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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Aonstantinopel

der Mitte schreitet ein junger Mann, der, den Kopf in den Nacken geworfen,
ein Buch mit dem ausgestreckten linken Arm vor sich hin hält und singend und
mit der rechten gestikulirend vorliest, gewiß die Geschichte von dem großen Pro¬
pheten Hassan, der vor so und so viel hundert Jahren in einer Schlacht auf
irgend eine grausige Weise umgebracht, hingeschlachtet oder ermordet worden
ist, und zu dessen Ehre man sich dieses wunderbare Fest ersonnen hat. Das
Schlagen auf die Brust und die schwarzen Gewänder bedeuten die Trauer um
ihn, und was die Männer singen, ist ein Trauergesang. Die Melodie setzt hoch
in der Fistellage ein, springt in harmonischen Sätzen eine bis zwei Oktaven
hinab und beginnt wieder von oben. Sie ist nur eine bis zwei Strophen
lang und wird beständig wiederholt bald vom Vorsänger, bald vom Chor der
Männer. Auch ein etwa elfjähriger Knabe tritt in die Mitte, um mit seiner
hellen Stimme recht inbrünstig und herzzerreißend ein Lied vorzutragen. Dann
scheint ein Absatz erreicht zu sein; der Gesang hört auf, die Männer schreiten
weiter auf der kreisförmigen Bahn, und ein andres Schauspiel fängt vor uns
an. Es kommen andre schwarze Männer, deren Rücken nackt ist; sie schwingen
kettenartige Geißeln und schlagen sich damit nach dem Takt des Gesanges auf
den Rücken, ohne sich zu verwunden, aber bis die Haut grauschwarz und blut¬
unterlaufen wird. Sie singen und gehen vorüber, um wieder den ersten Platz
zu machen.

Nachdem wir in angenehmer Abwechslung diese beiden Klageszenen haben
bewundern können, kommt der Hauptzug. Wir hören wieder dünne Klarinetten¬
musik, und dazu immer näher kommend das taktmüßige Gebrüll vieler Stimmen,
die den Namen Hassan ausrufen. Eine Reihe Standarten werden vorbeigetragen;
an jeder Stange das blecherne Bildnis einer Hand, die Hand eines Mannes,
der es wagte, dem gefolterten Heiligen Wasser zu reichen, und dem sie dafür
von den Feinden abgehauen wurde. Es kommen wieder die weißbehcmgncn
Pferde mit den blutenden Kindern, den unglücklichen "Kindern des Propheten,"
und hinter ihnen die weißgekleideten Männer seitwärts ausschreitend in zwei
langen Reihen, die sich ansehen -- blutüberströmt, sodaß sie nicht aus den
Augen schauen können. Mit der linken halten sie sich am Gürtel ihres Neben¬
mannes und taumeln vor Erschöpfung oder vor Trunkenheit des Fanatismus.
In der rechten führen sie ein Schwert, womit sie sich beständig frische Wunden
auf dem Schädel beibringen, erst schneidend, auf der Höhe der Begeisterung
aber indem sie ausholen zum Schlagen. Vor ihnen gehen Leute, die ihnen
das But aus dem Gesicht wischen, hinter ihnen andre, die mit einem Stock
die allzu heftigen Schläge parieren. Auch ein Zug Knaben kommt halb rück¬
wärts schreitend zwischen den Männern her und macht das blutige Spiel mit.
Sie sind zehn bis fünfzehn Jahre alt, haben sich der Größe nach geordnet,
und die kleinsten werden mehr mitgeschleift, als daß sie mitschreiten konnten.
Zu diesem Bilde denke man sich noch das dumpfe Stampfen der Schritte, das
taktmüßige Gebrüll des Namens Hassan, auf jeden Schritt eine Silbe aus
heiser" Kehlen, müßige Beleuchtung von Fackeln und Gasflammen und das
Gedränge einer tansendköpfigen Menge.


