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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die alte und die neue Bachgesellschcift

Menge vollständig ungerecht und in veralteten Anschauungen befangen," Durch
die Buchausgabe wurde der historische Sinn in der Musik mächtig gestärkt,
und diese Stärkung zog die vermehrte und eindringlichere Beschäftigung mit
der Musikgeschichte nach sich.

Da die Bachgesellschaft als erste die große Aufgabe einer musikalischen
Gesamtausgabe auf sich nahm, hatte sie auch die meisten und größten Schwierig¬
keiten zu überwinde". Mit der Aufbietung unermüdlichen, echt deutscheu Fleißes
und unter hartem Ringen und Mühen ist ihr Werk in der verhältnismäßig
langen Zeit eines halben Jahrhunderts zu Ende gebracht worden. In richtiger
Würdigung der geleisteten Arbeit hat sie deun auch ihre Thätigkeit nicht ein¬
gestellt, ohne vorher einen Rückblick zu thun. Das Direktorium der Gesell¬
schaft beauftragte Hermann Kretzschmav, den bekannten Leipziger Professor der
Musikwisseuschaft, einen abschließenden Bericht abzufassen.

Dieser trägt den Titel "Die Bachgcsellschaft in Leipzig" und ist als
Hauptteil des Schlußbaudes der Gesamtausgabe, außerdem auch im Sonder¬
druck^) veröffentlicht wordeu. "Bericht" ist freilich eine mangelhafte Bezeich¬
nung für die Arbeit. Kretzschmar hat seine Ausgabe weit und tief gefaßt. Er
begnügt sich nicht damit, eine Chronik der Gesellschaft zu schreiben, er giebt
eine mühevoll aus unbenützten und versteckten Quellen geschöpfte, aber durch¬
aus gemeinverständlich und lebendig geschriebne Geschichte des Schicksals der
Bachschen Werke voll ihrer Entstehung bis auf die Gegenwart und schließt mit
gutem Rat für die Zukunft. Die Arbeit bringt ein interessantes Stück Kultur¬
geschichte.

Bachs Werke haben merkwürdige Schicksale gehabt. Zu Lebzeiten ihres
Schöpfers galten sie wenig oder nichts. Bach war für seine Zeitgenossen "der
Fürst aller Klavier- und Orgelspieler"; aber seine Kompositionen stellten sie
mit denen kleiner Geister auf gleiche Stufe. Die Hauptschuld an der Nicht¬
beachtung der Bachschen Kunst trug die Herrschaft der italienischen Schule,
durch die Bach, vom äußern Schicksal weniger begünstigt als Händel, nicht
gegangen war. Erst als diese ins Wanken kam, als das deutsche National¬
gefühl gegen Ende des Jahrhunderts mächtig wuchs, kamen die Bachschen
Werke zum erstenmal zu höhern Ehren. Sie wurden zunächst für einen kleinern
Kreis zum Panier der deutscheu Richtung in der Musik; ihren Schöpfer feierte
man hier als den "Dürer der Tonkunst." Man kannte sie aber noch nur in
spärlicher Anzahl, der Hauptsache nach nur die Orgelkoiupositioilen. Wohl
wuchs die Bewegung derart, daß sich im Jahre 180V nicht weniger als drei
Verleger dazu verstiegen, eine Gesamtausgabe der Werke Bachs anzukündigen.
Es waren Nägeli in Zürich, Simrock in Bonn, Hofmeister und Kühnel in
Leipzig. Sie hielten sich vorzugsweise an die gangbaren Klavier- und Orgel¬
sachen. Erst durch Breitkopf und Härtel wurde Bachsche Vokalmusik erschlossen-
Sie veröffentlichten im Jahre 1803 den bekannten Schichtscheu Motettenband.
Zwischen dem ersten und einzigen von Bach selbst veröffentlichten Stück Kirchen-



") Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1899.
Die alte und die neue Bachgesellschcift

Menge vollständig ungerecht und in veralteten Anschauungen befangen," Durch
die Buchausgabe wurde der historische Sinn in der Musik mächtig gestärkt,
und diese Stärkung zog die vermehrte und eindringlichere Beschäftigung mit
der Musikgeschichte nach sich.

Da die Bachgesellschaft als erste die große Aufgabe einer musikalischen
Gesamtausgabe auf sich nahm, hatte sie auch die meisten und größten Schwierig¬
keiten zu überwinde». Mit der Aufbietung unermüdlichen, echt deutscheu Fleißes
und unter hartem Ringen und Mühen ist ihr Werk in der verhältnismäßig
langen Zeit eines halben Jahrhunderts zu Ende gebracht worden. In richtiger
Würdigung der geleisteten Arbeit hat sie deun auch ihre Thätigkeit nicht ein¬
gestellt, ohne vorher einen Rückblick zu thun. Das Direktorium der Gesell¬
schaft beauftragte Hermann Kretzschmav, den bekannten Leipziger Professor der
Musikwisseuschaft, einen abschließenden Bericht abzufassen.

Dieser trägt den Titel „Die Bachgcsellschaft in Leipzig" und ist als
Hauptteil des Schlußbaudes der Gesamtausgabe, außerdem auch im Sonder¬
druck^) veröffentlicht wordeu. „Bericht" ist freilich eine mangelhafte Bezeich¬
nung für die Arbeit. Kretzschmar hat seine Ausgabe weit und tief gefaßt. Er
begnügt sich nicht damit, eine Chronik der Gesellschaft zu schreiben, er giebt
eine mühevoll aus unbenützten und versteckten Quellen geschöpfte, aber durch¬
aus gemeinverständlich und lebendig geschriebne Geschichte des Schicksals der
Bachschen Werke voll ihrer Entstehung bis auf die Gegenwart und schließt mit
gutem Rat für die Zukunft. Die Arbeit bringt ein interessantes Stück Kultur¬
geschichte.

