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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Ibsens romantische Stücke

die Zigeunerin Gerd vertreten und durch Erscheinungen, die dem Erschöpften
kurz vor dem Tode sein krankes Hirn vorgaukelt.

Das erste, woran ich bei dem Lesen von Brand dachte, war der Zarathustra,
und wie hoch Ibsen über Nietzsche stehe, Nietzsche hat zwar in seiner Jugend
Verse geschrieben -- welcher deutsche Jüngling thäte das nicht? --, aber ein
Dichter ist er nicht; wäre er einer, so würde er aus dem Zarathustrastoff, da
dieser keine irgendwie mögliche Philosophie enthält, wenigstens ein Gedicht ge¬
macht haben. Aber er hat um seinen Weisen, der mit allen seinen im orien¬
talischen Prophetenstil gehaltenen Redensarten weiter nichts zu sagen weiß, als
daß er selbst nicht weiß, was er will, nur wesenlose Spukgestalten gruppiert,
während Brand weiß, was er will, und unter wirklichen, kräftig und deutlich
modellierten Menschen lebt und wirkt. Nietzsche hat sich jede Möglichkeit,
etwas Lebendiges zu schaffen, von vornherein dadurch verbaut, daß er die
blasphemische Verkündigung des angeblichen Todes Gottes zum Mittelpunkte
seines wüsten Märchens macht; denn als Atheist kann man zwar fabrizieren,
Handel treiben, den Staat regieren, heiraten und durch alles dieses Stoff für
Dramen und Epen liefern, aber die höchsten Fragen kann man als Atheist
nicht beantworten, weil eine Welt ohne Gott keinen Sinn hat, und weil bei
dem Mangel eines festen Wertmaßstabs von Übermenschen so wenig die Rede
sein kann wie von Untermenschen. In der Darwinischen Welt sind Mikrobe,
Molch, Affe und Mensch gleich Sinn- und wertlose Zufallsprodukte. Brand
weiß, was er will, und sein Wollen hat einen Sinn: er will sich und seine
Mitmenschen über das schlechte weltliche Treiben hinaus- und hinaussehen
zu Gott.

Der Fehler des Stücks liegt also weder in der Form, an die sich keine Kritik
heranwagen wird, noch in dem Grundgedanken, der ein großes und wichtiges
Problem enthält; er liegt darin, daß das Problem wohl meisterhaft dargelegt,
aber uicht gelöst ist, weil es eben ein Zweifler nicht lösen kann. Man könnte
ja allerlei Lösungen darin finden, z. V., daß Ibsen die Askese habe g-b-
suräuin führen wollen. Die Entsagung an sich, die nicht zu irgend einem
vernünftigen Zwecke, sondern um ihrer selbst willen geübt wird, bedeutet Selbst¬
mord. Wer allem Irdischen entsagen will, muß auch dem eignen Leibesleben
entsagen, denn das ist doch eben etwas Irdisches, und so läßt denn Ibsen die
Agnes in dem Augenblick sterben, wo sie die vollständige Entsagung zustande
gebracht hat. Was Brand anbetrifft, so hat er selbst die Entsagung, die er
unbarmherzig von jedem andern fordert, keineswegs geübt; bekennt er doch,
daß er erst im Besitz von Weib und Kind die wahre Liebe zu den Menschen
gefunden habe, und opfert er zwar "gleich Abraham" seinen Sohn (daß Gott
die Schlachtung Jsaaks verhindert hat, füllt ihm nicht ein), aber auf Agnes
zu verzichte" geht über seine Kraft, und ihr Verlust raubt ihm den Verstand;
sein Thun bei der Kirchweihe und sein Zug ins Schneegebirge ist Wahnsinn.
Dieser Auffassung hat jedoch Ibsen selbst Vorgebnut. Agnes, die ihm vor dem
Tode erscheint, sagt ihm, wenn er selig werden wolle, müsse er die grauen-


Ibsens romantische Stücke

die Zigeunerin Gerd vertreten und durch Erscheinungen, die dem Erschöpften
kurz vor dem Tode sein krankes Hirn vorgaukelt.

