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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die alte und die neue Bachgesellschaft

matisch verzeichnet, die bisherigen Drucke und ihre Verleger und namentlich
auch die Besitzer der Autographen und der gleichzeitigen Abschriften angiebt.
Ohne diesen Katalog, der auf 672 einzelne Kompositionen Bachs gelangt,
wäre die Gesamtausgabe der Bachgescllschaft vielleicht überhaupt nicht in An¬
griff genommen worden, jedenfalls nur mit noch viel größern Schwierigkeiten
durchzuführen gewesen, als sich so wie so ergabein

Diese Schwierigkeiten beruhten zu einem wesentlichen Teil auf dem Zu¬
stand und der außerordentlichen, bei keinem zweite" Komponisten in dieser
Weise wiederkehrenden Zerstreutheit der Vorlagen; aber in einem sehr em¬
pfindlichen Grade anch auf der mangelhaften Organisation der Gesellschaft,
Für einen offiziellen Bericht hat sich Kretzschmar über diesen letzten Punkt
mit einer ungewöhnlichen Offenheit ausgesprochen, jedoch sich bei einzelnen
Mißständen mit Andeutungen begnügen müssen, Seite 21 heißt es z. B,:
"Das Gedeihen des Unternehmens hing in erster Linie von der Thätigkeit des
Direktoriums ab, , , , Im Interesse einer raschen Geschäftsführung war be¬
stimmt worden, daß die drei Fachmnsiker, die ihm angehören mußten, ihren
Sitz in Leipzig hatten. Dabei setzte man voraus, daß sich an diesem Orte
jederzeit so viele mit Bachscher Musik und Bachschen Handschriften vertraute
Kräfte finden würden." Es Hütte nun klar gesagt werde" müssen, was mau
im weiter" Verlauf des Berichts zwischen den Zeilen lesen kann, daß die
Voraussetznttg sich als falsch erwiesen, und daß das Direktorium, besonders
dessen Vorsitz, ungenügend fungiert hat. Eine andre Stelle, in der die Meinung
des Berichterstatters etwas verhüllt bleibt, ist der Abschnitt über Wilhelm
Ruft, de" persönliche Freundschaft gern schlechtweg als "den Herausgeber
der Bachschen Werke" und als den Begründer der Bachwissenschaft feiert.
Kretzschmars durchaus objektive Würdigung läßt über seine Verdienste keine
Zweifel, aber ebensowenig darüber, daß er seine Bachforschungen nicht wissen¬
schaftlich, sondern dilettantisch betrieb. Das hätten wir aber gern deutlich aus¬
gesprochen gescheit. Ein geradezu derbes Wort Hütte das Verhalten der Fach-
und Tagespresse gegen die Bachausgabe verdient. Denn sie verhielt sich -- von
Ausnahmen, zu denen die Grenzboten obenan gehören, abgesehen -- einfach
schmachvoll.

Trotz aller Hindernisse und Müngel hat die Bachgesellschaft ihr Ziel er¬
reicht, die noch vorhandnen Werke Bachs sind zusammengebracht und in einem
Notentext vorgelegt worden, der musterhaft ist.

Die neugewonnene Bekanntschaft mit Bachs Werkelt hat einen großen
Umschwung ni der Komposition hervorgerufen. Dieser darf zwar nicht allein
auf Rechnung der Gesamtausgabe gesetzt werden, sicherlich hat sie aber vieles
mit dazu beigetragen. Der Einfluß Bachs auf die Komposition beginnt schon
bei Mendelssohn und Schumann; seit aber Richard Wagner in seinen Werken
die Polyphonie zum gestaltenden Prinzip erhoben hat, sind alle Komponisten
bis auf Richard Strauß Schüler Bachs zu nennen.

Weniger wichtig, aber immerhin bemerkenswert sind die Nachahmungen


Die alte und die neue Bachgesellschaft

matisch verzeichnet, die bisherigen Drucke und ihre Verleger und namentlich
auch die Besitzer der Autographen und der gleichzeitigen Abschriften angiebt.
Ohne diesen Katalog, der auf 672 einzelne Kompositionen Bachs gelangt,
wäre die Gesamtausgabe der Bachgescllschaft vielleicht überhaupt nicht in An¬
griff genommen worden, jedenfalls nur mit noch viel größern Schwierigkeiten
durchzuführen gewesen, als sich so wie so ergabein

Diese Schwierigkeiten beruhten zu einem wesentlichen Teil auf dem Zu¬
stand und der außerordentlichen, bei keinem zweite» Komponisten in dieser
Weise wiederkehrenden Zerstreutheit der Vorlagen; aber in einem sehr em¬
pfindlichen Grade anch auf der mangelhaften Organisation der Gesellschaft,
Für einen offiziellen Bericht hat sich Kretzschmar über diesen letzten Punkt
mit einer ungewöhnlichen Offenheit ausgesprochen, jedoch sich bei einzelnen
Mißständen mit Andeutungen begnügen müssen, Seite 21 heißt es z. B,:
„Das Gedeihen des Unternehmens hing in erster Linie von der Thätigkeit des
Direktoriums ab, , , , Im Interesse einer raschen Geschäftsführung war be¬
stimmt worden, daß die drei Fachmnsiker, die ihm angehören mußten, ihren
Sitz in Leipzig hatten. Dabei setzte man voraus, daß sich an diesem Orte
jederzeit so viele mit Bachscher Musik und Bachschen Handschriften vertraute
Kräfte finden würden." Es Hütte nun klar gesagt werde» müssen, was mau
im weiter» Verlauf des Berichts zwischen den Zeilen lesen kann, daß die
Voraussetznttg sich als falsch erwiesen, und daß das Direktorium, besonders
dessen Vorsitz, ungenügend fungiert hat. Eine andre Stelle, in der die Meinung
des Berichterstatters etwas verhüllt bleibt, ist der Abschnitt über Wilhelm
Ruft, de» persönliche Freundschaft gern schlechtweg als „den Herausgeber
der Bachschen Werke" und als den Begründer der Bachwissenschaft feiert.
Kretzschmars durchaus objektive Würdigung läßt über seine Verdienste keine
Zweifel, aber ebensowenig darüber, daß er seine Bachforschungen nicht wissen¬
schaftlich, sondern dilettantisch betrieb. Das hätten wir aber gern deutlich aus¬
gesprochen gescheit. Ein geradezu derbes Wort Hütte das Verhalten der Fach-
und Tagespresse gegen die Bachausgabe verdient. Denn sie verhielt sich — von
Ausnahmen, zu denen die Grenzboten obenan gehören, abgesehen — einfach
schmachvoll.

