden lassen. Auf
zweierlei Art und Weise sucht die neue Gesellschaft ihr Ziel zu erreichen: einmal
durch Veranstaltung von Bachfesten, die in der Regel aller zwei Jahre statt¬
finden sollen, zweitens durch Veröffentlichung von volkstümlich billigen Aus¬
gaben der Bachschen Werke in Urgestalt oder Bearbeitung und von aufklärenden
Schriften über Werke Bachs.

Den großen Wert der geplanten Bachfeste wird jedermann ohne weiteres
mischen. Will man alte Werke beim Publikum einführen, kommt unendlich viel
darauf an, daß man es richtig anfange. Bei den Bachfesten wird man wissen,


Die alte und die neue Dachgesellschaft

Bachscher Formen in der modernen Musik, namentlich in der Form der Suite
sind hübsche, lebensfähige Schöpfungen entstanden.

Unmittelbar der Gesamtausgabe zuzuschreiben sind natürlich die Erfolge,
die Bachs Werke in neuerer Zeit im Konzertsaal erzielt haben. Man braucht
nur an die vielen Aufführungen der beiden großen Passionen oder die eifrige
Pflege der Orgel- und Klavierwerke zu erinnern, und jedermann wird die
Wirkung der Gesamtausgabe klar. Trotz dieser Erfolge ist aber nach Kretzschmar
das Erreichte an vielen Punkten hinter dem Erreichbaren zurückgeblieben.
Er erinnert namentlich an die vielen Kantaten, die noch brach liegen, an die
wenig benutzten Konzerte usw.

Der Gründe, weshalb vieles noch nicht die verdiente Würdigung gefunden,
sind mancherlei. Die Kirchcnkcmtnten z. B. gehören in den Gottesdienst und
können im Konzertsaal, wo man es mit ihnen versucht hat, unmöglich volle
Wirkung üben. Auch die mangelhafte Aufnahme und Wirkung der Bachaus¬
gabe fällt zum Teil der Thätigkeit der Gesellschaft zu Lasten. „Wenn von
den Erfahrungen der Bnchgesellschaft — heißt es Seite 45 des Berichts —
überhaupt eine allgemeine Wichtigkeit hat, so ist es die: daß es nicht genügt,
die Werke alter Meister in kritischen Nennusgabcn vorzulegen, sondern daß
Mittel und Wege gefunden werden müssen, diese Neuansgaben in die prak¬
tische Musik überzuleiten. An dieser Verbindung mit der Musikpflege mangelt
es allen unsern heutigen Bestrebungen zur Wiederbelebung alter Tonkunst,
und hier gilt es für die nächste Zukunft einzusetzen. Unsre Neunusgaben er¬
leichtern die allgemeine Zugänglichkeit zur Kunst früherer Zeiten, sie schirmen
und bergen die Schütze der Vergangenheit vor Vergessen und Verderben besser
als Handschriften und Stimmendrucke; aber sie schützen nicht absolut. Wie die
alten Drucke, so werden in absehbarer Zeit auch die Neudrucke wieder in
Bibliotheken begraben sein, wenn ihr Inhalt nicht klingend aufersteht. Auch
die Gesamtausgabe der Bachgesellschaft hat nur als Vorarbeit und Grundlage
für die vollständige praktische Einbürgerung seiner Werke Wert, und die Freunde
des Meisters haben dafür zu sorgen, daß wir dieses Ziel von allen Linien aus
erreichen."

Damit sind wir bei der neuen Bachgesellschaft angelangt. Diese wurde
am 27. Januar d. I., an dem Tage, wo sich die alte Bnchgesellschaft auflöste,
auf Anregung des Berichts gegründet und soll eben das, was zum Schluß
der eben mitgeteilten Worte gefordert wird, zur That werden lassen. Auf
zweierlei Art und Weise sucht die neue Gesellschaft ihr Ziel zu erreichen: einmal
durch Veranstaltung von Bachfesten, die in der Regel aller zwei Jahre statt¬
finden sollen, zweitens durch Veröffentlichung von volkstümlich billigen Aus¬
gaben der Bachschen Werke in Urgestalt oder Bearbeitung und von aufklärenden
Schriften über Werke Bachs.

