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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Burschen heraus!

weil es ihm in den klassischen Sprachen an jeder festen Grundlage fehlt. Und
dabei hat man immer das peinliche Gefühl: dem armen Jungen geschieht eigentlich
bitter Unrecht, denn nicht er trägt an seinen mangelhaften Leistungen die Schuld,
sondern die "krüppelhafte Schule," von der er kommt. Soviel also ist sonnen¬
klar: die preußische Schulreform ist gründlich mißlungen; sie hat die Leistungen
der preußischen Gymnasien teils tief hinabgedrückt, teils zu leerem Schein ent¬
würdigt und doch weder die sogenannte Überbürdung beseitigt, noch irgend
etwas Neues an die Stelle gesetzt; sie schädigt den ganzen Ruf des höhern
preußischen Unterrichtswesens außerhalb Preußens aufs schwerste, nimmt den
Lehrern alle Freudigkeit und ruft überall die Überzeugung hervor: So kann
es unmöglich weitergehn!

Nur freilich, daß daraus der einzig richtige Schluß gezogen würde: Um¬
kehr und Rückkehr zur verlassenen Grundlage, dazu ist in Preußen, scheint es,
herzlich wenig Aussicht, und "die Stimmung unter den berufnen Verteidigern
der hnmnnistischen Bildung bis zu den angesehensten Schulmännern hinauf ist
so gedrückt und verzagt, daß wir unsre Augen hilfeflehend über die Landes¬
grenze richten müssen." Nun, die Preußen haben für den Aufbau unsers
nationalen Staats das Größte geleistet; helfen wir ihnen dafür ihr höheres
Schulwesen vor Verkümmerung retten! "Wenn es denn sein muß," sagt
Schillers Herzog Alba, wo er gegen Don Carlos den Degen zieht.

In den letzten Wochen sind mehrere Kundgebungen in der Schulreform
hervorgetreten. Zunächst hat die Versammlung vom 5. Mai den selbstverständ¬
lichen glänzenden Verlauf genommen. "Zweihundert oder mehr Philologen"
sind dabei gewesen, eine Petition mit 12000 Unterschriften ist an den Kultus¬
minister abgeschickt worden. Beide Zahlen imponieren uns nur müßig. Wenn
die 200 oder 300 Philologen, wie vorauszusetzen ist, meist Neusprachler waren,
so bedeutet das für die innere Begründung der aufgestellten Forderungen herz¬
lich wenig, denn diese Herren reden sozusagen xro äomo, und wie Unterschriften
zu Petitionen, wenn weite Kreise mit dem Bestehenden unzufrieden sind,
zusammengebracht werden, das weiß ja jeder; uns wundert, daß es nicht
120000 sind, sondern nur 12000, wohlgemerkt aus ganz Deutschland, wo es
doch sehr viel mehr unzufriedne Gymnasiastenvüter geben muß. Sodann haben
sich die zwölf preußischen Ärztekammern durch ihren Ausschuß am 28. April
für die so heiß erstrebte Zulassung der Nealgymnasialabiturienten zum medi¬
zinischen Studium nur unter der Bedingung ausgesprochen, daß eine Ände¬
rung in den bisherigen Bestimmungen so lange verschoben werde, bis die Frage
über die Organisation der Vorbereitungsanstalten endgiltig geregelt sei, und
daß sich dann die Zulassung nicht nur auf die Medizin, sondern auf alle Fa¬
kultäten unsrer Hochschulen erstrecke, d. h. er hat sie für jetzt, ja überhaupt
für absehbare Zeit abgelehnt und jedenfalls die berechtigte Forderung gestellt,
daß die ganze Frage der Zulassung vor der Entscheidung den Ärztekammern
zur Beratung vorgelegt werde. Gleichzeitig hat sich die braunschweigische
Ärztekammer grundsätzlich gegen die Zulassung ausgesprochen. Man mag über


Burschen heraus!

weil es ihm in den klassischen Sprachen an jeder festen Grundlage fehlt. Und
dabei hat man immer das peinliche Gefühl: dem armen Jungen geschieht eigentlich
bitter Unrecht, denn nicht er trägt an seinen mangelhaften Leistungen die Schuld,
sondern die „krüppelhafte Schule," von der er kommt. Soviel also ist sonnen¬
klar: die preußische Schulreform ist gründlich mißlungen; sie hat die Leistungen
der preußischen Gymnasien teils tief hinabgedrückt, teils zu leerem Schein ent¬
würdigt und doch weder die sogenannte Überbürdung beseitigt, noch irgend
etwas Neues an die Stelle gesetzt; sie schädigt den ganzen Ruf des höhern
preußischen Unterrichtswesens außerhalb Preußens aufs schwerste, nimmt den
Lehrern alle Freudigkeit und ruft überall die Überzeugung hervor: So kann
es unmöglich weitergehn!

Nur freilich, daß daraus der einzig richtige Schluß gezogen würde: Um¬
kehr und Rückkehr zur verlassenen Grundlage, dazu ist in Preußen, scheint es,
herzlich wenig Aussicht, und „die Stimmung unter den berufnen Verteidigern
der hnmnnistischen Bildung bis zu den angesehensten Schulmännern hinauf ist
so gedrückt und verzagt, daß wir unsre Augen hilfeflehend über die Landes¬
grenze richten müssen." Nun, die Preußen haben für den Aufbau unsers
nationalen Staats das Größte geleistet; helfen wir ihnen dafür ihr höheres
Schulwesen vor Verkümmerung retten! „Wenn es denn sein muß," sagt
Schillers Herzog Alba, wo er gegen Don Carlos den Degen zieht.

In den letzten Wochen sind mehrere Kundgebungen in der Schulreform
hervorgetreten. Zunächst hat die Versammlung vom 5. Mai den selbstverständ¬
lichen glänzenden Verlauf genommen. „Zweihundert oder mehr Philologen"
sind dabei gewesen, eine Petition mit 12000 Unterschriften ist an den Kultus¬
minister abgeschickt worden. Beide Zahlen imponieren uns nur müßig. Wenn
die 200 oder 300 Philologen, wie vorauszusetzen ist, meist Neusprachler waren,
so bedeutet das für die innere Begründung der aufgestellten Forderungen herz¬
lich wenig, denn diese Herren reden sozusagen xro äomo, und wie Unterschriften
zu Petitionen, wenn weite Kreise mit dem Bestehenden unzufrieden sind,
zusammengebracht werden, das weiß ja jeder; uns wundert, daß es nicht
120000 sind, sondern nur 12000, wohlgemerkt aus ganz Deutschland, wo es
doch sehr viel mehr unzufriedne Gymnasiastenvüter geben muß. Sodann haben
sich die zwölf preußischen Ärztekammern durch ihren Ausschuß am 28. April
für die so heiß erstrebte Zulassung der Nealgymnasialabiturienten zum medi¬
zinischen Studium nur unter der Bedingung ausgesprochen, daß eine Ände¬
rung in den bisherigen Bestimmungen so lange verschoben werde, bis die Frage
über die Organisation der Vorbereitungsanstalten endgiltig geregelt sei, und
daß sich dann die Zulassung nicht nur auf die Medizin, sondern auf alle Fa¬
kultäten unsrer Hochschulen erstrecke, d. h. er hat sie für jetzt, ja überhaupt
für absehbare Zeit abgelehnt und jedenfalls die berechtigte Forderung gestellt,
daß die ganze Frage der Zulassung vor der Entscheidung den Ärztekammern
zur Beratung vorgelegt werde. Gleichzeitig hat sich die braunschweigische
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/428>, abgerufen am 03.07.2024.