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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die Frau in der venezianischen Malerei

soll Cima da Conegliano zuerst den Thron der Madonna ins Freie unter
Blumen und Gräser gestellt haben, und doch thut es schon Giovanni Bellini.
Tiepolo soll etwas in die venezianische Malerei gebracht haben, was diese
bisher nicht kannte, die Geste. Aber man findet sie schon bei Tizian, wenn
man ihn nur mit Giovanni Bellini vergleicht, und noch viel mehr bei Paolo
Veronese, an dem sie der Verfasser vermißt; Tiepolo hat sie nur verstärkt.
Und was ist endlich aus den beiden größten geworden, aus Giorgione und
Tizian? Der Abschnitt über Giorgione beginnt mit einer feurig gedichteten
Knnstlernovelle, die dann aber als unhistorisch zurückgenommen wird, behandelt
dann die Madonna von Castelfranco und die Landschaft in Venedig und schließt
mit der Dresdner Venus. Über sie lesen wir folgendes: "Kein zweites Bild
ist mit solch trunkner Sinnen, mit solch bebender Leidenschaft mehr gemalt
worden. Man fühlt, daß der Atem dieser Frau, der Duft ihres Haares den
Künstler zittern gemacht; das baut die Scheidewand zwischen der Frauenauf-
fassnng Giorgiones und der Tizians. Beide empfinden hellenisch vor dem
Weibe, aber Tizian wie ein ätherischer Zeitgenosse des Phidias, und Giorgione
wie Kleinasiens späte Meister. Der Künstler Tizian berauschte sich am hellen
Glänze des Frauenlvrpers, der Mensch blieb kalt; sein Modell war ihm eben
nur Modell, und Giorgione -- hat es glühend umarmt." Ob die ersten zwei
Sätze einen natürlichen Sinn geben, und was sie etwa, allegorisch genommen,
bedeuten könnten, mag der Leser mit sich ausmachen. Das Verhältnis der
beiden Künstler zu der "Frauenfrage" müßte jedenfalls umgekehrt werden,
ebenso ihre Vergleichung mit den Griechen, wenn man Tizians Venusgestalten
und dazu noch eine Danae oder Antiope mit unbefangnen Augen ansieht.
Am besten aber läßt man diese irreführender Parallelen beiseite und sagt
einfach: Giorgiones Venus vertritt die frühere Stufe, auf der Tizian in seiner
"himmlischen und irdischen Liebe" steht, dann schreitet dieser fort und zeigt
naturgemäß auch in seinen Frauenbildern alle Zeichen einer reifern Ent¬
wicklung. Angebetet aber oder umarmt hat sein Modell, soviel man sehen
kann, keiner.

Noch eine Kleinigkeit von allgemeineren Interesse, da gerade von Giorgione
die Rede ist. Dessen Jugendgeschichte liegt ganz im Dunkel, und sein ferneres
äußeres Leben überhaupt, soweit sich nicht irgend etwas aus seinen Bildern
ergiebt. Seine diskrete Geburt wird in neuerer Zeit als Märchen preisgegeben,
auch der Verfasser folgt dieser Meinung, weil sie erst hundertundfunfzig Jahre
nach des Malers Tode von Ridolsi berichtet wird. Diese kritische Regel ist
alt und ihre Anwendung elementar. Mindestens dasselbe Recht hat aber der
entgegengesetzte Grundsatz: nur weil wir zufällig keinen ältern Gewährsmann
kennen, braucht eine in sich nicht unwahrscheinliche Nachricht noch nicht für
erfunden zu gelten. Mir ist es lieb, daß mein kritisches Gewissen mir erlaubt,
an dem Märchen festzuhalten, denn es gehört mit zu dem bischen Stimmung
oder Milieu, das man sich mit Mühe für Giorgione zurecht gemacht hat. Für
kritische Feinschmecker sei noch bemerkt, daß die neuerlich gefundne Nachricht,