Trotz aller Hindernisse und Müngel hat die Bachgesellschaft ihr Ziel er¬
reicht, die noch vorhandnen Werke Bachs sind zusammengebracht und in einem
Notentext vorgelegt worden, der musterhaft ist.

Die neugewonnene Bekanntschaft mit Bachs Werkelt hat einen großen
Umschwung ni der Komposition hervorgerufen. Dieser darf zwar nicht allein
auf Rechnung der Gesamtausgabe gesetzt werden, sicherlich hat sie aber vieles
mit dazu beigetragen. Der Einfluß Bachs auf die Komposition beginnt schon
bei Mendelssohn und Schumann; seit aber Richard Wagner in seinen Werken
die Polyphonie zum gestaltenden Prinzip erhoben hat, sind alle Komponisten
bis auf Richard Strauß Schüler Bachs zu nennen.

Weniger wichtig, aber immerhin bemerkenswert sind die Nachahmungen


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[0546] Die alte und die neue Bachgesellschaft matisch verzeichnet, die bisherigen Drucke und ihre Verleger und namentlich auch die Besitzer der Autographen und der gleichzeitigen Abschriften angiebt. Ohne diesen Katalog, der auf 672 einzelne Kompositionen Bachs gelangt, wäre die Gesamtausgabe der Bachgescllschaft vielleicht überhaupt nicht in An¬ griff genommen worden, jedenfalls nur mit noch viel größern Schwierigkeiten durchzuführen gewesen, als sich so wie so ergabein Diese Schwierigkeiten beruhten zu einem wesentlichen Teil auf dem Zu¬ stand und der außerordentlichen, bei keinem zweite» Komponisten in dieser Weise wiederkehrenden Zerstreutheit der Vorlagen; aber in einem sehr em¬ pfindlichen Grade anch auf der mangelhaften Organisation der Gesellschaft, Für einen offiziellen Bericht hat sich Kretzschmar über diesen letzten Punkt mit einer ungewöhnlichen Offenheit ausgesprochen, jedoch sich bei einzelnen Mißständen mit Andeutungen begnügen müssen, Seite 21 heißt es z. B,: „Das Gedeihen des Unternehmens hing in erster Linie von der Thätigkeit des Direktoriums ab, , , , Im Interesse einer raschen Geschäftsführung war be¬ stimmt worden, daß die drei Fachmnsiker, die ihm angehören mußten, ihren Sitz in Leipzig hatten. Dabei setzte man voraus, daß sich an diesem Orte jederzeit so viele mit Bachscher Musik und Bachschen Handschriften vertraute Kräfte finden würden." Es Hütte nun klar gesagt werde» müssen, was mau im weiter» Verlauf des Berichts zwischen den Zeilen lesen kann, daß die Voraussetznttg sich als falsch erwiesen, und daß das Direktorium, besonders dessen Vorsitz, ungenügend fungiert hat. Eine andre Stelle, in der die Meinung des Berichterstatters etwas verhüllt bleibt, ist der Abschnitt über Wilhelm Ruft, de» persönliche Freundschaft gern schlechtweg als „den Herausgeber der Bachschen Werke" und als den Begründer der Bachwissenschaft feiert. Kretzschmars durchaus objektive Würdigung läßt über seine Verdienste keine Zweifel, aber ebensowenig darüber, daß er seine Bachforschungen nicht wissen¬ schaftlich, sondern dilettantisch betrieb. Das hätten wir aber gern deutlich aus¬ gesprochen gescheit. Ein geradezu derbes Wort Hütte das Verhalten der Fach- und Tagespresse gegen die Bachausgabe verdient. Denn sie verhielt sich — von Ausnahmen, zu denen die Grenzboten obenan gehören, abgesehen — einfach schmachvoll. Trotz aller Hindernisse und Müngel hat die Bachgesellschaft ihr Ziel er¬ reicht, die noch vorhandnen Werke Bachs sind zusammengebracht und in einem Notentext vorgelegt worden, der musterhaft ist. Die neugewonnene Bekanntschaft mit Bachs Werkelt hat einen großen Umschwung ni der Komposition hervorgerufen. Dieser darf zwar nicht allein auf Rechnung der Gesamtausgabe gesetzt werden, sicherlich hat sie aber vieles mit dazu beigetragen. Der Einfluß Bachs auf die Komposition beginnt schon bei Mendelssohn und Schumann; seit aber Richard Wagner in seinen Werken die Polyphonie zum gestaltenden Prinzip erhoben hat, sind alle Komponisten bis auf Richard Strauß Schüler Bachs zu nennen. Weniger wichtig, aber immerhin bemerkenswert sind die Nachahmungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/546>, abgerufen am 22.07.2024.