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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Europa und England

ganz England und auch in den Kolonien mit einigem Staunen sehe,?. Vom
leitenden Staatsmann bis hinab in die Gasse sind von den Tugenden, die
wir an dem englischen Privatmann achten, einige sehr wesentliche kaum irgendwo
in dieser nach Eroberung, Gewinn, Krieg rufenden Menge zu bemerken. Die
Wahrhaftigkeit war in den Salons der Diplomatie niemals hoch geschätzt;
aber wir hatten nicht erwartet, daß Aufrichtigkeit aus dem Charakter und dem
Sittenkodex der großen Mehrheit eines kaltblütigen, ehrlichen und stolzen
Volkes verschwinden könnte. Und doch wird in England die alte Fabel vom
Wolf, der das Lamm beschuldigte, mit bestem Erfolg in Szene gesetzt. Das
alte aristokratische England vom Beginn des vorigen Jahrhunderts ist ver¬
schwunden im Drange der Geldgeschäfte, und man darf fragen, ob die kom¬
merziell-industrielle Mittelklasse imstande sein werde, den Spekulationseifer
genügend zu zügeln, um den Staat vor einer durch Überspannung bewirkten
Krisis zu bewahren. Der Staat muß denn doch mehr sein, als eine bloße
Versicherungsanstalt für wirtschaftliche Unternehmungen.

Wir Deutschen haben allen Grund, die Entfremdung zu bedauern, die
dieser Krieg in Südafrika zwischen uns und einer für unsre materiellen wie
geistigen Interessen so unentbehrlichen Macht, wie es England ist, hervor¬
bringen kann, und wir sollten uns hüten, diese Entfremdung, der wir keinen
staatlichen Ausdruck und Nachdruck geben können, über das Maß des natür¬
lichen Ausdrucks des öffentlichen Gewissens hinaus zu steigern. Aber es wäre
ein schlimmes Zeugnis für die Gesundheit unsers öffentlichen Gewissens, wenn
wir an der durch die gesamte zivilisierte Welt gehenden Entrüstung über diesen
Krieg und die in ihm hervortretenden Schäden in der politischen Gesinnung
der leitenden Kreise Englands nicht Anteil nähmen. Der Haß gegen England,
der heute überall hervorbricht, ist leider nicht grundlos, und bliebe er aus, so
machte sich Europa desselben tiefen Standes des öffentlichen Gewissens, der
öffentlichen Wahrheitsliebe und der politischen Gerechtigkeit schuldig, dessen es
jetzt England anklagt. Wollte mau England alle die Treulosigkeiten in seiner
äußern Politik vorhalten, die es begangen hat, so könnte die Rechnung sehr
lang werden. Die Treulosigkeit liegt sogar in der heutigen englischen Ver¬
fassung und mehr noch in der politischen Tradition begründet, die es jeder
Regierung möglich macht, die vorhergehende zu verleugnen. Die Anschauung,
daß staatliche Vertrüge nur solange verpflichten, als sie nützlich sind, ist auch
eine der Weisheiten, die uns in dem Kursus praktischer englischer Politik erst
recht klar geworden sind. Worin sich alle Regierungen Englands gleich bleiben,
das ist die koinmerziell-kriegerische Expansionspolitik, die es unter einer fried¬
liebenden Königin doch fertig gebracht hat, über vierzig Kriege im Laufe von
sechzig Jahren zu führen. Aber schwerlich dürfte man in der Geschichte Eng¬
lands noch ein so Schmachvolles Kapitel finden, wie das, das sein Verhalten
zu den Holländern des Kaplandes seit dem Jahr 1803 umfaßt,^) und schwerlich



*) Neuerdings gut zusammengefaßt von Xuxpoi, ori"ö miet-akrioainv in der lisvus cle"
ämix monÄs", ISVO, 1. Februar.
Europa und England

ganz England und auch in den Kolonien mit einigem Staunen sehe,?. Vom
leitenden Staatsmann bis hinab in die Gasse sind von den Tugenden, die
wir an dem englischen Privatmann achten, einige sehr wesentliche kaum irgendwo
in dieser nach Eroberung, Gewinn, Krieg rufenden Menge zu bemerken. Die
Wahrhaftigkeit war in den Salons der Diplomatie niemals hoch geschätzt;
aber wir hatten nicht erwartet, daß Aufrichtigkeit aus dem Charakter und dem
Sittenkodex der großen Mehrheit eines kaltblütigen, ehrlichen und stolzen
Volkes verschwinden könnte. Und doch wird in England die alte Fabel vom
Wolf, der das Lamm beschuldigte, mit bestem Erfolg in Szene gesetzt. Das
alte aristokratische England vom Beginn des vorigen Jahrhunderts ist ver¬
schwunden im Drange der Geldgeschäfte, und man darf fragen, ob die kom¬
merziell-industrielle Mittelklasse imstande sein werde, den Spekulationseifer
genügend zu zügeln, um den Staat vor einer durch Überspannung bewirkten
Krisis zu bewahren. Der Staat muß denn doch mehr sein, als eine bloße
Versicherungsanstalt für wirtschaftliche Unternehmungen.

Wir Deutschen haben allen Grund, die Entfremdung zu bedauern, die
dieser Krieg in Südafrika zwischen uns und einer für unsre materiellen wie
geistigen Interessen so unentbehrlichen Macht, wie es England ist, hervor¬
bringen kann, und wir sollten uns hüten, diese Entfremdung, der wir keinen
staatlichen Ausdruck und Nachdruck geben können, über das Maß des natür¬
lichen Ausdrucks des öffentlichen Gewissens hinaus zu steigern. Aber es wäre
ein schlimmes Zeugnis für die Gesundheit unsers öffentlichen Gewissens, wenn
wir an der durch die gesamte zivilisierte Welt gehenden Entrüstung über diesen
Krieg und die in ihm hervortretenden Schäden in der politischen Gesinnung
der leitenden Kreise Englands nicht Anteil nähmen. Der Haß gegen England,
der heute überall hervorbricht, ist leider nicht grundlos, und bliebe er aus, so
machte sich Europa desselben tiefen Standes des öffentlichen Gewissens, der
öffentlichen Wahrheitsliebe und der politischen Gerechtigkeit schuldig, dessen es
jetzt England anklagt. Wollte mau England alle die Treulosigkeiten in seiner
äußern Politik vorhalten, die es begangen hat, so könnte die Rechnung sehr
lang werden. Die Treulosigkeit liegt sogar in der heutigen englischen Ver¬
fassung und mehr noch in der politischen Tradition begründet, die es jeder
Regierung möglich macht, die vorhergehende zu verleugnen. Die Anschauung,
daß staatliche Vertrüge nur solange verpflichten, als sie nützlich sind, ist auch
eine der Weisheiten, die uns in dem Kursus praktischer englischer Politik erst
recht klar geworden sind. Worin sich alle Regierungen Englands gleich bleiben,
das ist die koinmerziell-kriegerische Expansionspolitik, die es unter einer fried¬
liebenden Königin doch fertig gebracht hat, über vierzig Kriege im Laufe von
sechzig Jahren zu führen. Aber schwerlich dürfte man in der Geschichte Eng¬
lands noch ein so Schmachvolles Kapitel finden, wie das, das sein Verhalten
zu den Holländern des Kaplandes seit dem Jahr 1803 umfaßt,^) und schwerlich



*) Neuerdings gut zusammengefaßt von Xuxpoi, ori«ö miet-akrioainv in der lisvus cle»
ämix monÄs«, ISVO, 1. Februar.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/382>, abgerufen am 03.07.2024.