Bachs Werke haben merkwürdige Schicksale gehabt. Zu Lebzeiten ihres
Schöpfers galten sie wenig oder nichts. Bach war für seine Zeitgenossen „der
Fürst aller Klavier- und Orgelspieler"; aber seine Kompositionen stellten sie
mit denen kleiner Geister auf gleiche Stufe. Die Hauptschuld an der Nicht¬
beachtung der Bachschen Kunst trug die Herrschaft der italienischen Schule,
durch die Bach, vom äußern Schicksal weniger begünstigt als Händel, nicht
gegangen war. Erst als diese ins Wanken kam, als das deutsche National¬
gefühl gegen Ende des Jahrhunderts mächtig wuchs, kamen die Bachschen
Werke zum erstenmal zu höhern Ehren. Sie wurden zunächst für einen kleinern
Kreis zum Panier der deutscheu Richtung in der Musik; ihren Schöpfer feierte
man hier als den „Dürer der Tonkunst." Man kannte sie aber noch nur in
spärlicher Anzahl, der Hauptsache nach nur die Orgelkoiupositioilen. Wohl
wuchs die Bewegung derart, daß sich im Jahre 180V nicht weniger als drei
Verleger dazu verstiegen, eine Gesamtausgabe der Werke Bachs anzukündigen.
Es waren Nägeli in Zürich, Simrock in Bonn, Hofmeister und Kühnel in
Leipzig. Sie hielten sich vorzugsweise an die gangbaren Klavier- und Orgel¬
sachen. Erst durch Breitkopf und Härtel wurde Bachsche Vokalmusik erschlossen-
Sie veröffentlichten im Jahre 1803 den bekannten Schichtscheu Motettenband.
Zwischen dem ersten und einzigen von Bach selbst veröffentlichten Stück Kirchen-



") Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1899.
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[0544] Die alte und die neue Bachgesellschcift Menge vollständig ungerecht und in veralteten Anschauungen befangen," Durch die Buchausgabe wurde der historische Sinn in der Musik mächtig gestärkt, und diese Stärkung zog die vermehrte und eindringlichere Beschäftigung mit der Musikgeschichte nach sich. Da die Bachgesellschaft als erste die große Aufgabe einer musikalischen Gesamtausgabe auf sich nahm, hatte sie auch die meisten und größten Schwierig¬ keiten zu überwinde». Mit der Aufbietung unermüdlichen, echt deutscheu Fleißes und unter hartem Ringen und Mühen ist ihr Werk in der verhältnismäßig langen Zeit eines halben Jahrhunderts zu Ende gebracht worden. In richtiger Würdigung der geleisteten Arbeit hat sie deun auch ihre Thätigkeit nicht ein¬ gestellt, ohne vorher einen Rückblick zu thun. Das Direktorium der Gesell¬ schaft beauftragte Hermann Kretzschmav, den bekannten Leipziger Professor der Musikwisseuschaft, einen abschließenden Bericht abzufassen. Dieser trägt den Titel „Die Bachgcsellschaft in Leipzig" und ist als Hauptteil des Schlußbaudes der Gesamtausgabe, außerdem auch im Sonder¬ druck^) veröffentlicht wordeu. „Bericht" ist freilich eine mangelhafte Bezeich¬ nung für die Arbeit. Kretzschmar hat seine Ausgabe weit und tief gefaßt. Er begnügt sich nicht damit, eine Chronik der Gesellschaft zu schreiben, er giebt eine mühevoll aus unbenützten und versteckten Quellen geschöpfte, aber durch¬ aus gemeinverständlich und lebendig geschriebne Geschichte des Schicksals der Bachschen Werke voll ihrer Entstehung bis auf die Gegenwart und schließt mit gutem Rat für die Zukunft. Die Arbeit bringt ein interessantes Stück Kultur¬ geschichte. Bachs Werke haben merkwürdige Schicksale gehabt. Zu Lebzeiten ihres Schöpfers galten sie wenig oder nichts. Bach war für seine Zeitgenossen „der Fürst aller Klavier- und Orgelspieler"; aber seine Kompositionen stellten sie mit denen kleiner Geister auf gleiche Stufe. Die Hauptschuld an der Nicht¬ beachtung der Bachschen Kunst trug die Herrschaft der italienischen Schule, durch die Bach, vom äußern Schicksal weniger begünstigt als Händel, nicht gegangen war. Erst als diese ins Wanken kam, als das deutsche National¬ gefühl gegen Ende des Jahrhunderts mächtig wuchs, kamen die Bachschen Werke zum erstenmal zu höhern Ehren. Sie wurden zunächst für einen kleinern Kreis zum Panier der deutscheu Richtung in der Musik; ihren Schöpfer feierte man hier als den „Dürer der Tonkunst." Man kannte sie aber noch nur in spärlicher Anzahl, der Hauptsache nach nur die Orgelkoiupositioilen. Wohl wuchs die Bewegung derart, daß sich im Jahre 180V nicht weniger als drei Verleger dazu verstiegen, eine Gesamtausgabe der Werke Bachs anzukündigen. Es waren Nägeli in Zürich, Simrock in Bonn, Hofmeister und Kühnel in Leipzig. Sie hielten sich vorzugsweise an die gangbaren Klavier- und Orgel¬ sachen. Erst durch Breitkopf und Härtel wurde Bachsche Vokalmusik erschlossen- Sie veröffentlichten im Jahre 1803 den bekannten Schichtscheu Motettenband. Zwischen dem ersten und einzigen von Bach selbst veröffentlichten Stück Kirchen- ") Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1899.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/544>, abgerufen am 03.07.2024.