Die Frau in der venezianischen Malerei

soll Cima da Conegliano zuerst den Thron der Madonna ins Freie unter
Blumen und Gräser gestellt haben, und doch thut es schon Giovanni Bellini.
Tiepolo soll etwas in die venezianische Malerei gebracht haben, was diese
bisher nicht kannte, die Geste. Aber man findet sie schon bei Tizian, wenn
man ihn nur mit Giovanni Bellini vergleicht, und noch viel mehr bei Paolo
Veronese, an dem sie der Verfasser vermißt; Tiepolo hat sie nur verstärkt.
Und was ist endlich aus den beiden größten geworden, aus Giorgione und
Tizian? Der Abschnitt über Giorgione beginnt mit einer feurig gedichteten
Knnstlernovelle, die dann aber als unhistorisch zurückgenommen wird, behandelt
dann die Madonna von Castelfranco und die Landschaft in Venedig und schließt
mit der Dresdner Venus. Über sie lesen wir folgendes: „Kein zweites Bild
ist mit solch trunkner Sinnen, mit solch bebender Leidenschaft mehr gemalt
worden. Man fühlt, daß der Atem dieser Frau, der Duft ihres Haares den
Künstler zittern gemacht; das baut die Scheidewand zwischen der Frauenauf-
fassnng Giorgiones und der Tizians. Beide empfinden hellenisch vor dem
Weibe, aber Tizian wie ein ätherischer Zeitgenosse des Phidias, und Giorgione
wie Kleinasiens späte Meister. Der Künstler Tizian berauschte sich am hellen
Glänze des Frauenlvrpers, der Mensch blieb kalt; sein Modell war ihm eben
nur Modell, und Giorgione — hat es glühend umarmt." Ob die ersten zwei
Sätze einen natürlichen Sinn geben, und was sie etwa, allegorisch genommen,
bedeuten könnten, mag der Leser mit sich ausmachen. Das Verhältnis der
beiden Künstler zu der „Frauenfrage" müßte jedenfalls umgekehrt werden,
ebenso ihre Vergleichung mit den Griechen, wenn man Tizians Venusgestalten
und dazu noch eine Danae oder Antiope mit unbefangnen Augen ansieht.
Am besten aber läßt man diese irreführender Parallelen beiseite und sagt
einfach: Giorgiones Venus vertritt die frühere Stufe, auf der Tizian in seiner
„himmlischen und irdischen Liebe" steht, dann schreitet dieser fort und zeigt
naturgemäß auch in seinen Frauenbildern alle Zeichen einer reifern Ent¬
wicklung. Angebetet aber oder umarmt hat sein Modell, soviel man sehen
kann, keiner.

Noch eine Kleinigkeit von allgemeineren Interesse, da gerade von Giorgione
die Rede ist. Dessen Jugendgeschichte liegt ganz im Dunkel, und sein ferneres
äußeres Leben überhaupt, soweit sich nicht irgend etwas aus seinen Bildern
ergiebt. Seine diskrete Geburt wird in neuerer Zeit als Märchen preisgegeben,
auch der Verfasser folgt dieser Meinung, weil sie erst hundertundfunfzig Jahre
nach des Malers Tode von Ridolsi berichtet wird. Diese kritische Regel ist
alt und ihre Anwendung elementar. Mindestens dasselbe Recht hat aber der
entgegengesetzte Grundsatz: nur weil wir zufällig keinen ältern Gewährsmann
kennen, braucht eine in sich nicht unwahrscheinliche Nachricht noch nicht für
erfunden zu gelten. Mir ist es lieb, daß mein kritisches Gewissen mir erlaubt,
an dem Märchen festzuhalten, denn es gehört mit zu dem bischen Stimmung
oder Milieu, das man sich mit Mühe für Giorgione zurecht gemacht hat. Für
kritische Feinschmecker sei noch bemerkt, daß die neuerlich gefundne Nachricht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/300>, abgerufen am 03.07.2024.