Das erste, woran ich bei dem Lesen von Brand dachte, war der Zarathustra,
und wie hoch Ibsen über Nietzsche stehe, Nietzsche hat zwar in seiner Jugend
Verse geschrieben — welcher deutsche Jüngling thäte das nicht? —, aber ein
Dichter ist er nicht; wäre er einer, so würde er aus dem Zarathustrastoff, da
dieser keine irgendwie mögliche Philosophie enthält, wenigstens ein Gedicht ge¬
macht haben. Aber er hat um seinen Weisen, der mit allen seinen im orien¬
talischen Prophetenstil gehaltenen Redensarten weiter nichts zu sagen weiß, als
daß er selbst nicht weiß, was er will, nur wesenlose Spukgestalten gruppiert,
während Brand weiß, was er will, und unter wirklichen, kräftig und deutlich
modellierten Menschen lebt und wirkt. Nietzsche hat sich jede Möglichkeit,
etwas Lebendiges zu schaffen, von vornherein dadurch verbaut, daß er die
blasphemische Verkündigung des angeblichen Todes Gottes zum Mittelpunkte
seines wüsten Märchens macht; denn als Atheist kann man zwar fabrizieren,
Handel treiben, den Staat regieren, heiraten und durch alles dieses Stoff für
Dramen und Epen liefern, aber die höchsten Fragen kann man als Atheist
nicht beantworten, weil eine Welt ohne Gott keinen Sinn hat, und weil bei
dem Mangel eines festen Wertmaßstabs von Übermenschen so wenig die Rede
sein kann wie von Untermenschen. In der Darwinischen Welt sind Mikrobe,
Molch, Affe und Mensch gleich Sinn- und wertlose Zufallsprodukte. Brand
weiß, was er will, und sein Wollen hat einen Sinn: er will sich und seine
Mitmenschen über das schlechte weltliche Treiben hinaus- und hinaussehen
zu Gott.

Der Fehler des Stücks liegt also weder in der Form, an die sich keine Kritik
heranwagen wird, noch in dem Grundgedanken, der ein großes und wichtiges
Problem enthält; er liegt darin, daß das Problem wohl meisterhaft dargelegt,
aber uicht gelöst ist, weil es eben ein Zweifler nicht lösen kann. Man könnte
ja allerlei Lösungen darin finden, z. V., daß Ibsen die Askese habe g-b-
suräuin führen wollen. Die Entsagung an sich, die nicht zu irgend einem
vernünftigen Zwecke, sondern um ihrer selbst willen geübt wird, bedeutet Selbst¬
mord. Wer allem Irdischen entsagen will, muß auch dem eignen Leibesleben
entsagen, denn das ist doch eben etwas Irdisches, und so läßt denn Ibsen die
Agnes in dem Augenblick sterben, wo sie die vollständige Entsagung zustande
gebracht hat. Was Brand anbetrifft, so hat er selbst die Entsagung, die er
unbarmherzig von jedem andern fordert, keineswegs geübt; bekennt er doch,
daß er erst im Besitz von Weib und Kind die wahre Liebe zu den Menschen
gefunden habe, und opfert er zwar „gleich Abraham" seinen Sohn (daß Gott
die Schlachtung Jsaaks verhindert hat, füllt ihm nicht ein), aber auf Agnes
zu verzichte» geht über seine Kraft, und ihr Verlust raubt ihm den Verstand;
sein Thun bei der Kirchweihe und sein Zug ins Schneegebirge ist Wahnsinn.
Dieser Auffassung hat jedoch Ibsen selbst Vorgebnut. Agnes, die ihm vor dem
Tode erscheint, sagt ihm, wenn er selig werden wolle, müsse er die grauen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/541>, abgerufen am 03.07.2024.