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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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gegenüber die Masse Bauern. Der Bürgerstand fehlte, denn die Städte, Pest
an der Spitze, waren deutsch und deutsch-jüdisch. Noch vor einem Menschen¬
alter gingen 30 Prozent magyarische Kinder in die Pester Schulen, jetzt 80
bis 90. Sieht man zu, so sind es lauter deutsche oder deutsch-jüdische Namen.
Thatsächlich regierte der Feudaladel in Ungarn, der die Verwaltung der Gespan¬
schaften oder Komitate in den Händen hatte. Nun aber besteht die Bevölke¬
rung Ungarns ja längst nicht nur aus diesen Bestandteilen, sondern im Süden
und Südwesten wohnen gegen 3 Millionen Kroaten, im Nordwesten 2 Mil¬
lionen Slowaken, im Osten 2'/^ Millionen Rumänen, im Norden eine halbe
Million Ruderer, ungerechnet die Tausende von Zigeunern, Armeniern usw.,
Volker, die zum großen Teil auf "och weit niedrigerer Kulturstufe, der Stufe
der Hörigkeit stehn. Und dieses halb barbarische Völkergemisch wurde nun
mit dein modernen Parlamentarismus beglückt, wie später Rumänien, Serbien
und Bulgarien. Das hatte zur natürlichen Folge, daß der Liberalismus und
die Selbstverwaltung immer mehr zu einem Scheinwesen wurden, wirklich aber
die Herrschaft des chauvinistisch-magyarischen Adels in der Form der ministe¬
riellen Allmacht und der Majoritätsdiktatur wiederkehrte und sich festsetzte. Das
aber bedeutet ein fortwährendes verstecktes Durchlöchern oder Umgehn der ein¬
mal bestehenden Gesetze auf dem Wege der Verwaltung, ein System der Kor¬
ruption und der polizeilichen Chikane. Das eigentliche ministerielle Organ
dasür ist der vom Minister eingesetzte und ihm allein verantwortliche, meist
dem ungarischen Adel entnommne Obergespan, der durch die Munizipalgesetze
von 1872, 1876 und 1886 mit einer Machtfülle ausgestattet ist, wie sie nach
dem Urteile eines juristischen Kenners der Verhältnisse vielleicht nur noch in
der Türkei oder in Rußland einem Beamten zusteht.*) Die geringsten Angelegen¬
heiten der Komitate sind seiner Kontrolle unterworfen, eine Reihe der wichtigsten
Verwaltnngsümter wie Polizeidirektoren, Ärzte, Archivare und Buchhalter seiner
Ernennung vorbehalten, sein Einfluß aber schon auf die Wahl aller andern
zum schlechterdings herrschenden gemacht. In allen Verwaltungsausschüssen
wird die eine Hälfte von der Komitatsverwaltung gewählt, die andre besteht
eins Beamten; bei dein Kandidationsausschuß aber für Wahlen von Beamten
besteht die zweite Hälfte aus Mitgliedern, die der Obergespan ernennt, sodaß
der Obergespan mit diesen schon zusammen die absolute Majorität hat. Diese
Majorität aber kann ohne Angabe von Gründen den Kandidaten einfach aus-
schließen.

Die 21/2 Millionen Deutsch-Ungarn, die zum größten Teil die Intelligenz
des Landes darstellen, spielen bei diesem Prozeß die traurigste Rolle. Sie
allein würden wohl für einen westeuropäischen Konstitutionalismus reif gewesen
sein, aber in das Schema dieses im Dienste der Magyarisiernng arbeitenden
Scheinliberalismus passen sie nicht hinein. Die früher fast ganz deutsche Häupt¬



el Vgl. Preußische Jahrbücher 1895, S. 76 ff. "Der Liberalismus in Ungarn und die
Nationalitäten" von Tullius.
Grenzboten II 1900 53

gegenüber die Masse Bauern. Der Bürgerstand fehlte, denn die Städte, Pest
an der Spitze, waren deutsch und deutsch-jüdisch. Noch vor einem Menschen¬
alter gingen 30 Prozent magyarische Kinder in die Pester Schulen, jetzt 80
bis 90. Sieht man zu, so sind es lauter deutsche oder deutsch-jüdische Namen.
Thatsächlich regierte der Feudaladel in Ungarn, der die Verwaltung der Gespan¬
schaften oder Komitate in den Händen hatte. Nun aber besteht die Bevölke¬
rung Ungarns ja längst nicht nur aus diesen Bestandteilen, sondern im Süden
und Südwesten wohnen gegen 3 Millionen Kroaten, im Nordwesten 2 Mil¬
lionen Slowaken, im Osten 2'/^ Millionen Rumänen, im Norden eine halbe
Million Ruderer, ungerechnet die Tausende von Zigeunern, Armeniern usw.,
Volker, die zum großen Teil auf «och weit niedrigerer Kulturstufe, der Stufe
der Hörigkeit stehn. Und dieses halb barbarische Völkergemisch wurde nun
mit dein modernen Parlamentarismus beglückt, wie später Rumänien, Serbien
und Bulgarien. Das hatte zur natürlichen Folge, daß der Liberalismus und
die Selbstverwaltung immer mehr zu einem Scheinwesen wurden, wirklich aber
die Herrschaft des chauvinistisch-magyarischen Adels in der Form der ministe¬
riellen Allmacht und der Majoritätsdiktatur wiederkehrte und sich festsetzte. Das
aber bedeutet ein fortwährendes verstecktes Durchlöchern oder Umgehn der ein¬
mal bestehenden Gesetze auf dem Wege der Verwaltung, ein System der Kor¬
ruption und der polizeilichen Chikane. Das eigentliche ministerielle Organ
dasür ist der vom Minister eingesetzte und ihm allein verantwortliche, meist
dem ungarischen Adel entnommne Obergespan, der durch die Munizipalgesetze
von 1872, 1876 und 1886 mit einer Machtfülle ausgestattet ist, wie sie nach
dem Urteile eines juristischen Kenners der Verhältnisse vielleicht nur noch in
der Türkei oder in Rußland einem Beamten zusteht.*) Die geringsten Angelegen¬
heiten der Komitate sind seiner Kontrolle unterworfen, eine Reihe der wichtigsten
Verwaltnngsümter wie Polizeidirektoren, Ärzte, Archivare und Buchhalter seiner
Ernennung vorbehalten, sein Einfluß aber schon auf die Wahl aller andern
zum schlechterdings herrschenden gemacht. In allen Verwaltungsausschüssen
wird die eine Hälfte von der Komitatsverwaltung gewählt, die andre besteht
eins Beamten; bei dein Kandidationsausschuß aber für Wahlen von Beamten
besteht die zweite Hälfte aus Mitgliedern, die der Obergespan ernennt, sodaß
der Obergespan mit diesen schon zusammen die absolute Majorität hat. Diese
Majorität aber kann ohne Angabe von Gründen den Kandidaten einfach aus-
schließen.

