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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Burschen heraus I

mehr als 1 Stunde über 7 zu erreichen wäre, auf 24 bis 32. Auch ist es
ein Aberglaube, zu meinen, in einer größern Zahl von Stunden lasse sich
in kürzerer Zeit ohne weiteres dasselbe erreichen wie in weniger Stunden, die
auf längere Zeit verteilt sind, und die Summe des Gelernten steige in dem¬
selben Verhältnis wie die Stundenzahl. Der vorgebrachte Stoff soll doch ein¬
geprägt, verdaut, zum festen Besitz des Schülers werden, und dazu gehört
Übung, also Zeit und Ruhe, vor allem bei einer antiken Sprache. Das ewige
Hetzen und Dritten nach einem bestimmten Examenziele hin ist der Tod alles
gesunden Unterrichts.

Man vergesse ferner nicht, daß die Gedächtniskraft in mancher Beziehung
mit den Jahren rasch abnimmt, und daß schon zwischen einem Sextaner und
einem sekundärer ein großer Unterschied ist; das Mechanische jeder Sprache,
Wörter und Formen, das der Sextaner spielend und naiv lernt, das behält
der sekundärer schon viel schwerer und nnlustiger. Und von der Verbesserung
der "Methode" erwarte man nicht zu viel; sie ist jetzt schon so gut wie eben
möglich; jedenfalls möchten wir die neuen verbesserten Lehrbücher erst sehen,
ehe wir an sie glauben. Schließlich machts überhaupt nicht die Methode,
sondern der Lehrer. Die jetzigen Lehrer aber, die doch den griechischen Unter¬
richt nach der neuen Einteilung und Methode geben müßten, würden sich nicht
ändern und würden, was sie jetzt in sechs Jahren leisten, in drei bis vier
Jahren ganz bestimmt nicht leisten. Es ist doch schon jetzt bei der vermin¬
derten Stundenzahl trotz der unverkürzten Jahresdauer in Preußen einge¬
standnermaßen unmöglich, die vorgeschrieben Ziele mit dem Durchschnitt der
Schüler wirklich zu erreichen. Man male sich nun einen griechischen Unter¬
richt, der in Obersekunda beginnt und auf drei Jahre beschränkt ist, etwas im
einzelnen aus und vergesse dabei nicht, daß das Griechische schon dadurch mehr
Arbeit macht als das Lateinische, weil zwei wesentlich verschiedne Gestalten
der Formenlehre bewältigt werden müssen, die attische und die homerische, denn
auf Homer wird man doch wohl nicht verzichten wollen. Dann beginnt also
der Obersekundaner mit ^"^" und ^'c-), er plagt sich in einen: Alter, wo er
in andern fremden Sprachen schon bis zu umfassender Lektüre, also zum Kern
vorgedrungen ist, noch mit der harten Schale ab und wird sehr froh sein
müssen, wenn er in einem Jahre mit der Formenlehre fertig wird. Dann
kommt der Unterprimaner etwa zu Aenophon und Homer, der Oberprimaner
wird es über Ilias und Lysias nicht hinausbringen, er wird in den Vorhöfen
stecken bleiben und aufhören, wenn sich ihm die Pforten zu Pluto, Thukydides,
Demosthenes und Sophokles öffnen könnten, oder er wird davon höchstens
einzelne Bissen zu essen bekommen, die ihm der Lehrer sorglich vorschneiden
und zurichten muß, damit sie der Schüler nur überhaupt beißen und verdauen
kann. Wenn dieser dann fragt: Wozu habe ich mich denn eigentlich mit dem
Griechischen geplagt? so ist die Antwort Schweigen. Mit dem Beginn des
Griechischen in Untersekunda würde das Ergebnis etwas besser sein, aber anch
nicht viel, nämlich für den Durchschnitt unter den gewöhnlichen Verhältnissen.
Denn bei noch so vermehrter Stundenzahl -- und über neun hinaus würde


