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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Bursche" heraus!

"villigere Aufnahme, als die deutsche Gegenwart, einem unwiderstehlichen Drucke
folgend, mit der Erweiterung der wirtschaftlichen Grundlage aufs eifrigste be¬
schäftigt ist und beschäftigt sei" muß, und als infolge dessen die materiellen
Interessen ungeheuer überwiegen. Sich um Fernerliegendes zu kümmern, sich
in geistige oder gar in litterarische und künstlerische Interessen zu vertiefen,
dazu hat die weit überwiegende Mehrzahl unsrer abgehetzten Kaufleute, Fabri¬
kanten und Beamten weder Zeit noch Lust mehr, kaum liest man überhaupt
noch ein ernstes Buch, für die meisten genügen Zeitungen und Journale. Von
der ganz unpolitischen, aber sonst höchst vielseitigen, tiefen und feinen Geistes¬
bildung der Zeit Goethes und Schillers sind wir heute unendlich weit entfernt,
wir sind ein abgearbeitetes, von tausend Einwirkungen hin und her geworfues,
nervöses Barbarengeschlecht geworden.

Selbst die Kunst hat sich vom Altertum völlig abgewandt. Die "Moderne"
will schlechtweg etwas ganz Neues, uoch nie Dagewesenes; sie hat mit Be¬
geisterung die in ihrer Formgebung doch schließlich primitive Kunst des ab¬
sterbenden Japanismus aufgenommen und die Griechen in die Rumpelkammer
geworfen; sie sucht nicht mehr das Schöne, sondern das Charakteristische,
sogar das Häßliche, Widerwärtige, denn sie will die Natur genau so wieder¬
geben, wie sie sie sieht; sie hat eine wahre Armeleutemalerei und Armeleute-
Plastik entwickelt, die uns das hoffnungsloseste Elend nackt und aufdringlich
vor die Augen rückt, als ob es nichts Erfreuliches mehr auf der Welt gebe,
genau so wie gefeierte Erzeugnisse der modernsten Dramatik, sie beginnt selbst
unsre Möbel und Zimmereinrichtungen umzugestalten, natürlich nach dem Vor¬
gange der Engländer, dieses phantasielosesten und ""künstlerischesten der Völker,
"ut sieht auf die schönen, wohlthuenden Formen der Renmssanee und der
Antike mit Verachtung herab. Es ist im Grunde eine ganz revolutionäre
Richtung, die bewußte Ablösung von aller Überlieferung. Keine ncnanf-
tretende Richtung in der Kunst ist jemals so Verfahren; jede hat bisher nur
die Tradition neuen Bedürfnissen gemäß umgebildet, aber sich nicht gewaltsam
von ihr losgerissen.

Kein Wunder nun, wenn diese Geistesströmung auch die leitenden Kreise
ergreift, und wenn sich, was ebenso wichtig ist, selbst auf humanistischer Seite
die Neigung regt, ihr Rechnung zu tragen. Friedrich Paulsen, der beste Kenner
der Geschichte des gelehrten Unterrichtswesens, hat in seinem übrigens vortreff¬
lichen Werke den historischen Nachweis zu erbringen versucht, daß die Ein¬
führung des Griechischen in dem modernen Umfange erst ein Werk des Neu¬
humanismus sei, der sein Bildungsideal damit den alten Lateinschulen aufgedrängt
habe, und daß dieser Unterricht, da man den modernen Fächern notgedrungen
habe Raum geben müssen, niemals sein wirkliches Ziel erreicht habe, also un¬
fruchtbar geblieben sei, demnach keinen Anspruch auf weitere Dauer erheben,
wu so eher wegfallen könne, als das Altertum immer mehr an Geltung für
unsre Kultur verloren habe. Die Vermutung, daß diese Ausführungen in einem
gewissen Zusammenhange mit der Schulreform steh" und diese durch einen


Grenzboten U 1900 54
Bursche» heraus!

