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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die deutsche Weltpolitik

an Rußland anschließen, und ein freundschaftliche Gefühle Rußlands für das
Deutsche Reich glauben machen wollen, I" Wahrheit hat Rußland die
"Freundschaft" Deutschlands zu suchen, denn nur wenn diese besteht, könnte
Rußland seine asiatische "Pflicht" erfüllen, Rußland ist ein zusammen¬
gewürfeltes Reich, es hat seine finnlündischc, polnische, kosakische Frage, es ist
noch lange kein Einheitsstaat, sondern steckt voll partikularistischer Be-
strebungen. Das entgeht nur den meisten, weil diese Gegensätze nicht öffent¬
lich zum Ausdruck kommen dürfen. Dieser Mangel um Konzentration ver¬
bunden mit wirtschaftlicher Schwäche würde das russische Reich bald -- wie
im Krimkrieg -- kampfunfähig machen, wenn etwa die westslawische Frage
gerade dann auftauchte, wenn Rußland an irgend einer Stelle seiner ausge¬
dehnten kolonialen Grenzen beschäftigt würde. Darum die unangenehme Laune
in Rußland, sobald in Preußen eine milde Handhabung der Polenpolitik be¬
merkbar wurde, die die Geister auch im russischen Polen weckte. Als Preußen
bei Beginn seiner neuen Laufbahn Rußlands Neutralität bedürfte, genügte es,
daß Bismarck in der Konvention von 1863 -- entgegen der polenschwärme¬
rischen Stimmung in Deutschland -- eine entschiedne Stellung gegen die pol¬
nischen Insurgenten einnahm. Allerdings ließ sich Rußland 1870 für seine
"Freundschaft," wie man die russische Neutralität vielfach zu nennen beliebt,
noch ein besondres Geschenk verabfolgen, indem es unter Bismarcks Vermitt¬
lung von England die freie Kriegsschiffahrt ans dem Schwarzen Meere, die
ihm seit dein Krimkriege verboten war, zugestanden erhielt. Von dieser preu¬
ßischen Freundschaft erhofft Rußland, daß sie die Aufrollung der westslawischen
Frage durch Österreich im Augenblick der russischen Festlegung in Asien nicht
zulassen werde. Der PanslawismuS bedeutet eine Gefahr für den Bestand der
österreichischen Monarchie, und sie wird für Österreich nur dann beseitigt sein,
wenn es -- nach dein Grundsatz "Der Hieb ist die beste Deckung" -- diesen
Panslawismus zu teilen sucht und den Westslawismus unter seinen Doppel¬
adler lockt. Gelingt Österreich dieses, so würde Rußland gänzlich nach Osten
abgedrängt und auf eine dann kaum noch aussichtsreiche Konkurrenz mit Eng¬
land in Asien verwiesen werden. Rußland hat darum alle Ursache, den Drei¬
bund nicht zu reizen, und so erklärt sich erstens seine "Freundschaft" zu
Deutschland, zweitens seine jetzige Reserve in der Bnlkanfrage Österreichs wegen
und drittens seine kalte Freundschaft für Frankreich.

Das sogenannte russisch-französische Bündnis fordert jn von Rußland nur
eine Aktion, wenn Frankreich von Deutschland angegriffen wird. Da diese
Möglichkeit bei dem deutschen Friedensinteresse ausgeschlossen ist, so hat der
Vertrag keine reale Bedeutung, sondern er enthält nur die Andeutung, daß
Rußland Frankreich in Kampfesstellung bringen könnte, wenn die slawische
Lawine ins Rollen käme und Deutschland für seinen Bundesgenossen Öster¬
reich mit den Waffen Partei nehmen müßte. Es ist also Rußland, nicht
Deutschland, das freundschaftlicher Beziehungen zwischen Berlin und Peters¬
burg bedarf. Indessen genügt der zarte Wink mit dem revanchelustigen Frank-