Burschen heraus I

mehr als 1 Stunde über 7 zu erreichen wäre, auf 24 bis 32. Auch ist es
ein Aberglaube, zu meinen, in einer größern Zahl von Stunden lasse sich
in kürzerer Zeit ohne weiteres dasselbe erreichen wie in weniger Stunden, die
auf längere Zeit verteilt sind, und die Summe des Gelernten steige in dem¬
selben Verhältnis wie die Stundenzahl. Der vorgebrachte Stoff soll doch ein¬
geprägt, verdaut, zum festen Besitz des Schülers werden, und dazu gehört
Übung, also Zeit und Ruhe, vor allem bei einer antiken Sprache. Das ewige
Hetzen und Dritten nach einem bestimmten Examenziele hin ist der Tod alles
gesunden Unterrichts.

Man vergesse ferner nicht, daß die Gedächtniskraft in mancher Beziehung
mit den Jahren rasch abnimmt, und daß schon zwischen einem Sextaner und
einem sekundärer ein großer Unterschied ist; das Mechanische jeder Sprache,
Wörter und Formen, das der Sextaner spielend und naiv lernt, das behält
der sekundärer schon viel schwerer und nnlustiger. Und von der Verbesserung
der „Methode" erwarte man nicht zu viel; sie ist jetzt schon so gut wie eben
möglich; jedenfalls möchten wir die neuen verbesserten Lehrbücher erst sehen,
ehe wir an sie glauben. Schließlich machts überhaupt nicht die Methode,
sondern der Lehrer. Die jetzigen Lehrer aber, die doch den griechischen Unter¬
richt nach der neuen Einteilung und Methode geben müßten, würden sich nicht
ändern und würden, was sie jetzt in sechs Jahren leisten, in drei bis vier
Jahren ganz bestimmt nicht leisten. Es ist doch schon jetzt bei der vermin¬
derten Stundenzahl trotz der unverkürzten Jahresdauer in Preußen einge¬
standnermaßen unmöglich, die vorgeschrieben Ziele mit dem Durchschnitt der
Schüler wirklich zu erreichen. Man male sich nun einen griechischen Unter¬
richt, der in Obersekunda beginnt und auf drei Jahre beschränkt ist, etwas im
einzelnen aus und vergesse dabei nicht, daß das Griechische schon dadurch mehr
Arbeit macht als das Lateinische, weil zwei wesentlich verschiedne Gestalten
der Formenlehre bewältigt werden müssen, die attische und die homerische, denn
auf Homer wird man doch wohl nicht verzichten wollen. Dann beginnt also
der Obersekundaner mit ^«^« und ^'c-), er plagt sich in einen: Alter, wo er
in andern fremden Sprachen schon bis zu umfassender Lektüre, also zum Kern
vorgedrungen ist, noch mit der harten Schale ab und wird sehr froh sein
müssen, wenn er in einem Jahre mit der Formenlehre fertig wird. Dann
kommt der Unterprimaner etwa zu Aenophon und Homer, der Oberprimaner
wird es über Ilias und Lysias nicht hinausbringen, er wird in den Vorhöfen
stecken bleiben und aufhören, wenn sich ihm die Pforten zu Pluto, Thukydides,
Demosthenes und Sophokles öffnen könnten, oder er wird davon höchstens
einzelne Bissen zu essen bekommen, die ihm der Lehrer sorglich vorschneiden
und zurichten muß, damit sie der Schüler nur überhaupt beißen und verdauen
kann. Wenn dieser dann fragt: Wozu habe ich mich denn eigentlich mit dem
Griechischen geplagt? so ist die Antwort Schweigen. Mit dem Beginn des
Griechischen in Untersekunda würde das Ergebnis etwas besser sein, aber anch
nicht viel, nämlich für den Durchschnitt unter den gewöhnlichen Verhältnissen.
Denn bei noch so vermehrter Stundenzahl — und über neun hinaus würde