Aonstantinopel

der Mitte schreitet ein junger Mann, der, den Kopf in den Nacken geworfen,
ein Buch mit dem ausgestreckten linken Arm vor sich hin hält und singend und
mit der rechten gestikulirend vorliest, gewiß die Geschichte von dem großen Pro¬
pheten Hassan, der vor so und so viel hundert Jahren in einer Schlacht auf
irgend eine grausige Weise umgebracht, hingeschlachtet oder ermordet worden
ist, und zu dessen Ehre man sich dieses wunderbare Fest ersonnen hat. Das
Schlagen auf die Brust und die schwarzen Gewänder bedeuten die Trauer um
ihn, und was die Männer singen, ist ein Trauergesang. Die Melodie setzt hoch
in der Fistellage ein, springt in harmonischen Sätzen eine bis zwei Oktaven
hinab und beginnt wieder von oben. Sie ist nur eine bis zwei Strophen
lang und wird beständig wiederholt bald vom Vorsänger, bald vom Chor der
Männer. Auch ein etwa elfjähriger Knabe tritt in die Mitte, um mit seiner
hellen Stimme recht inbrünstig und herzzerreißend ein Lied vorzutragen. Dann
scheint ein Absatz erreicht zu sein; der Gesang hört auf, die Männer schreiten
weiter auf der kreisförmigen Bahn, und ein andres Schauspiel fängt vor uns
an. Es kommen andre schwarze Männer, deren Rücken nackt ist; sie schwingen
kettenartige Geißeln und schlagen sich damit nach dem Takt des Gesanges auf
den Rücken, ohne sich zu verwunden, aber bis die Haut grauschwarz und blut¬
unterlaufen wird. Sie singen und gehen vorüber, um wieder den ersten Platz
zu machen.

Nachdem wir in angenehmer Abwechslung diese beiden Klageszenen haben
bewundern können, kommt der Hauptzug. Wir hören wieder dünne Klarinetten¬
musik, und dazu immer näher kommend das taktmüßige Gebrüll vieler Stimmen,
die den Namen Hassan ausrufen. Eine Reihe Standarten werden vorbeigetragen;
an jeder Stange das blecherne Bildnis einer Hand, die Hand eines Mannes,
der es wagte, dem gefolterten Heiligen Wasser zu reichen, und dem sie dafür
von den Feinden abgehauen wurde. Es kommen wieder die weißbehcmgncn
Pferde mit den blutenden Kindern, den unglücklichen „Kindern des Propheten,"
und hinter ihnen die weißgekleideten Männer seitwärts ausschreitend in zwei
langen Reihen, die sich ansehen — blutüberströmt, sodaß sie nicht aus den
Augen schauen können. Mit der linken halten sie sich am Gürtel ihres Neben¬
mannes und taumeln vor Erschöpfung oder vor Trunkenheit des Fanatismus.
In der rechten führen sie ein Schwert, womit sie sich beständig frische Wunden
auf dem Schädel beibringen, erst schneidend, auf der Höhe der Begeisterung
aber indem sie ausholen zum Schlagen. Vor ihnen gehen Leute, die ihnen
das But aus dem Gesicht wischen, hinter ihnen andre, die mit einem Stock
die allzu heftigen Schläge parieren. Auch ein Zug Knaben kommt halb rück¬
wärts schreitend zwischen den Männern her und macht das blutige Spiel mit.
Sie sind zehn bis fünfzehn Jahre alt, haben sich der Größe nach geordnet,
und die kleinsten werden mehr mitgeschleift, als daß sie mitschreiten konnten.
Zu diesem Bilde denke man sich noch das dumpfe Stampfen der Schritte, das
taktmüßige Gebrüll des Namens Hassan, auf jeden Schritt eine Silbe aus
heiser» Kehlen, müßige Beleuchtung von Fackeln und Gasflammen und das
Gedränge einer tansendköpfigen Menge.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/648>, abgerufen am 04.07.2024.