Die deutsche Weltpolitik

an Rußland anschließen, und ein freundschaftliche Gefühle Rußlands für das
Deutsche Reich glauben machen wollen, I» Wahrheit hat Rußland die
„Freundschaft" Deutschlands zu suchen, denn nur wenn diese besteht, könnte
Rußland seine asiatische „Pflicht" erfüllen, Rußland ist ein zusammen¬
gewürfeltes Reich, es hat seine finnlündischc, polnische, kosakische Frage, es ist
noch lange kein Einheitsstaat, sondern steckt voll partikularistischer Be-
strebungen. Das entgeht nur den meisten, weil diese Gegensätze nicht öffent¬
lich zum Ausdruck kommen dürfen. Dieser Mangel um Konzentration ver¬
bunden mit wirtschaftlicher Schwäche würde das russische Reich bald — wie
im Krimkrieg — kampfunfähig machen, wenn etwa die westslawische Frage
gerade dann auftauchte, wenn Rußland an irgend einer Stelle seiner ausge¬
dehnten kolonialen Grenzen beschäftigt würde. Darum die unangenehme Laune
in Rußland, sobald in Preußen eine milde Handhabung der Polenpolitik be¬
merkbar wurde, die die Geister auch im russischen Polen weckte. Als Preußen
bei Beginn seiner neuen Laufbahn Rußlands Neutralität bedürfte, genügte es,
daß Bismarck in der Konvention von 1863 — entgegen der polenschwärme¬
rischen Stimmung in Deutschland — eine entschiedne Stellung gegen die pol¬
nischen Insurgenten einnahm. Allerdings ließ sich Rußland 1870 für seine
„Freundschaft," wie man die russische Neutralität vielfach zu nennen beliebt,
noch ein besondres Geschenk verabfolgen, indem es unter Bismarcks Vermitt¬
lung von England die freie Kriegsschiffahrt ans dem Schwarzen Meere, die
ihm seit dein Krimkriege verboten war, zugestanden erhielt. Von dieser preu¬
ßischen Freundschaft erhofft Rußland, daß sie die Aufrollung der westslawischen
Frage durch Österreich im Augenblick der russischen Festlegung in Asien nicht
zulassen werde. Der PanslawismuS bedeutet eine Gefahr für den Bestand der
österreichischen Monarchie, und sie wird für Österreich nur dann beseitigt sein,
wenn es — nach dein Grundsatz „Der Hieb ist die beste Deckung" — diesen
Panslawismus zu teilen sucht und den Westslawismus unter seinen Doppel¬
adler lockt. Gelingt Österreich dieses, so würde Rußland gänzlich nach Osten
abgedrängt und auf eine dann kaum noch aussichtsreiche Konkurrenz mit Eng¬
land in Asien verwiesen werden. Rußland hat darum alle Ursache, den Drei¬
bund nicht zu reizen, und so erklärt sich erstens seine „Freundschaft" zu
Deutschland, zweitens seine jetzige Reserve in der Bnlkanfrage Österreichs wegen
und drittens seine kalte Freundschaft für Frankreich.

Das sogenannte russisch-französische Bündnis fordert jn von Rußland nur
eine Aktion, wenn Frankreich von Deutschland angegriffen wird. Da diese
Möglichkeit bei dem deutschen Friedensinteresse ausgeschlossen ist, so hat der
Vertrag keine reale Bedeutung, sondern er enthält nur die Andeutung, daß
Rußland Frankreich in Kampfesstellung bringen könnte, wenn die slawische
Lawine ins Rollen käme und Deutschland für seinen Bundesgenossen Öster¬
reich mit den Waffen Partei nehmen müßte. Es ist also Rußland, nicht
Deutschland, das freundschaftlicher Beziehungen zwischen Berlin und Peters¬
burg bedarf. Indessen genügt der zarte Wink mit dem revanchelustigen Frank-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/130>, abgerufen am 01.10.2024.