Die 21/2 Millionen Deutsch-Ungarn, die zum größten Teil die Intelligenz
des Landes darstellen, spielen bei diesem Prozeß die traurigste Rolle. Sie
allein würden wohl für einen westeuropäischen Konstitutionalismus reif gewesen
sein, aber in das Schema dieses im Dienste der Magyarisiernng arbeitenden
Scheinliberalismus passen sie nicht hinein. Die früher fast ganz deutsche Häupt¬



el Vgl. Preußische Jahrbücher 1895, S. 76 ff. „Der Liberalismus in Ungarn und die
Nationalitäten" von Tullius.
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[0425] gegenüber die Masse Bauern. Der Bürgerstand fehlte, denn die Städte, Pest an der Spitze, waren deutsch und deutsch-jüdisch. Noch vor einem Menschen¬ alter gingen 30 Prozent magyarische Kinder in die Pester Schulen, jetzt 80 bis 90. Sieht man zu, so sind es lauter deutsche oder deutsch-jüdische Namen. Thatsächlich regierte der Feudaladel in Ungarn, der die Verwaltung der Gespan¬ schaften oder Komitate in den Händen hatte. Nun aber besteht die Bevölke¬ rung Ungarns ja längst nicht nur aus diesen Bestandteilen, sondern im Süden und Südwesten wohnen gegen 3 Millionen Kroaten, im Nordwesten 2 Mil¬ lionen Slowaken, im Osten 2'/^ Millionen Rumänen, im Norden eine halbe Million Ruderer, ungerechnet die Tausende von Zigeunern, Armeniern usw., Volker, die zum großen Teil auf «och weit niedrigerer Kulturstufe, der Stufe der Hörigkeit stehn. Und dieses halb barbarische Völkergemisch wurde nun mit dein modernen Parlamentarismus beglückt, wie später Rumänien, Serbien und Bulgarien. Das hatte zur natürlichen Folge, daß der Liberalismus und die Selbstverwaltung immer mehr zu einem Scheinwesen wurden, wirklich aber die Herrschaft des chauvinistisch-magyarischen Adels in der Form der ministe¬ riellen Allmacht und der Majoritätsdiktatur wiederkehrte und sich festsetzte. Das aber bedeutet ein fortwährendes verstecktes Durchlöchern oder Umgehn der ein¬ mal bestehenden Gesetze auf dem Wege der Verwaltung, ein System der Kor¬ ruption und der polizeilichen Chikane. Das eigentliche ministerielle Organ dasür ist der vom Minister eingesetzte und ihm allein verantwortliche, meist dem ungarischen Adel entnommne Obergespan, der durch die Munizipalgesetze von 1872, 1876 und 1886 mit einer Machtfülle ausgestattet ist, wie sie nach dem Urteile eines juristischen Kenners der Verhältnisse vielleicht nur noch in der Türkei oder in Rußland einem Beamten zusteht.*) Die geringsten Angelegen¬ heiten der Komitate sind seiner Kontrolle unterworfen, eine Reihe der wichtigsten Verwaltnngsümter wie Polizeidirektoren, Ärzte, Archivare und Buchhalter seiner Ernennung vorbehalten, sein Einfluß aber schon auf die Wahl aller andern zum schlechterdings herrschenden gemacht. In allen Verwaltungsausschüssen wird die eine Hälfte von der Komitatsverwaltung gewählt, die andre besteht eins Beamten; bei dein Kandidationsausschuß aber für Wahlen von Beamten besteht die zweite Hälfte aus Mitgliedern, die der Obergespan ernennt, sodaß der Obergespan mit diesen schon zusammen die absolute Majorität hat. Diese Majorität aber kann ohne Angabe von Gründen den Kandidaten einfach aus- schließen. Die 21/2 Millionen Deutsch-Ungarn, die zum größten Teil die Intelligenz des Landes darstellen, spielen bei diesem Prozeß die traurigste Rolle. Sie allein würden wohl für einen westeuropäischen Konstitutionalismus reif gewesen sein, aber in das Schema dieses im Dienste der Magyarisiernng arbeitenden Scheinliberalismus passen sie nicht hinein. Die früher fast ganz deutsche Häupt¬ el Vgl. Preußische Jahrbücher 1895, S. 76 ff. „Der Liberalismus in Ungarn und die Nationalitäten" von Tullius. Grenzboten II 1900 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/425>, abgerufen am 22.07.2024.