Den großen Wert der geplanten Bachfeste wird jedermann ohne weiteres
mischen. Will man alte Werke beim Publikum einführen, kommt unendlich viel
darauf an, daß man es richtig anfange. Bei den Bachfesten wird man wissen,


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[0547] Die alte und die neue Dachgesellschaft Bachscher Formen in der modernen Musik, namentlich in der Form der Suite sind hübsche, lebensfähige Schöpfungen entstanden. Unmittelbar der Gesamtausgabe zuzuschreiben sind natürlich die Erfolge, die Bachs Werke in neuerer Zeit im Konzertsaal erzielt haben. Man braucht nur an die vielen Aufführungen der beiden großen Passionen oder die eifrige Pflege der Orgel- und Klavierwerke zu erinnern, und jedermann wird die Wirkung der Gesamtausgabe klar. Trotz dieser Erfolge ist aber nach Kretzschmar das Erreichte an vielen Punkten hinter dem Erreichbaren zurückgeblieben. Er erinnert namentlich an die vielen Kantaten, die noch brach liegen, an die wenig benutzten Konzerte usw. Der Gründe, weshalb vieles noch nicht die verdiente Würdigung gefunden, sind mancherlei. Die Kirchcnkcmtnten z. B. gehören in den Gottesdienst und können im Konzertsaal, wo man es mit ihnen versucht hat, unmöglich volle Wirkung üben. Auch die mangelhafte Aufnahme und Wirkung der Bachaus¬ gabe fällt zum Teil der Thätigkeit der Gesellschaft zu Lasten. „Wenn von den Erfahrungen der Bnchgesellschaft — heißt es Seite 45 des Berichts — überhaupt eine allgemeine Wichtigkeit hat, so ist es die: daß es nicht genügt, die Werke alter Meister in kritischen Nennusgabcn vorzulegen, sondern daß Mittel und Wege gefunden werden müssen, diese Neuansgaben in die prak¬ tische Musik überzuleiten. An dieser Verbindung mit der Musikpflege mangelt es allen unsern heutigen Bestrebungen zur Wiederbelebung alter Tonkunst, und hier gilt es für die nächste Zukunft einzusetzen. Unsre Neunusgaben er¬ leichtern die allgemeine Zugänglichkeit zur Kunst früherer Zeiten, sie schirmen und bergen die Schütze der Vergangenheit vor Vergessen und Verderben besser als Handschriften und Stimmendrucke; aber sie schützen nicht absolut. Wie die alten Drucke, so werden in absehbarer Zeit auch die Neudrucke wieder in Bibliotheken begraben sein, wenn ihr Inhalt nicht klingend aufersteht. Auch die Gesamtausgabe der Bachgesellschaft hat nur als Vorarbeit und Grundlage für die vollständige praktische Einbürgerung seiner Werke Wert, und die Freunde des Meisters haben dafür zu sorgen, daß wir dieses Ziel von allen Linien aus erreichen." Damit sind wir bei der neuen Bachgesellschaft angelangt. Diese wurde am 27. Januar d. I., an dem Tage, wo sich die alte Bnchgesellschaft auflöste, auf Anregung des Berichts gegründet und soll eben das, was zum Schluß der eben mitgeteilten Worte gefordert wird, zur That werden lassen. Auf zweierlei Art und Weise sucht die neue Gesellschaft ihr Ziel zu erreichen: einmal durch Veranstaltung von Bachfesten, die in der Regel aller zwei Jahre statt¬ finden sollen, zweitens durch Veröffentlichung von volkstümlich billigen Aus¬ gaben der Bachschen Werke in Urgestalt oder Bearbeitung und von aufklärenden Schriften über Werke Bachs. Den großen Wert der geplanten Bachfeste wird jedermann ohne weiteres mischen. Will man alte Werke beim Publikum einführen, kommt unendlich viel darauf an, daß man es richtig anfange. Bei den Bachfesten wird man wissen,

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/547>, abgerufen am 01.10.2024.