»villigere Aufnahme, als die deutsche Gegenwart, einem unwiderstehlichen Drucke
folgend, mit der Erweiterung der wirtschaftlichen Grundlage aufs eifrigste be¬
schäftigt ist und beschäftigt sei» muß, und als infolge dessen die materiellen
Interessen ungeheuer überwiegen. Sich um Fernerliegendes zu kümmern, sich
in geistige oder gar in litterarische und künstlerische Interessen zu vertiefen,
dazu hat die weit überwiegende Mehrzahl unsrer abgehetzten Kaufleute, Fabri¬
kanten und Beamten weder Zeit noch Lust mehr, kaum liest man überhaupt
noch ein ernstes Buch, für die meisten genügen Zeitungen und Journale. Von
der ganz unpolitischen, aber sonst höchst vielseitigen, tiefen und feinen Geistes¬
bildung der Zeit Goethes und Schillers sind wir heute unendlich weit entfernt,
wir sind ein abgearbeitetes, von tausend Einwirkungen hin und her geworfues,
nervöses Barbarengeschlecht geworden.

Selbst die Kunst hat sich vom Altertum völlig abgewandt. Die „Moderne"
will schlechtweg etwas ganz Neues, uoch nie Dagewesenes; sie hat mit Be¬
geisterung die in ihrer Formgebung doch schließlich primitive Kunst des ab¬
sterbenden Japanismus aufgenommen und die Griechen in die Rumpelkammer
geworfen; sie sucht nicht mehr das Schöne, sondern das Charakteristische,
sogar das Häßliche, Widerwärtige, denn sie will die Natur genau so wieder¬
geben, wie sie sie sieht; sie hat eine wahre Armeleutemalerei und Armeleute-
Plastik entwickelt, die uns das hoffnungsloseste Elend nackt und aufdringlich
vor die Augen rückt, als ob es nichts Erfreuliches mehr auf der Welt gebe,
genau so wie gefeierte Erzeugnisse der modernsten Dramatik, sie beginnt selbst
unsre Möbel und Zimmereinrichtungen umzugestalten, natürlich nach dem Vor¬
gange der Engländer, dieses phantasielosesten und »«künstlerischesten der Völker,
»ut sieht auf die schönen, wohlthuenden Formen der Renmssanee und der
Antike mit Verachtung herab. Es ist im Grunde eine ganz revolutionäre
Richtung, die bewußte Ablösung von aller Überlieferung. Keine ncnanf-
tretende Richtung in der Kunst ist jemals so Verfahren; jede hat bisher nur
die Tradition neuen Bedürfnissen gemäß umgebildet, aber sich nicht gewaltsam
von ihr losgerissen.

Kein Wunder nun, wenn diese Geistesströmung auch die leitenden Kreise
ergreift, und wenn sich, was ebenso wichtig ist, selbst auf humanistischer Seite
die Neigung regt, ihr Rechnung zu tragen. Friedrich Paulsen, der beste Kenner
der Geschichte des gelehrten Unterrichtswesens, hat in seinem übrigens vortreff¬
lichen Werke den historischen Nachweis zu erbringen versucht, daß die Ein¬
führung des Griechischen in dem modernen Umfange erst ein Werk des Neu¬
humanismus sei, der sein Bildungsideal damit den alten Lateinschulen aufgedrängt
habe, und daß dieser Unterricht, da man den modernen Fächern notgedrungen
habe Raum geben müssen, niemals sein wirkliches Ziel erreicht habe, also un¬
fruchtbar geblieben sei, demnach keinen Anspruch auf weitere Dauer erheben,
wu so eher wegfallen könne, als das Altertum immer mehr an Geltung für
unsre Kultur verloren habe. Die Vermutung, daß diese Ausführungen in einem
gewissen Zusammenhange mit der Schulreform steh» und diese durch einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/433>, abgerufen am 22.07.2024.