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[0430] Burschen heraus I mehr als 1 Stunde über 7 zu erreichen wäre, auf 24 bis 32. Auch ist es ein Aberglaube, zu meinen, in einer größern Zahl von Stunden lasse sich in kürzerer Zeit ohne weiteres dasselbe erreichen wie in weniger Stunden, die auf längere Zeit verteilt sind, und die Summe des Gelernten steige in dem¬ selben Verhältnis wie die Stundenzahl. Der vorgebrachte Stoff soll doch ein¬ geprägt, verdaut, zum festen Besitz des Schülers werden, und dazu gehört Übung, also Zeit und Ruhe, vor allem bei einer antiken Sprache. Das ewige Hetzen und Dritten nach einem bestimmten Examenziele hin ist der Tod alles gesunden Unterrichts. Man vergesse ferner nicht, daß die Gedächtniskraft in mancher Beziehung mit den Jahren rasch abnimmt, und daß schon zwischen einem Sextaner und einem sekundärer ein großer Unterschied ist; das Mechanische jeder Sprache, Wörter und Formen, das der Sextaner spielend und naiv lernt, das behält der sekundärer schon viel schwerer und nnlustiger. Und von der Verbesserung der „Methode" erwarte man nicht zu viel; sie ist jetzt schon so gut wie eben möglich; jedenfalls möchten wir die neuen verbesserten Lehrbücher erst sehen, ehe wir an sie glauben. Schließlich machts überhaupt nicht die Methode, sondern der Lehrer. Die jetzigen Lehrer aber, die doch den griechischen Unter¬ richt nach der neuen Einteilung und Methode geben müßten, würden sich nicht ändern und würden, was sie jetzt in sechs Jahren leisten, in drei bis vier Jahren ganz bestimmt nicht leisten. Es ist doch schon jetzt bei der vermin¬ derten Stundenzahl trotz der unverkürzten Jahresdauer in Preußen einge¬ standnermaßen unmöglich, die vorgeschrieben Ziele mit dem Durchschnitt der Schüler wirklich zu erreichen. Man male sich nun einen griechischen Unter¬ richt, der in Obersekunda beginnt und auf drei Jahre beschränkt ist, etwas im einzelnen aus und vergesse dabei nicht, daß das Griechische schon dadurch mehr Arbeit macht als das Lateinische, weil zwei wesentlich verschiedne Gestalten der Formenlehre bewältigt werden müssen, die attische und die homerische, denn auf Homer wird man doch wohl nicht verzichten wollen. Dann beginnt also der Obersekundaner mit ^«^« und ^'c-), er plagt sich in einen: Alter, wo er in andern fremden Sprachen schon bis zu umfassender Lektüre, also zum Kern vorgedrungen ist, noch mit der harten Schale ab und wird sehr froh sein müssen, wenn er in einem Jahre mit der Formenlehre fertig wird. Dann kommt der Unterprimaner etwa zu Aenophon und Homer, der Oberprimaner wird es über Ilias und Lysias nicht hinausbringen, er wird in den Vorhöfen stecken bleiben und aufhören, wenn sich ihm die Pforten zu Pluto, Thukydides, Demosthenes und Sophokles öffnen könnten, oder er wird davon höchstens einzelne Bissen zu essen bekommen, die ihm der Lehrer sorglich vorschneiden und zurichten muß, damit sie der Schüler nur überhaupt beißen und verdauen kann. Wenn dieser dann fragt: Wozu habe ich mich denn eigentlich mit dem Griechischen geplagt? so ist die Antwort Schweigen. Mit dem Beginn des Griechischen in Untersekunda würde das Ergebnis etwas besser sein, aber anch nicht viel, nämlich für den Durchschnitt unter den gewöhnlichen Verhältnissen. Denn bei noch so vermehrter Stundenzahl — und über neun hinaus würde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/430>, abgerufen am 22.07.2024.